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Kultur- oder Kreativwirtschaft: Was ist das eigentlich? | Kulturelle Bildung | bpb.de

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Kultur- oder Kreativwirtschaft: Was ist das eigentlich?

Andreas Joh. Wiesand

/ 22 Minuten zu lesen

Der Kultur- oder Kreativsektor in Deutschland umfasst alle mit Kultur und Medien im weiteste Sinne verbundenen Aktivitäten. Privatwirtschaftliche, öffentliche und informelle Angebote mit ihren unterschiedlichen Zielvorstellungen, Maßstäben und Problemen sollten dabei – auch zum Schutz einer bislang noch vielfältigen kulturellen Öffentlichkeit – differenziert betrachtet werden.

Einleitung

Kulturwirtschaft? Nein, "Creative Industries" ist doch inzwischen der angesagte Begriff - und auch in Mitteleuropa schon Gegenstand eigener "Kreativwirtschaftsberichte". Warum halten wir uns dann nicht gleich an den immer noch einflussreichen amerikanischen Guru Richard Florida, der seine ökonomischen Theorien zum Beschäftigungswachstum wirkungsvoll als Aufstieg einer neuen, "kreativen Klasse" inszeniert?

Haben sich Florida und andere vielleicht sogar vom Yoruba-Gott OGUN inspirieren lassen, den der nigerianische Schriftsteller Wole Soyinka 1986 in seiner Rede zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises als Hüter der Kreativität herausstellte? In der Interpretation von Soyinka ist OGUN, wie wir heute sagen würden, eine Art "Manager der Kreativität", der die Welt der Ahnen mit den Welten der Lebenden und der Ungeborenen verbindet, ständig für neue Interaktionen und Realitäten sorgt - ein Vorbild für unseren aktuellen Hunger nach Kreativität.

Eine neue "kreative Klasse"?

Das Kernargument von Florida ist von eher schlichter Natur: Seit es mit traditionellen Industriezweigen bergab geht, sei die "creative economy" mit einer neuen Klasse von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dabei, ihren Platz zu übernehmen. Florida definiert diese "kreative Klasse" (die in den USA nach seiner Einschätzung bereits 30 Prozent der Erwerbstätigen ausmacht) als ein weites Spektrum qualifizierter Berufe: von Fachleuten in Technik und Naturwissenschaften über höhere Positionen im Handels- und Finanzsektor bis hin zu Beschäftigungen in der akademischen und öffentlichen Verwaltung sowie in Bereichen der Justiz und öffentlichen Sicherheit. Natürlich finden sich auch Künstlerinnen und Künstler und andere Kulturberufe in dieser Auswahl - die laut Florida besonders wichtige Gruppe der "Bohemiens"; sie sollen den Städten und Regionen der westlichen Welt in ihrem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf den nötigen innovativen Kick geben. Aber ist ein derart breiter Berufemix überhaupt aussagekräftig?

Floridas Konzept enthält - ähnlich wie andere Theorien zur wirtschaftlichen Entwicklung - statistische Indikatoren. Dies hat den Vorteil, dass man das Konzept empirisch "testen" kann, was auch bereits in verschiedenen Regionen geschehen ist. Dabei zeigt sich:

Manche von Floridas Argumenten werden etwa in einer niederländischen Studie bestätigt, so vor allem die These, dass es zur Stimulierung des Wirtschaftswachstums weniger darum gehe, "welche oder wie viel Bildung Menschen mitbringen, sondern wo sie tatsächlich arbeiten". Abgesehen von Amsterdam bezweifelten die holländischen Forscher jedoch, dass dieses Wachstum "irgend etwas mit der Bohème oder einer anderen kreativen Gesinnung zu tun hat, die über soziale Interaktion hinausgeht". Stattdessen betonen sie einen Punkt, der von Richard Florida eher vernachlässigt wird, dafür in früheren Theorien über das "Humankapital" stärker im Vordergrund stand: "Urbane Vorzüge - wie beispielsweise Kulturangebote, eine ästhetisch schöne Umgebung und in Holland besonders auch die vielen historischen Bauten - machen Städte speziell für die 'kreative Klasse' attraktiver."

Doch es fehlt auch nicht an kritischen Stimmen zu Florida und seinen Ideen. Von überbewerteten Korrelationen war die Rede, von einer unsachgemäßen Definition der Beschäftigungskategorien oder vom Gebrauch veralteter Zahlen aus Zeiten des dotcom-Booms vor seinem Zusammenbruch. Der Ökonomin Ann Daly zufolge besteht das Problem solch verallgemeinernder Theorien darin, "dass sie eine auf alles passende Patentlösung anbieten, wo es den einzigen Index, die einzige Berechnung, den Königsweg nicht geben kann. Unsere Welt ist dafür zu komplex und ihr Wandel zu schnell." Dennoch räumt sie ein, dass Floridas Glaube an die Kreativität als Motor wirtschaftlichen Wachstums zumindest "die Basis für eine ernsthafte öffentliche Debatte über kulturelles Wachstum" erweitert hat, in der es unter anderem darum gehen müsste, Forschungsdaten zum Kreativsektor besser in politische Konzepte zu übersetzen. Wichtig sind Daly aber vor allem Strukturfragen : "Wir haben erst begonnen zu fragen: Was brauchen Künstler? Die Ära großer Firmengründungen ist um; die Zukunft gehört den Netzwerken. Subventionsgeber sind out, jetzt geht es um Infrastrukturen."

"Kulturwirtschaft" oder "Creative Industries"?

Hätten wir es nur mit Richard Florida zu tun, könnten wir vielleicht zur Tagesordnung übergehen. Doch so einfach ist es nicht: Inzwischen gibt es nämlich eine wahre Flut unterschiedlicher Konzepte und Begrifflichkeiten. Sie wurde vor über einem Jahrzehnt vor allem durch einen Schlüsselbegriff ausgelöst, der im Rahmen der Wahlkampfstrategie der britischen Labour Partei eine wichtige Rolle spielte und nach ihrer Regierungsübernahme in eine Studie mündete, das "Creative Industries Mapping Document". Dieses Dokument inspirierte die Phantasie vieler weiterer Administratoren und Wissenschaftler und stellte bisher gebräuchliche Termini wie den der "Kulturwirtschaft" oder der "Kulturgüter" in Frage, führte allerdings nicht zu einer allseits akzeptierten Definition. Zahlreiche Berichte, Konferenzen und kulturökonomische Strategien aus dem letzten Jahrzehnt lassen vielmehr drei unterschiedliche Tendenzen erkennen, hier mit einigen Stichworten markiert:

1. Kulturwirtschaftliche Konzepte (konzentriert auf die private Kultur- und Medienwirtschaft, einschl. selbständige Künstler/-innen, Designer/-innen und Architekten/Architektinnen, teilweise – etwa in Frankreich – aber nur auf bestimmte "industrielle" Teilsektoren), Beispiele sind:

  • "Kulturwirtschaft" / "Culture Economy" (z.B. 5 Kulturwirtschaftsberichte in NRW, 1991-2007; einige andere Bundesländer in Deutschland; Schweiz 2003);

  • "Kulturindustrie" / "Industries Culturelles" (Studien der EU und in Frankreich 2006; Konferenz Istanbul 2007; European Forum on Cultural Industries, Barcelona 2010);

  • "Cultural Products and Services Industry" (Studie von EUCLID für die EU 2003);

  • "Show Business" (traditioneller, bis heute genutzter Begriff in den USA).

2. "Creative Industries"-Konzepte (trotz des Begriffs "industries", der im Englischen eher als Branche oder Tätigkeitsbereich verstanden wird, meist sowohl auf privatwirtschaftliche wie auf wichtige öffentliche Kultur- und Medienbetriebe und darüber hinaus oft auch auf Sektoren bezogen, die überwiegend nicht im Kultur- und Medienbereich produzieren, z.B. Software-Produktion), Beispiele sind:

  • "(Culture and) Creative Industries" – unzureichend verdeutscht als "Kultur- und Kreativwirtschaft" (z.B. Konzept und statistische Berichte UK 1998-2005; Österreich 2000, 2006 und 2008; Studie von KEA 2006; Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft der dt. Bundesregierung 2007; Grünbuch - Erschließung des Potenzials der Kultur- und Kreativindustrien der EU-Kommission 2010);

  • "Creative Clusters" (zentrale jährliche Konferenz in UK);

  • "Creative Economy" (John Howkins 2001; Creative Economy Report der UNCTAD 2008)

  • "Copyright Industries" (z.B. Reports in den USA 2000, Singapur 2004);

  • "Knowledge Economy" (z.B. Berichte Kanada 1997/2005; Finnland 2006; Verwandschaft zu Richard Florida's Theorie der "Creative Class", 2001).

3. Differenzierte oder "hybride" Konzepte (alternative Modellbildungen und Kombinationen sowie statistische Kategorien, i.d.R. auf den Kultur- und Medienbereich im weiteren Sinne sowie Design bezogen), Beispiele sind:

  • "Experience Industry" (Berichte Schweden 2003/2008 – konsumentenorientiertes Konzept);

  • "Creative Capital" (Konferenz Amsterdam 2005; Bericht Dänemark 2006);

  • "Cultural Goods" (traditionelle, teilweise noch in der Statistik verwendete Bezeichung der UNESCO);

  • "Kreativsektor" / "Creative Sector" (z. B. UNESCO-Konferenz an der University of Austin/USA 2003; Studien für die Europ. Kulturstiftung, 2005 und die EU-Kommission 2008);

  • "Cultural & Creative Sector" (Konferenz der portugiesischen EU-Präsidentschaft, Lissabon 2007).

Nachdem sich hinter solchen Begriffen zum Teil sehr unterschiedliche Konzepte verbergen, überrascht es vielleicht, dass am Ende doch so etwas wie ein Konsens möglich sein könnte, über den noch zu reden ist.

Akademische und politische Hypotheken

Eine verständige Debatte über Definitionen und Begrifflichkeiten im Verhältnis Kultur und Wirtschaft konnte sich in Deutschland und in anderen Teilen Europas vor allem deshalb nur unzureichend und erst spät entwickeln, weil die wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Aspekte des Kultursektors über Jahrzehnte unterschätzt bzw. ignoriert wurden. Das erklärt sich auch daraus, dass in der europäischen akademischen Tradition Wirtschafts- und Kultursphären meist getrennt voneinander gesehen wurden - und diese Trennung lässt sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften bis in die letzten Jahrzehnte nachweisen, etwa bei Pierre Bourdieu oder Jürgen Habermas. Auch die von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer schon in den späten 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts formulierten Thesen zur "Kulturindustrie", wonach die intellektuelle oder ästhetische Produktion zunehmend Maßstäbe des industriellen Warenverkehrs übernimmt und entsprechend gesellschaftliche Befindlichkeiten beeinflusst, förderten und fördern weiterhin eher ein Abwehrverhalten gegenüber stärker integrierten Kulturmodellen, denen gerne die Nähe zu schnödem Kommerz vorgehalten wird.

Generell ist wohl zu sagen, dass die Empirie in dieser Art der Kulturerforschung etwas zu kurz kommt. Vielleicht wäre sonst früher aufgefallen, dass weite Teile des Kulturbetriebs schon seit jeher in privatwirtschaftlicher Form organisiert waren, so etwa das Verlagswesen; davon, dass dies zum Beispiel Vertreter der "Kritischen Theorie" daran gehindert hätte, ihre Thesen zu publizieren, ist nichts bekannt.

Das Ökonomische wurde also lange der Ökonomie überlassen, die ihrerseits die Kultur als Interessenfeld relativ spät entdeckte. Selbst in den USA wurden "Kulturmanagement"-Studiengänge erst seit den 70er-Jahren populär, in Europa sogar erst gut ein Jahrzehnt später. Heute hat sich die Kulturökonomik zu einer Spezialdisziplin entwickelt, die zwar an Einfluss gewinnt, der es aber nur in Ausnahmefällen gelingt, künstlerische oder kulturpolitische Maßstäbe in ihre Konzepte zu integrieren.

In der Kulturpolitik zeigen sich ebenfalls deutliche Engführungen: Obwohl das Kultursponsoring in den meisten europäischen Ländern statistisch kaum ins Gewicht fällt, wird auf das Thema "Kultur (und) Wirtschaft" oft reflexartig mit der Frage reagiert, durch welche Maßnahmen vielleicht mehr private "Sponsoren" für die Kunst und vor allem für (öffentliche) Kulturinstitutionen zu gewinnen seien, denen – nicht erst seit der globalen Finanzkrise 2008 – die gewohnten Förderetats abhanden kommen. Andererseits konzentrieren sich Diskussionen über die Kulturfinanzierung bei uns nach wie vor auf die staatlichen und kommunalen Haushalte, deren Dimensionen meist überschätzt werden.

Die Unverhältnismäßigkeit solcher Debatten wird gerade am Beispiel Deutschland augenfällig: Zwar ist kaum zu übersehen, dass wir zum Beispiel das weltweit größte System voll ausgestatteter öffentlicher Theater und Opernhäuser mit jährlichen Fixkosten von über zwei Milliarden Euro unterhalten. Dennoch sind auch hierzulande, bleibt man einmal bei rein finanziellen Maßstäben, die primär durch Konsum generierten Umsätze der privaten Kulturwirtschaft weit bedeutender als die öffentlichen Kulturausgaben. Mit 2009 rund 90 Milliarden Euro (Kultur- und Medienmarkt) bzw. über 130 Mrd. Euro (Definition der "Kultur- und Kreativwirtschaft" des Bundeswirtschaftsministeriums, einschl. Werbung und Software-Industrie) übertreffen sie die Gesamthöhe der öffentlichen Kulturausgaben um weit mehr als das Zehnfache und Privatspenden oder Erträge des Kultursponsoring sogar um das Hundertfache.

Wer sind die "Kreativen"?

Im Rahmen dieses kurzen Überblicks können wir die unterschiedlichen Bedeutungen und Ambivalenzen der Begriffe "Kultur" und "Kreativität" nicht ausführlich diskutieren. Selbst wenn, anthropologisch gesehen, Kultur die meisten menschlichen Ausdrucksformen, Wertesysteme und sogar institutionelle Strukturen umfasst, so sollten wir doch zunächst pragmatisch vorgehen, also nach einer Definition suchen, die aktuell in Europa gebräuchlich ist. Diese könnte man vielleicht auf die Formel bringen : "Kultur & Medien PLUS". Sie müsste die Künste, die Medien (einschließlich der neuesten Multimedia-Entwicklungen), administrative, qualifizierende und fördernde Instanzen und natürlich das kulturelle Erbe umfassen, und zwar ohne qualitative Vorbewertung (etwa im Sinne von "Hoch-" oder "Unterhaltungskultur"). Mit dieser Definition könnten dann die Aktivitäten öffentlicher Einrichtungen, gewerblicher Betriebe, sowie unabhängiger Organisationen, Stiftungen und Initiativen ebenso erfasst werden wie etwa eine selbständige Berufstätigkeit als Künstler oder Publizist. Wichtig ist dabei allerdings, dass unterschiedliche Branchen und vor allem Rechts- und Wirtschaftsformen nach Möglichkeit so ausdifferenziert erfasst werden sollten, dass sie später, je nach Fragestellung, auch wieder unterschieden werden können – darauf ist am Ende noch zurück zu kommen.

Der Begriff "Kreativität" könnte ähnlich eingegrenzt werden; er passt freilich auf die meisten Formen produktiver oder intellektueller Innovationskraft, ob auf den Schauplätzen der Wissenschaft, der Künste oder des Geschäftslebens und ist schon deshalb im Rahmen eines Definitionsüberblicks weniger Ziel führend. Allerdings wird man schon fragen dürfen, ob es gerechtfertigt ist - wie zum Beispiel in einem Salzburger Entwicklungskonzept vorgeschlagen -, die Kunst und damit die Künstlerinnen und Künstler gänzlich aus dem Kontext einer "Kreativwirtschaft" auszublenden. Nicht nur traditionelle Anschauungen , nach denen sie es sind, die quasi in ihrer Person die Ressource Kreativität in einer Gesellschaft verkörpern, werden hier auf den Kopf gestellt: Wenn nur noch Designerinnen und Designer, die Management-Beratung oder Werbeleute das Attribut von "Kreativen" für sich beanspruchen (dürften), wären in der Tat die schlimmsten Befürchtungen der Gegnerinnen und Gegner allzu enger Verbindungen zwischen Kultur und Wirtschaft eingelöst - und Kreativität auf die Bereitstellung eines funktionalen oder erlebnisträchtigen Ambientes reduziert.

Eigentlich ist doch kaum zu übersehen, dass künstlerische Arbeitsergebnisse heute, gerade über das Design, ständig in Wirtschaftszweige aller Art einfließen und oft auch als Motor für Innovationen oder technische Neuerungen gelten können. Einige meinen, dass nur die Künste, die Wissenschaft und die Technologie gemeinsam die Basis für Kreativität, Erneuerung und Produktivität in jeder Gesellschaft bilden konnten; andere sehen eine besonders innovative Rolle bei Medienkünstlerinnen und -künstlern, seitdem neue Informations- und Kommunikationstechnologien es ihnen erlaubten, nichtlineare, interaktive und netzwerkartige Formen der Kommunikation zu erforschen. Stephen Wilson weist darauf hin, dass die Macht der künstlerischen Arbeit in einem frühen Stadium einer neuen Technologie teilweise auf dem kulturellen Akt beruht, "sie für die eigene kreative Produktion und Kommentierung in Besitz zu nehmen. So erinnert etwa die frühe Geschichte der Computergrafik und -animation in mancher Hinsicht an die Verhältnisse bei der Entwicklung der Fotografie und des Kinos."

Die Politik, aber auch multinationale Firmen der Kultur- und Medienwirtschaft beginnen, diese potenzielle Macht der künstlerischen Forschung und Produktivität zu erkennen: "Technologie beeinflusst Musik, und Musik beeinflusst Technologie. Der beste Beweis dafür ist der iPod" - so der Chef des Warner-Konzerns, Edgar Bronfman, bei einer Tagung in Aspen im Jahr 2005.

Die so Gepriesenen sind da oft bescheidener. So weist der Schriftsteller Salman Rushdie (in der F.A.Z. vom 16. Juli 2005) zwar darauf hin, dass Bücher und ihre Autorinnen und Autoren durchaus die Macht hätten, "Liebe oder Hass" zu erzeugen, legt gleichzeitig aber Wert auf die Feststellung, dass es die Leserinnen und Leser sind, welche die Wahrheit einer literarischen Aussage in ihren Köpfen und Herzen erfahren, das Buch also selber individuell fertig stellen müssen.

Wir können daraus lernen, dass einseitige, rein ökonomisch orientierte Perspektiven keinen wirklichen Ansatzpunkt für das Verständnis kultureller Prozesse bieten.

"Kulturwirtschaftsberichte" - Brücken zwischen Politik, Kultur und Ökonomie

Definitionsprobleme und die komplexen Fragen der statistischen Abgrenzung - wozu die ungenügende europaweite Harmonisierung der Kulturstatistik beiträgt - haben punktuelle oder vergleichende Analysen zur wirtschaftlichen Bedeutung und Struktur der Kulturwirtschaft nicht verhindert. In Deutschland wurden sie vor allem auf regionaler Ebene erarbeitet. Das muss nicht unbedingt ein Manko sein, wenn es etwa darum geht, vorhandene Probleme oder Potenziale und mögliche Synergien der Kulturwirtschaft auch mit öffentlichen und 'freien' Trägern kultur- und medienbezogener Aktivitäten möglichst konkret zu benennen und Fördermaßnahmen besser darauf auszurichten.

Maßstäbe hatten in Deutschland und darüber hinaus zunächst die Berichte der Arbeitsgemeinschaft Kulturwirtschaft für das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) gesetzt (z.B. 1992, 1995, 1998, 2001, 2007). Zur "Kulturwirtschaft" zählen hier Privatbetriebe und selbständige Berufsangehörige, die in Teilmärkten der Künste und der Medien sowie angrenzenden Tätigkeitsfeldern arbeiten. Dabei wurden zuletzt grob folgende Segmente mit ihrer zum Teil recht heterogener Binnenstruktur unterschieden:

  • Kulturwirtschaft im engeren Sinne (z.B. Buchmarkt, Musikwirtschaft, Kunstmarkt oder Film, einschließlich der solchen Branchen zurechenbaren wirtschaftlichen Aktivitäten freischaffender Künstler/ -innen);

  • Kultur-/Medienwirtschaft im weiteren Sinne (z.B. Architektur- und Designateliers)

  • ergänzende Teilbranchen mit großer Relevanz für Kultur und Medien - je nach aktuellen Untersuchungszielen (in bisherigen NRW-Berichten wurden u.a. der "Kultur-Tourismus" oder die "Kultur-Bauwirtschaft" vom Kirchenbau bis zu Handwerksbetrieben in der Denkmalpflege besonders thematisiert).

Hinsichtlich der Datenaufbereitung weitgehend vergleichbare Berichte wurden unter anderem in Bremen-Nordniedersachsen (1999), Sachsen-Anhalt (2002 und 2006) und Schleswig-Holstein (2004) sowie in einigen Städten realisiert. Berichte mit anderer, eher dem Konzept der "creative industries" folgender und damit um zusätzliche Branchen wie etwa Telekommunikation oder Werbewirtschaft erweiterter Methodik wurden unter anderem für die Länder/ Stadtstaaten Hessen (2003, 2005 und 2008), Hamburg (2006), Berlin (2006 und 2009), Bremen (2009) und die Region Stuttgart (2005) vorgelegt.

Zwei Trends zeichnen sich dabei ab:

  • Einzelne dieser Berichte widmeten sich ganz oder überwiegend bestimmten Spezialthemen, die gelegentlich sogar vom Kernthema der Entwicklung der Kulturwirtschaft wegführen können.

  • Einige Berichte, so die in NRW oder ähnlich in Berlin, verstanden sich weniger als behördliche Information (oder PR) und eher als Ressourcen für die Zusammenarbeit breiterer Initiativen innerhalb der Kulturwirtschaft, etwa im Sinne eines "work in progress".

Die bundesweiten Bestandsaufnahmen von Michael Söndermann und weiteren Fachleuten aus den letzten Jahren gehen hier einen Mittelweg. Sie erfassen weiterhin in erster Linie die privatwirtschaftlicher Aktivität zurechenbaren Betriebe und Umsätze, folgen allerdings der von der Wirtschaftsministerkonferenz im Juni 2008 (und zuvor ähnlich auch auf EU-Ebene) beschlossenen Definition einer seither so genannten "Kultur- und Kreativwirtschaft" mit folgenden 11 Teilmärkten:

  1. Musikwirtschaft

  2. Buchmarkt

  3. Kunstmarkt

  4. Filmwirtschaft

  5. Rundfunkwirtschaft

  6. Markt für darstellende Künste

  7. Designwirtschaft

  8. Architekturmarkt

  9. Pressemarkt

  10. Werbemarkt

  11. Software-/Games-Industrie

Dazu ist vielleicht anzumerken, dass es bei solchen und anderen aktuellen Abgrenzungen teilweise weniger um sachlogische Zusammenhänge (Kohärenz) in bestimmten Märkten geht und eher Kriterien der statistischen Erfassbarkeit und europäischen Vergleichbarkeit eine entscheidende Rolle spielen. So verhindern bisher die entsprechenden Wirtschaftszweig-Klassifikationen, dass etwa in der Kategorie 11 tatsächlich "kreative" bzw. kulturell relevante Aktivitäten, z.B. die von Spiele-Designerinnen und -Designern, von anderen, etwa auf die Bürokommunikation konzentrierten Dienstleistungen, z.B. denen von Microsoft, exakt abgegrenzt werden können. Und bis heute ist es auch nicht möglich, die verschiedenen Komponenten der Internet-Wirtschaft exakt abzubilden, die ja in den letzten zwei Jahrzehnten einen beachtlichen Aufstieg erlebte.

Einige zentrale Ergebnisse der Berichte

Trotz ihrer Unterschiede in Definitionen und Vorgehensweisen belegen deutsche und ausländische Kulturwirtschaftsberichte doch relativ einheitlich einige wirtschaftlich wie auch kulturell relevante Tatsachen, darunter etwa:

  • eine überdurchschnittliche Zahl von Unternehmensgründungen, allerdings im Schnitt nur geringe Betriebsgrößen, häufig mit selbst berufstätigen Inhabern;

  • eine damit inzwischen nicht mehr parallel laufende Umsatzentwicklung, die gleichwohl im Vergleich mit anderen Wirtschaftssektoren noch immer als dynamisch bezeichnet werden kann, in einigen Branchen allerdings eher als "volatil" (erhebliche Schwankungen nach oben wie nach unten) gelten muss;

  • die wichtige Rolle der Kulturwirtschaft als Arbeitsmarktfaktor, teilweise auch gegen allgemeine Trends, was sich z.B. in der jüngsten Finanzkrise herausstellte: So belegen die genannten Datenerhebungen von Michael Söndermann, dass sogar die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zwischen 2008 und 2009 in diesem Bereich um 1,8% zulegen konnte.

  • die entscheidende Rolle selbständiger Künstler/ -innen, Autoren/ -innen, Designer/ -innen etc. für die Produktion und teilweise auch die Vermittlung von Inhalten ("content") sowie für die Lancierung von Innovationen in komplexen Märkten;

  • eine in vielen Branchen/Betrieben vergleichsweise geringe Kapitalintensität, in anderen allerdings oft eher eine (zu) geringe Kapitalausstattung (was naturgemäß negative Auswirkungen etwa für Investitionen oder Marketingaktivitäten haben kann,);

  • intensive Verbindungen oder Komplementärverhältnisse mit dem öffentlichen und gemeinnützig getragenen Kulturleben;

  • eine große Offenheit der meisten Akteurinnen und Akteure für die Integration neuer Technologien und

  • zunehmend europäisch oder international grenzüberschreitende Kooperationsbeziehungen in vielen Branchen.

Es ist vor diesem Hintergrund wohl kein Zufall, dass die Initiative für Kulturwirtschaftsberichte in Deutschland zunächst von Wirtschaftsbehörden ausging und dass bei diesen, soweit es tatsächlich um wirtschaftsrelevante Fragen geht, auch die meisten politischen Handlungsmöglichkeiten liegen. Obwohl es keine Patentrezepte für ihren Erfolg gibt, erkannte man mit Hilfe dieser Berichte die Kultur- oder Kreativwirtschaft zunehmend als eine interessante Kategorie in der regionalisierten Strukturpolitik. Vor allem arbeitsmarktpolitische Fragen des Kultur- und Medienbetriebs stoßen immer wieder auf großes Interesse, wobei die künstlerische Mobilität teilweise - und nicht ganz zutreffend - als Indikator für allgemeine Trends in Richtung mehr Flexibilität gewertet wird.

Einige Berichte verdeutlichten auch, dass Betriebe der Kulturwirtschaft wichtige Voraussetzungen oder Verbundleistungen für die Entwicklung anderer Branchen schaffen, dabei unter anderem für den Fremdenverkehr ("Kulturtourismus") und die Konsumgüterindustrie. Inzwischen finden solche Fragen sogar Beachtung in der bundesweiten und europäischen Kulturpolitik und lösten vielfältige Aktivitäten in der Forschung aus - mit unterschiedlichen, nicht immer überzeugenden Ergebnissen und Positionen. Ob sich die wichtigsten der gängigen Konzepte und Begrifflichkeiten tatsächlich in Politik mit einem konkreten Nutzen für die Betroffenen "übersetzen" lassen, hat der Verfasser in einer ersten Übersicht zur Diskussion gestellt:

Kulturell oder kreativ, Wirtschaft oder Szene: welche Politik nützt wem?
BegriffEbenen der PolitikMögliche politische Aktionsfelder
Künstler / Kreative "Szene"
(incl. Designer, Manager etc.)
Überwiegend örtlich/regional (Standortpolitik)Infrastrukturen (Kommuni-
kationsorte und -medien)
Kulturförderung
Bildungsangebote
Kultur- und Medien-Branchen (-Cluster, "Kreativsektor")A. Örtlich/Regional (Standortpolitik)
B. National (Wettbewerbspolitik)
A. Infrastrukturen (Flächen, Quartiere, Verkehr etc.) Finanzierung / Auftrags-
wesen (in einigen Branchen auch auf nationaler Ebene, z.B. Film)
B. Rechtliche Rahmen-
bedingungen (Steuern etc.)
Kulturwirtschaft (erwerbswirt-
schaftlich, inkl. selbständige Künstler)
A. Regional (Standortpolitik)
B. Europäisch
A./B. Wirtschafts- /Arbeitsmarktpolitik, Qualifizierung
A. Kulturpolitik (komplementär/strukturell)
Creative Industries / Knowledge EconomyUnklar, eher nationale Konzepte (??), in der EU aber z.B. in statistischen Dokumentationen üblichAllg. Wirtschafts- u. Technologiepolitik? (Problem: Branchen-Un-
gleichgewicht! Mangelnde Einbindung der Mikro-Firmen)
Creative EconomyGlobal
(praxisnah nur für Großunternehmen)
Freihandelspolitik
(z.B. G8, WTO)
Entwicklungspolitik
(z.B. UNCTAD)
Rechtliche Standards
(z.B. universelles Copyright)
Quelle: A.J.Wiesand: "Götterdämmerung der Kulturpolitik?", Jahrbuch für Kulturpolitik 2008 der Kulturpolitischen Gesellschaft.

Empfehlungen - nicht nur für die Schublade

Sicher wäre es verfehlt, eine Umsetzung aller Vorschläge in den diversen Berichten im Verhältnis 1:1 zu erwarten; manche sind ohnehin "programmbegleitend", reagieren also mehr auf politische Maßnahmen, als dass sie neue empfehlen würden, andere betreffen eher Fragen einer grundsätzlichen Neuorientierung der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Kulturpolitik. Letzteres gilt teilweise für die NRW-Kulturwirtschaftsberichte, für deren Inhalt ja nicht das Ministerium selbst, sondern eine unabhängige Gruppe von Fachleuten aus Universitäten und Forschungseinrichtungen verantwortlich zeichnete.

Dennoch lassen sich einige Projekte nennen, die entweder direkt auf Empfehlungen der Berichte zurückgehen oder Defizite aufgreifen, die dort benannt wurden, darunter die StartART-Gründungsinitiative des Landes NRW für Kunst und Kulturwirtschaft, die bis 2002 den Weg in die Selbständigkeit durch betriebswirtschaftliche Beratung und Qualifizierung förderte und die inzwischen durch ein "Clustermanagement" unter der Marke CREATIVE.NRW abgelöst wurde.

Mit ähnlicher Zielsetzung wurden in NRW und in anderen Bundesländern beispielsweise

  • Wettbewerbe zur Einrichtung kultureller Gründerzentren ausgelobt;

  • Modellprojekte zur Nutzung kulturwirtschaftlicher Angebote für den Tourismus gefördert;

  • Kulturwirtschaftstage und Branchenforen veranstaltet oder

  • die Beteiligung an Auslandsmessen unterstützt.

Auch die Bundesregierung will seit 2007, gestützt auf empirische Bestandsaufnahmen, durch die "Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft... die Wettbewerbsfähigkeit der Kultur- und Kreativwirtschaft stärken und das Arbeitsplatzpotenzial noch weiter ausschöpfen" .

Mit diesen Hinweisen soll nicht der Eindruck erweckt werden, es ließe sich mit Statistiken über eine dynamische Kultur- und Medienwirtschaft und ihrer Fortschreibung in offiziellen Berichten nahezu alles an politischen Strategien und Fördermaßnahmen begründen, was jeweils gerade auf dem Markt en vogue ist oder von Interessengruppen hartnäckig gefordert wird. Grundsätzlich gilt wohl, dass nur dort eine öffentliche Förderung gerechtfertigt ist, wo an reale Marktpotenziale bzw. besondere Erfahrungen bei den Erwerbstätigen – also ein "kulturelles Kapital" im Sinne von Pierre Bourdieu - angeknüpft werden kann oder Nachteile und Wettbewerbshemmnisse auszugleichen sind. Eine leistungsfähige Kulturwirtschaft lässt sich also nicht schematisch an jedem Ort für alle Branchen aus dem Boden stampfen.

Zu dieser Einsicht kam etwa der erste Kulturwirtschaftsbericht für das Land Sachsen-Anhalt. Dessen wirtschaftliche Lage und vor allem die auch durch hohe Arbeitslosigkeit bedingte geringe Kaufkraft ließen keine Empfehlungen für einen flächendeckenden Aufbau kulturwirtschaftlicher Infrastrukturen etwa im Buch-, Kunst- oder Musikmarkt zu. Allerdings wurde ein großes Potenzial im Kulturtourismus, bei der Produktion von Designgütern (Bauhaus-Tradition) und in der Medienwirtschaft ausgemacht. Letzteres galt insbesondere für Betriebe mit Aufgaben in der Gestaltung, der Produktion und beim Management von "Content" für die Neuen Medien - auch andernorts eine wichtige, Ressourcen schonende Entwicklungschance.

Ein Vorschlag zur Diskussion: der "Kreativsektor"

Obwohl es künftig noch schwieriger wird, den privatwirtschaftlichen Bereich statistisch sauber von öffentlichen und gemeinnützigen Kultur- und Medienaktivitäten abzugrenzen, bleibt gerade dies eine wichtige Aufgabe. Gerade in Deutschland existiert traditionell eine stärkere Arbeitsteilung zwischen Kulturangeboten mit öffentlichem Auftrag und privatwirtschaftlichen Aktivitäten als in vielen anderen Ländern - und dies soll nach den Vorstellungen sowohl der betroffenen Einrichtungen und des größten Teils der Kulturwirtschaft wie auch breiter Bevölkerungskreise so bleiben.

Hier könnten wir vom Musterland der "Kreativwirtschaft", dem Vereinigten Königreich, etwas lernen: Dort stellen sich nämlich die Verhältnisse durchaus nicht so pauschal dar, wie es die gängige Rezeption dieses Begriffs nahe legt. Dies zeigt spätestens der Blick in die Londoner Regierungsadministration: Dem für Kultur, Medien und Sport zuständigen Kabinettsmitglied unterstehen einerseits Abteilungen oder Agenturen für "the arts" (also die Künste im engeren Sinne), Museen, Bibliotheken, den Rundfunk oder "historic environment" wie andererseits solche für Tourismus oder "creative industries" (die hier Werbung, Kunstmarkt, Design, Mode, Film und die Musikwirtschaft umfassen).

Wie inzwischen auch Ministerien in anderen europäischen Ländern versucht die britische Regierung die wachsende Relevanz von Marktkräften für die Entwicklung im Kultur- und Medienbereich ebenso zu berücksichtigen wie die eigenständige Rolle staatlicher oder geförderter Einrichtungen und die Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Akteure.

Vor dem Hintergrund empirischer Studien und internationaler Fachtagungen, hier insbesondere der UNESCO-Konferenz "The International Creative Sector" an der Universität Austin (2003), kann damit für die Diskussion und weitere Begriffsklärung eine eigene Abgrenzung des "Kreativsektors" vorgeschlagen werden. Abgesehen von einem relativ flexiblen "kreativen Kernbereich" unterscheidet die Übersicht 2 acht Arbeitsfelder (die Größe der Grafikelemente ist ein grober Anhaltspunkt für ihre Bedeutung im Arbeitsmarkt dieses Sektors). Die Grundelemente der Grafik sind wohl für die meisten europäischen Länder zutreffend, und die große Anzahl öffentlicher Theater und Medieneinrichtungen (Radio und Fernsehen häufig finanziert durch Gebühren) markiert den auffälligsten Unterschied zwischen europäischen Traditionen und Bedingungen in den USA, wo diese Einrichtungen ganz überwiegend privatwirtschaftlich organisiert sind.

Vorschlag zur Abgrenzung eines "Kreativsektors" in Europa. Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte Bd. 34-35/2006, S. 16. (© bpb)

Die - wohl noch zunehmenden - Querverbindungen dieser Felder untereinander (z.B. Musikverlage oder der Instrumentenbau mit öffentlichen Musikschulen) und darüber hinaus (z.B. Design mit Wirtschaftszweigen wie Mode und Werbung) sind im Schaubild angedeutet, gelegentlich wird hier auch von "creative clusters", in bestimmten Konstellationen auch von "Komplementärbeziehungen" gesprochen (wie etwa zwischen staatlichen Opernhäusern und den zumeist privaten Musical-Spielstätten). Ein näherer Blick auf einzelne Branchen oder Wertschöpfungsketten führt zusätzlich vor Augen, dass die Berührungspunkte der einzelnen Felder unterschiedlich ausgeprägt sind - so hat der Buchmarkt viel weniger mit öffentlichen Zuwendungsgebern zu tun als etwa die Filmproduktion.

Definitionen sollten so flexibel sein, dass sie derartige Querverbindungen angemessen berücksichtigen können und zudem für neue Entwicklungen offen bzw. erweiterungsfähig bleiben. Dies betrifft etwa die zunehmenden grenzüberschreitenden Austauschbeziehungen, Konzentrationstendenzen und ebenso neue, nicht nur ökonomisch relevante Arbeitsfelder im Medienbereich. Als Beispiel sind die "kreativen" Aktivitäten bei der Entwicklung von Computerspielen zu nennen: Weil hier traditionelle statistische Kategorien nur begrenzt Auskunft geben können, ist es besonders wichtig, dem Design einen prominenten Platz in kultur- oder kreativwirtschaftlichen Konzepten zuzuweisen und die hier Berufstätigen möglichst vollständig zu erfassen.

Unter solchen Voraussetzungen ist es dann weniger wichtig, ob wir etwa von einem "Kultursektor" oder einem "Kreativsektor" sprechen, solange nur alle mit Kultur und Medien im weiteren Sinne verbundenen privaten, öffentlichen und informellen Aktivitäten berücksichtigt werden. Deren oft sehr unterschiedliche Zielsetzungen, Maßstäbe und Probleme sollten auch in Zukunft möglichst klar erkennbar und in ihren Funktionen überprüfbar bleiben. Geschieht dies nicht ausreichend oder wird alles über den Kamm "Wirtschaft" geschoren, wie in manchen der erwähnten Berichte und Bestandsaufnahmen, könnten einige Angebote bald mangels "Unterscheidbarkeit" – oder von der EU und der Welthandelsorganisation WTO aus Gründen eines durch öffentliche Zuschüsse behinderten "freien Wettbewerbs" – politisch-rechtlich in Frage gestellt werden und eine bislang noch vielfältige kulturelle Öffentlichkeit Schaden nehmen.

In seiner eingangs erwähnten Nobelpreisrede wies Wole Soyinka noch darauf hin, dass OGUN nicht nur als "Gott der Kreativität" gelten kann, sondern auch als "Gott der Zerstörung". Mehr Transparenz im kulturellen oder "Kreativsektor" kann dazu beitragen, dass diese Zweitrolle möglichst wenig zum Tragen kommt.

Aktualisierter Beitrag aus: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nummer 34-35 / 2006, "Kulturwirtschaft".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. arge creativ wirtschaft austria, Dritter Österreichischer Kreativwirtschaftsbericht, Wien 2008.

  2. Richard Florida, The Rise of the Creative Class - and how it's transforming work, leisure, community and every day life, New York 2002; ders., The Flight of the Creative Class, New York 2004.

  3. Vgl. den Überblick zum "Humankapital"-Ansatz von Vijay K. Mathur, Human-capital-based strategy for regional economic development, in: Economic Development Quarterly, XIII, (1999) 3.

  4. Vgl. Gerard Marlet/Clemens van Woerkens, Skills and Creativity in a Cross-section of Dutch Cities, Stichting Atlas voor gemeenten, Utrecht School of Economics, Universität Utrecht, Discussion Paper Series 04 - 29, 2004.

  5. Ann Daly, Richard Florida's High-class Glasses, in: Grantmakers in the Arts Reader, Sommer 2004.

  6. Fragen dieser Art mögen für amerikanische Ökonomen ungewohnt sein. In Europa stellte man sie in Abhandlungen und empirischen Untersuchungen seit den 70er Jahren (z.B. in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Schweden), und sie waren Teil des vom Europarat in den 80er Jahren initiierten Programms der National Cultural Policy Reviews.

  7. Vgl. Department for Culture, Media and Sport, Creative Industries Mapping Document, London 1998.

  8. Vgl. Pierre Bourdieu, The Field of Cultural Production: Essays on Art and Literature, Cambridge 1993; Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1988.

  9. Vgl. Heinz Steinert, Kulturindustrie, Münster 1998; ähnlich auch Therese Kaufmann und Gerald Raunig, Europäische Kulturpolitiken vorausdenken, Wien 2002 (http://www.eipcp.net/policies/text/concept_de. htm), die im "Hype der 'Creative Industries' eine Tendenz" erkennen, nach der ökonomische Interessen "das kritische, partizipatorische und politische Potenzial kultureller Inhalte" verdrängen.

  10. In Untersuchungen des Zentrums für Kulturforschung wurden allerdings schon früh Querverbindungen zwischen Kunst oder Literatur und ökonomischen Instanzen der (Re-)Produktion und Vermittlung herausgearbeitet, vgl. etwa Karla Fohrbeck/Andreas Joh. Wiesand, Der Autorenreport, Reinbek 1972, aus der Arbeit des ERICarts-Instituts auch Danielle Cliche/Ritva Mitchell/Andreas Joh. Wiesand, Creative Europe, Bonn 2002.

  11. Eine solche Ausnahme ist etwa der australische Ökonom David Throsby, Economics and Culture, Cambridge 2001 und The Economics of Cultural Policy, Cambridge 2010.

  12. Vgl. die differenzierte statistische Bestandsaufnahme von Michael Söndermann in BMWi/Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft (Hrsg.), Monitoring zu ausgewählten wirtschaftlichen Eckdaten der Kultur- und Kreativwirtschaft 2009, Forschungsbericht Nr. 598, Stand: Juli 2010 (Externer Link: http://www.kultur-kreativ-wirtschaft.de).

  13. So in der Broschüre Innovations- und Technologietransfer Salzburg GmbH (Hrsg.), Kreativität Salzburg - ein Strategiepapier für eine standortpolitische Schwerpunktsetzung, Salzburg o. J. (2005). Dass solche Vorstellungen (nicht nur) an diesem Ort weiter Bestand haben, zeigte die Messe "Kreativ Salzburg" im Herbst 2009, die laut Ankündigung "die Bereiche Geschenkideen, Wohnaccessoires, Design- und Lifestyleartikel, Papier- und Schreibwaren, Floristik, Bastelbedarf, Kunsthandwerk, Souvenirs, Glas, Porzellan und Keramik, Trend- und Plüschartikel, Spielwaren, Modeaccessoires und Trafikantenbedarf unter einem Dach" vereint.

  14. Vgl. (ein Beispiel für viele) Margot und Rudolf Wittkower, Künstler - Außenseiter der Gesellschaft, Stuttgart 1989.

  15. Vgl. Dieter Daniels, Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet, München 2002; vgl. auch ERICarts (Hrsg.), Culture-Gates - Exposing Professional 'Gate-keeping' Processes in Music and New Media Arts, Bonn 2003.

  16. Vgl. Stephen Wilson, Information Arts: Intersections of Art, Science and Technology, Cambridge 2002.

  17. Die letzte vorliegende Ausgabe ist der 5. Kulturwirtschaftsbericht der Arbeitsgemeinschaft Kulturwirtschaft NRW, herausgegeben vom Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie des Landes NRW, Düsseldorf 2007.

  18. Vgl. etwa den 2. Hessischen Kulturwirtschaftsbericht: Kultursponsoring und Mäzenatentum in Hessen, hrsg. von den Hessischen Ministerien für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung sowie für Wissenschaft und Kunst, Wiesbaden 2005.

  19. So explizit der Bericht der Senatsverwaltungen für Wirtschaft, Arbeit und Frauen und für Wissenschaft, Forschung und Kultur (Hrsg.), Kulturwirtschaft in Berlin - Entwicklung und Potenziale 2005, Berlin 2005; Kreativität Salzburg (Anm. 13).

  20. Nachzulesen u.a. im Forschungsbericht Nr. 577: Gesamtwirtschaftliche Perspektiven der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland". Stand Feb. 2009, herausgegeben vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Berlin.

  21. Kritisch dazu Andreas Joh. Wiesand: "Götterdämmerung der Kulturpolitik?". In: Jahrbuch für Kulturpolitik 2008, Kulturpolitische Gesellschaft (Hrsg.), Essen 2008. Einen guten Überblick über unterschiedliche Konzepte im europäischen Raum bietet der 2. Kulturwirtschaftsbericht Sachsen-Anhalt (2006), vgl. http://www.sachsen-anhalt.de/LPSA/
    fileadmin/Elementbibliothek/Bibliothek
    _Kultur_und_Medien/PDF/Kultur/
    dokumente/Kulturwirtschaftsbericht_S-A_2006.pdf

  22. Bei den bisherigen Berichten waren dies vor allem die Universitäten Dortmund und Witten-Herdecke, das Büro STADTart, das Zentrum für Kulturforschung, der Arbeitskreis Kulturstatistik und das European Institute for Comparative Cultural Research (ERICarts).

  23. http://www.creative.nrw.de/branchen-und-maerkte.html, Stand: Dezember 2010.

  24. vgl. http://www.kultur-kreativ-wirtschaft.de, Stand: Dezember 2010.

  25. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Kulturwirtschaft LSA, Kulturwirtschaft in Sachsen-Anhalt - Bedeutung, Strukturen, Handlungsfelder, Bonn-Magdeburg 2002.

  26. So die Ergebnisse verschiedener "KulturBarometer"-Umfragen des Zentrums für Kulturforschung aus den letzten 20 Jahren.

  27. Vgl. Council of Europe/ERICarts, Compendium of Cultural Policies and Trends, Straßburg-Bonn 2006 (http://www.culturalpolicies.net).

  28. Dazu näher Arbeitsgemeinschaft Kulturwirtschaft, Kulturwirtschaft in Nordrhein-Westfalen: Kultureller Arbeitsmarkt und Verflechtungen, Düsseldorf 1998.

  29. Vgl. ERICarts mit FinnEkvit, Mediacult, OBS und ZfKf, Culture-Biz, Bonn 2005.

Prof. Dr. Andreas Joh. Wiesand, geb. 1945; war von 1972-2008 Leiter des Zentrums für Kulturforschung, Bonn, und arbeitet heute als Executive Director des European Institute for Comparative Cultural Research (ERICarts).