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The Jazz Singer Der neue Klang des Tonfilms

Claudia Bullerjahn

/ 14 Minuten zu lesen

"Wait a minute! Wait a minute! You ain’t heard nothin’ yet!" Kann ein Satz den größten bisher stattgefundenen Wandel der Filmindustrie weltweit verursacht haben? Ein Satz, der noch nicht einmal vorgesehen war, denn es sollte ursprünglich in diesem Film nur gesungen und nicht gesprochen werden. Aber die Produktionsgesellschaft entschied sich die aus dem Moment heraus improvisierten Worte des Hauptdarstellers Al Jolson im Film zu belassen und sogar noch eine weitere Sprechszene aufzunehmen. Folgt man der Argumentation Michael Freedlands in seinem Artikel in der britischen Tageszeitung The Independent, kam das Erscheinen des Films The Jazz Singer einer Revolution gleich. Relativ schnell brach die Stummfilmproduktion ein und Kinotheater wurden auf Tonfilmtechnik umgerüstet.

1927: Premiere des Films "The Jazz Singer" - eines der ersten erfolgreichen Tonfilme der Filmgeschichte (© picture-alliance, United Archives/WHA)

"Who the hell wants to hear actors talk?" Zur Entwicklung des Tonfilms

Eine synchrone, mechanische Verbindung von Bild und Ton wurde schon zu Beginn der Filmgeschichte angestrebt. Dennoch konnte sich der Tonfilm erst mit The Jazz Singer 1927 durchsetzen, weswegen er fälschlicherweise in einigen Überblicksdarstellungen als der erste Tonfilm bezeichnet wird. Die Hauptschwierigkeit bestand darin, zwei unterschiedliche Aufnahmeverfahren zusammenzubringen: Das bewegte Bild wurde linear und diskontinuierlich in statischen Einzelbildern aufgezeichnet, der Ton hingegen zirkulär und kontinuierlich auf Schallplattenrille. Die externe Kombination getrennter Apparaturen, nämlich des Grammophons und des Filmprojektors, gelang mit dem Vitaphone-System der Filmgesellschaft Warner Brothers, ein sogenanntes Nadeltonsystem, das letztlich mit The Jazz Singer den Tonfilm populär und durchsetzungsfähig machte, obwohl es noch höchst störanfällig war. Jeder Filmriss oder Fehler im Filmbandtransport drohte die Synchronität zu zerstören, worüber man sich noch Jahrzehnte später im Filmmusical Singin’ in the Rain (1952) lustig machte.

Mit einer internen Kombination, nämlich einem Vorläufer des technisch überlegenen und sich letztlich durchsetzenden optischen Tonsystems, bei dem eine Lichttonspur auf dem Filmstreifen integriert ist, hatte Lee de Forest bereits 1919 experimentiert. 1923 konnte er erfolgreich drei kurze Tonfilmszenen uraufführen. Sogenannte Tonbilder – frühe kurze Tonfilme mit abgefilmten Musikdarbietungen von Sängerinnen oder Sängern und synchronem Ton von Phonograph oder Grammophon – wurden sogar schon 1903 von Oskar Messter eingeführt. 1913 erfand Thomas Alva Edison mit dem Kinetophon einen auf externer Kombination basierenden Guckkasten, der in Verbindung mit zwei in die Ohren zu steckenden Schläuchen das Betrachten von vertonten Kurzfilmen ermöglichte. Auch das Vitaphone-System war bereits 1926 mit dem Langfilm Don Juan der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Wie ist also der immense Erfolg des Jazz Singers zu erklären?

Das Alleinstellungsmerkmal des Jazz Singers ist nicht die technologische Innovation, sondern die bewusste und hinterfragende Verbindung von Bild und Ton. Es handelt sich um ein "filmhistorisches Scharnierstück" (Lisa Gotto), das Traditionen von Stumm- und Tonfilm fortführt und zugleich als erstes Filmmusical bezeichnet werden kann. So war Don Juan zwar technologisch ein abendfüllender Tonfilm mit aufgezeichneter Orchestermusik, jedoch entbehrte er das, was den ersten Sprechfilm und seine Nachfolger um vieles erfolgreicher machen sollte: den Klang der menschlichen Stimme.

Verknüpfung zweier Transformationen

Deutsches Plakat für den Film "Der Jazzsänger" (The Jazz Singer), 1927, mit Al Jolson (© picture-alliance, Mary Evans Picture LibrarY)

Der Plot erzählt die Geschichte von Jakie Rabinowitz, dem Sohn eines jüdischen Kantors in der Lower East Side New Yorks. Jakie besitzt ein auffälliges Gesangstalent und wird zum erfolgreichen Entertainer Jack Robin. Zentral ist nicht nur ein klassischer Generationskonflikt – der Sohn soll traditionsgemäß Kantor werden –, sondern auch das Ausloten konträrer Klangwelten: Beispielsweise werden schon in der ersten Filmszene jüdische Sakralmusik und profaner Ragtime in einer Parallelmontage visuell und klanglich gegenübergestellt.

Besonders faszinierend macht den Film jedoch die Tatsache, dass die Hauptrolle eng mit dem Darsteller verquickt ist: Jolson ist ebenfalls Sohn eines jüdischen Kantors, flieht als Jugendlicher aus seinem Elternhaus, verändert seinen jüdischen Geburtsnamen von Asa Yoelson zu Al Jolson und wird nach einer immens erfolgreichen Vaudeville-Karriere mit Blackface-Auftritten als Musical-Star am Broadway berühmt. Diese Parallelität ist keineswegs zufällig: Samson Raphaelsons teilweise auf der Biografie Jolsons beruhende Novelle The Day of Atonement von 1922 bildete die Vorlage für das Drehbuch. Auch in der Werbung für den Film nutzte man diese Verbindung zwischen Protagonist und Künstler.

Das Schwanken zwischen Authentizität und Inszenierung, der Übergang zwischen Bekanntem und Unbekanntem bestimmt die erste "Part-Talkie"-Sequenz des Films und der gesamten Filmgeschichte: Jack Robins Auftritt in einem Café. Zwischen zwei durch Phonograph-Aufnahmen bekannten Jolson-Hits – der langsamen, sentimental vorgetragenen Ballade Dirty Hand, Dirty Face und der mit Hüftschwung präsentierten, von synkopischen Rhythmen geprägten Uptempo-Nummer Toot, Toot, Tootsie Goodbye – ereignet sich aus einer Improvisation heraus die erste lippensynchrone Sprech-Passage eines abendfüllenden Tonfilms überhaupt: "Wait a minute! Wait a minute! You ain’t heard nothin’ yet!" Es handelt sich bei "You ain’t heard nothin’ yet!" nicht nur um eine lang etablierte Standardfloskel, quasi ein Markenzeichen Al Jolsons und damit Bestandteil seiner Star-Persona, sondern auch um einen von ihm häufig präsentierten und 1919 auf Platte gepressten Songtitel und insbesondere um eine Phrase mit zwei gleichermaßen zutreffenden Bedeutungen: "Ihr habt noch gar nichts gehört!" (bisher herrschte der Stummfilm vor) sowie "Was ihr bisher gehört habt, war noch gar nichts!" (bisher gab es nur Dokumentationen von Bühnenauftritten mit statischer Kameraposition in Tonbildern).

Hörbeispiel im Internet:Al Jolson, "Toot, Toot, Tootsie Goodbye"

"You ain’t heard nothin’ yet!" Die Inszenierung von Ton

Das eigentlich Spektakuläre am Jazz Singer ist nicht das Hörbare an sich, sondern die Art wie seine Verbindung mit dem Sichtbaren inszeniert wird. Eine Musikaufführung wird in eine kontinuierliche, visuell organisierte Narration integriert mit der Montage als ästhetischer Errungenschaft des Stummfilms: Alternierende Einstellungswechsel zwischen Sänger und Publikum (Cross-Cutting) präsentieren sich in wechselnden Bildausschnitten (z. B. Al Jolson in amerikanischer, halbtotaler und großer Einstellung) und Einstellungsdauern bei durchlaufender Tonspur. So werden längere Einstellungen der Gesangsperformance kombiniert mit extrem kurzen in Großaufnahme, z. B. von Mary, Jacks Bewunderin, ein Verfahren, das heute noch viele Videoclips verwenden.

Hörbeispiel im Internet:Al Jolson, "You Ain’t Heard Nothing Yet" (1919)

Der Film erreicht keine vollständige Lebensechtheit. Im Gegenteil ergibt sich eine absichtsvolle Koexistenz von Stumm- und Tonfilmelementen als hybrides Wesen des Übergangs, z. B. durch Zwischentitel neben gesprochenen Worten und einem selektiven Umgang mit Ton. So hört man etwa den Gesang Jack Robins, nicht jedoch den Applaus des Publikums im Gegenschnitt, diesen jedoch kurz vor und nach dem Auftritt. Hierdurch ergibt sich ein ständiges Schwanken zwischen der Echtheit der menschlichen Stimme und der offen-sichtlich stummfilmtypischen Inszenierung der Narration. Eine genauere Betrachtung offenbart, dass sogar die Musiker der Hintergrundbands wechseln (z. B. ein schwarzer Pianist in der einen Einstellung, ein weißer in einer anderen). Asynchronie von Akustischem und Visuellem wird nicht umgangen, sondern absichtsvoll produziert.

Noch stärker integriert in die Narration bei gleichzeitig drastischem Wechsel zwischen Tonfilm- und Stummfilmelementen ist die zweite "Talkie"-Sequenz: Jack singt und spielt in der elterlichen Wohnung für seine Mutter den 1926 komponierten Song des bekannten Songwriters Irving Berlin Blue Skies in zwei Versionen. Asynchronitäten zwischen Fingerbewegungen und Klavierklang verweisen auf nur gemimtes Klavierspiel bei lippensynchronem Gesang – ein auch in späteren Tonfilmen übliches Verfahren des Zuspielens musikalischen Fremdmaterials. Neben Jack ist im Dialog relativ undeutlich die Stimme seiner Mutter zu hören, was daran liegt, dass das Mikrofon anscheinend nur auf Jolson ausgerichtet war und der Dialog womöglich eher ungeplant zustande kam. Wiederum zeigt sich, dass ein Film hören lassen kann, was nicht zu sehen ist, und sehen lassen kann, was nicht zu hören ist: Der unbemerkt das Zimmer betretende Kan-tor unterbricht mit dem laut gerufenen Wort "Stop" den zweiten Teil der Performance seines Sohnes; nach sekundenlanger Stille wird der Film jedoch ironischerweise in Stummfilmmanier Interner Link: mit kompilierter präexistenter Musik fortgeführt und Sprachverständnis ist nur noch mittels Zwischentiteln und expressiver Gestik und Mimik möglich. Auch der Satz "You ain’t heard nothin’ yet!" taucht hier wieder auf, nun freilich im Zwischentitel.

Blackface-Auftritte in Minstrel-Tradition

Szene aus dem Film The Jazz Singer (1927) mit dem Hauptdarsteller Al Jolson. (© picture-alliance, United Archives/WHA)

Jack Robins Blackface-Auftritt im New Yorker Winter Garden deutet mit dem sentimentalen My Mammy-Song auf die Minstrel-Tradition. Blackface-Auftritte waren seit 1904 Teil von Jolsons Bühnenprogrammen und gehörten wie der Song aus dem Jahr 1918, den er im Film singt, zu seinem Standardrepertoire. Speziell bei diesem Song kniete er oft als zentrales Markenzeichen auf einem Bein; im Film singt er sogar seine im Publikum sitzende Filmmutter an. Seine eigene Mutter verlor Jolson dagegen schon in früher Jugend.

"Blackface" ist eine Theater- und Unterhaltungsmaskerade, hervorgegangen aus der stereotypischen Parodie von Afro-Amerikanern in den Minstrel Shows des 19. Jahrhunderts in den USA, später übernommen in das Vaudeville-Theater. Während Blackface-Maskeraden häufig in rassistisch geprägter Weise das Klischee des naiven, tumben und immer fröhlichen "Negers" transportieren, wird im Jazz Singer damit eher eine besondere innere Affinität der Schwarzen zum Jazz signalisiert und an die Idee von den USA als Schmelztiegel verschiedener Kulturen angeknüpft. Allerdings hat "Jazz" in diesem Film gemäß zeitgenössischem Sprachgebrauch eine ziemlich große Spannweite, es werden Kompositionen vom Ragtime-Song bis zum Tin-Pan-Alley-Schlager darunter gefasst; zudem zeichnet sich die Instrumentierung weniger durch jazztypische Blasinstrumente wie Saxofon, Trompete und Schlagzeug aus als durch eine von Violine und Klavier dominierte Salonorchesterbesetzung.

Hörbeispiel im Internet:Al Jolson, "My Mammy"

Schwarze Kultur oder Anklänge an diese in musikalischer Form wird nicht verkörpert, sondern inszeniert; verdeutlicht wird das zusätzlich durch die Offenlegung des transformativen Prozesses: das Auftragen der schwarzen Rußschicht auf das weiße Gesicht des Sängers, das Aufsetzen der krausen Perücke und das Entfernen derselben nach dem Blackface-Auftritt. Dies ist wiederum ein Verweis auf den "Wechsel von Echtheit und Gemachtheit" sowie eine "Überführung des vermeintlich Authentischen in die Oberflächenstruktur des Entertainments" (L. Gotto).

Der erste Hollywoodfilm mit moderner jüdischer Thematik

The Jazz Singer ist ein deutliches Bekenntnis der Unterhaltungsindustrie zur Unabhängigkeit, künstlerischen Selbstverwirklichung und Assimilation eingewanderter osteuropäischer Juden, was exemplarisch am Typus des sympathisch gezeichneten jüdischen Musikers bzw. Entertainers und am Jazz als zeitgenössischer populärer Musik festgemacht wird. Diesen musikalischen Symbolen des modernen Lebens wird die traditionelle orthodoxe Welt der Ghettos in amerikanischen Großstädten gegenübergestellt, deren Klanglichkeit im Film durch Synagogengesänge und vor allem durch, zumeist kompilierte, exotisch klingende Hintergrundmusik repräsentiert wird. Letztere charakterisiert und bewertet das Leben des Vaters unterschwellig als überholt und fremdartig. Die Musikzusammenstellung insgesamt sowie den exklusiv für diesen Film komponierten und uraufgeführten Song Mother of Mine verantwortete der erfahrene Songkomponist und Vaudeville-Pianist Louis Silvers, wie Irving Berlin (alias Israel Isidore Baline) Sohn jüdischer Immigranten.

Als "vertrauten Topos jüdischer religiöser Musik, der keiner weiteren Erläuterung bedurfte" (Christoph Henzel), verwendete Silvers den jüdischen Gebetsgesang Kol Nidre – durch diverse Melodiearrangements etwa von Max Bruch weithin bekannt. Auch die dem Vater zugeordnete, überwiegend kompilierte Begleitmusik bezieht sich in ihrer Melodik mehr oder weniger deutlich auf das als Inbegriff jüdischer Melodik geltende Kol Nidre. So erklingen zweimal Streicherarrangements des Kol Nidre und fünfmal die ähnlich klingende Hauptmelodie des 4. Satzes aus Édouard Lalos Symphonie espagnole. Die musikalische Charakterisierung der einfältig-liebenswürdig dargestellten jüdischen Gemeindemitglieder mit folkloristischen Holzbläserarrangements, die dem Klischeebild einer orientalisierten Volksmusik genügen und Ausdruckstopoi des Komischen aufgreifen, belegt ebenfalls, dass es Silvers nicht um eine möglichst authentische Darstellung der Musiktraditionen jüdischer Immigranten ging. Er konnte davon ausgehen, dass das zeitgenössische Publikum mehrheitlich keine Kenntnis davon hatte; zudem sollte ja gerade die Fremdheit der orthodoxen Sphäre herausgekehrt werden. Die Verwendung solcher Pseudo-Exotik entsprach der Stummfilmmusikpraxis.

Hörbeispiel im Internet:Al Jolson, "Kol Nidre"

Jack wird vor allem durch seine Lieder und auch durch die Verwendung ihrer Melodien als rein instrumentale Hintergrundmusik gekennzeichnet. Seine innige Beziehung und Liebe zur Mutter wird über den Anfang von Mother of Mine charakterisiert. Dieser bildet somit eine Art Leitmotiv, das in Abhängigkeit von der Situation in variierter Form (z. B. in Moll) auftaucht. Die Bedeutung erschloss sich dem zeitgenössischen Kinogänger jedoch erst im Nachhinein, da das Motiv bereits sechsmal in der Hintergrundmusik erklungen ist, bevor Jack es in der Generalprobe singt und der Songtext den engen Bezug zur Filmhandlung und zur Mutterliebe verdeutlicht. Auch seine Mutter erhält ein eigenes, mehrfach in ihrem Zusammenhang verwendetes Leitmotiv: Es handelt sich um ein Thema aus Piotr Tschaikowskys Sérenade mélancholique, eingeleitet bei ihrem erstmaligen Erscheinen von der häufig weiblichen Personen zugeordneten Oboe und begleitet von einem Zwischentitel, der sie als liebevolle Mutter charakterisiert. Darüber hinaus enthält Silvers' Musikzusammenstellung ausgiebig Kinothekenmaterial: Hierzu gehört neben spezieller Kinogebrauchsmusik wie Molto agitato von Domenico Savino für bewegte, erregte Szenen auch klassisch-romantisches Repertoire wie Ausschnitte aus Tschaikowskys Romeo und Julia, ein typisches Musikstück für Dramatik.

Als jüdische Immigranten waren die Besitzer von Warner Brothers Pictures, die vier Brüder Jack, Samuel, Harry und Albert Warner (gebürtig Wonskolaser), an den Schwierigkeiten interessiert, auf die jüdische Einwanderer in der Unterhaltungsindustrie trafen. Juden als Entertainer, das stellte wiederum für jüdische Gemeinden ein Problem dar und spaltete die über 4,2 Mio. Juden in den USA (1927). In Hinblick auf den angestrebten gesamtamerikanischen und europäischen Vertrieb und unter Berücksichtigung antisemitischer Tendenzen und der Tatsache, dass die Einwanderungsproblematik vor allem im ländlichen Bereich eher unbekannt war, verpackten sie das Thema jedoch in eine eher unspezifische rührselige Geschichte einer osteuropäischen Einwandererfamilie. Bezeichnenderweise wurde insbesondere der Schluss der Novellenvorlage abgeändert: Versöhnung mit dem Vater und dessen Vertretung als Kantor sind nur ein kurzes Intermezzo in Jacks Karriere in der Unterhaltungsindustrie. Denn auch als Jazzsänger kann er für seinen Gott singen, wie die auf einem Zwischentitel wiedergegebene Aussage Marys behauptet. Jazz erscheint als "moderner Nachfahre der aus der alten Welt stammenden liturgischen Musik und das Showbusiness als neue Religion" (C. Henzel), zugleich wird jüdisches Brauchtum säkularisiert und popularisiert.

"Tonfilm ist Kitsch! Tonfilm ist Einseitigkeit! Tonfilm ist wirtschaftlicher und geistiger Mord!"

The Jazz Singer trug maßgeblich dazu bei, das eigentlich gar nicht so neue Medium Tonfilm auf dem Markt zu etablieren. Die Begeisterung des Publikums für sprechende Protagonisten auf der Leinwand veranlasste Warner Brothers, schon ein Jahr später The Singing Fool als weiteren "Part-Talkie" mit Al Jolson in der Hauptrolle herauszubringen. Dieser Film war trotz vielfältiger berechtigter ästhetischer Kritik, auch an Jolsons schauspielerischen Leistungen, ein noch größerer Kassenerfolg als The Jazz Singer. Der Anteil an "Talkie"-Szenen belief sich im Jazz Singer auf 20 Prozent, in Singing Fool war er doppelt so hoch. Der erste sogenannte All-Talkie, Lights of New York, folgte bereits im gleichen Jahr, ebenfalls produziert von Warner Brothers. Auch andere Studios erwarben nun Vitaphone-System-Lizenzen, um Tonfilme herausbringen zu können. Erst Ende der 1920er Jahre konnte sich das Lichtton-Verfahren durchsetzen, was wiederum eine technische Umstellung zahlreicher Kinos nach sich zog und letztlich den Stummfilm innerhalb weniger Jahre komplett verdrängte, trotz keineswegs einhelliger Begeisterung für den Tonfilm bei Kritik und Filmschaffenden.

Durch diese Umstellung gingen viele kleine Kinos in Konkurs und wurden zahlreiche Kinomusiker arbeitslos. So berichtete die Deutsche Instrumentenbauzeitung 1929 über die beunruhigende Situation in den USA: "Das Strandorchester am Broadway hat sein großes Sinfonieorchester auf 14 Mann reduziert. Die neueren Häuser, wie das Capitol, Roxy und Paramount, haben ihre großen Orchester behalten; aber dort ist die Musik einer der Hauptanziehungspunkte für das große Publikum, das sich sonst denselben Film später in einem Nachbartheater ansehen würde. In den kleinen Städten hat sich die Einführung des Tonfilms katastrophaler ausgewirkt. In den kleinen Kinos wird die Begleitmusik von einem aus vier bis sechs Mann bestehenden Orchester ausgeführt. In manchen von diesen hat die Aufführung eines Tonfilms zur Entlassung aller Musiker geführt." Die vielerorts erhobenen Proteste erbrachten einen nur kurzfristigen Aufschub; die Entwicklung war nicht aufzuhalten.

Auswirkungen früher Tontechnik auf Klangästhetik und Einbindung von Ton

Die Vitaphone-Kamera, mit der der Tonfilm "The Jazz Singer" aufgezeichnet wurde, musste von einer schalldichten Kabine umgeben sein, weil sonst das Surren der Kamera mit aufgenommen worden wäre. (© picture-alliance, United Archives/WHA)

Grund für die Umstellung von der Nadeltontechnik (z. B. Vitaphone) auf Lichtton-Verfahren war weniger die klangliche Qualität als die Störanfälligkeit. Nicht nur gab es die schon angesprochenen Synchronisationsprobleme bei Filmprojektorstörungen, sondern die verwendete 40 cm große Schellackplatte hatte auch den Nachteil, dass sie eine maximale Speicherlänge von nur zehn Minuten besaß und nach nur 20- bis 25-maligem Gebrauch zu stark abgenutzt war, um noch abgespielt werden zu können. Zudem gab die Abspieldauer der Platte die narrative Struktur des Films vor, denn Gesangseinlagen und Dialoge mussten sich in diese einpassen. Üblich war deshalb eine Einteilung in zehnminütige Akte, an deren Ende auf einen anderen Projektor mit angekoppeltem Grammophon überblendet wurde. Obendrein war nur die Aufzeichnung von aktuell ertönenden Klängen (Direktton) möglich, weshalb sich Tonquellen (Orchester, Synchronsprecher oder sänger und Schallerzeuger jeder Art) sichtbar oder bewusst verborgen im selben Raum wie die agierenden Personen befinden mussten.

Bei den frühen Tonfilmen war nur ein relativ statischer Kameraeinsatz möglich, denn die Kameras mussten wegen ihrer Eigengeräusche in klobige, schalldämmende Kabinen verbannt werden. Überdies schränkten Mikrofone, die an bestimmten Stellen des Raumes angebracht waren, die Schauspieler in ihrer Bewegungsfreiheit ein. Da das Tonband noch nicht erfunden war, gab es weder die Möglichkeit der Nachsynchronisation noch des Tonschnitts. Der geplante Bildschnitt musste deshalb schon vor der Aufnahme genau festgelegt werden. Üblich war aus diesem Grund das Drehen mit mehreren Kameras oder das Playbackverfahren.

Eine schalldämmende Ummantelung der Kameras und die Befestigung der Mikrofone an Angeln hoben bei späteren Tonfilmen die Einschränkung der Beweglichkeit von Kamera und Figuren auf. Daher konnten die visuellen Errungenschaften des Stummfilms wieder stärker genutzt werden. Dies ermöglichte zusätzlich die Trennung von Bild- und Tonaufnahme bzw. die Nachsynchronisation.

Im Jazz Singer finden sich in Ansätzen bereits alle wesentlichen Tonpraktiken des klassischen Hollywoodfilms der 1930er und 1940er Jahre, wobei die beiden erstgenannten vor allem im frühen Tonfilm zum Einsatz kamen: (1) selektiver Gebrauch von gesprochener Sprache und Geräuschen; Schaffen einer Tonperspektive durch Erhöhen der Lautstärke des aus der Synagoge herübertönenden, von Jack gesungenen Kol Nidre beim Öffnen des Fensters im Sterbezimmer seines Vaters; (2) Begleitmusik in sinfonischem Tonsatz mit streicherbetontem Klangbild; (3) Mickey Mousing, d. h. exaktes Anpassen von Hintergrundmusik an Bewegungen, z. B. bei Tanzeinlagen der Broadway Show; (4) Leitmotive insbesondere für Al Jolson und seine Filmmutter; (5) Klangbrücken (sound bridges) zum Verknüpfen verschiedener Erzählebenen wie die Rückblende zur Visualisierung von Jacks Erinnerung an seinen Vater beim Konzert des durch Phonograph-Aufnahmen und Vaudeville-Auftritte bekannten Kantors Josef (Yossele) Rosenblatt, der sich selbst spielt; (6) Verschleierung des Stellenwerts der Hintergrundmusik in der filmischen Realität, da teilweise nicht eindeutig zu erkennen ist, ob es sich um einen Bestandteil der Erzählwelt (Diegese) oder einen extern hinzugefügten Fremdton handelt; (7) Verwendung von Onscreen- und Offscreen-Tönen, also von Tönen, die asynchron zum Bild gesetzt sind bzw. deren Quelle außerhalb des Bildes zu verorten ist.

The Jazz Singer, so Silke Martin, "etablierte also nicht nur den Tonfilm bzw. die Synchronisierung von Bild und Ton, sondern auch die Asynchronie von Akustischem und Visuellem." Asynchrone Töne stören nicht die Fiktion, sondern unterstützen die Narration sogar und erweitern das Bild. Sie können die Filmerzählung interessant gestalten, indem sie das Bild nicht einfach verdoppeln, sondern hörbar machen, was nicht sichtbar ist, womit weitere emotionale, kognitive, räumliche und zeitliche Ebenen erschlossen werden. Leider fokussiert sich die fachliche Diskussion häufig einzig auf den Stellenwert von Musik bei der Bildung eines sogenannten dramaturgischen Kontrapunkts, was einen eher selten anzutreffenden Spezialfall von Asynchronie darstellt und der sehr einflussreichen Monografie Theodor W. Adornos und Hanns Eislers zur Komposition von Filmmusik geschuldet ist.

Zwar handelt es sich bei The Jazz Singer weder um den ersten Tonfilm, noch geht es um einen Jazzsänger im heutigen Verständnis, auch verbirgt sich hinter dem Jazzsänger kein echter Afroamerikaner, sondern ein jüdischer Entertainer in Maske, dessen Herkunft aus Osteuropa nur mit pseudoexotischer Musik angedeutet wird. Dennoch liegt hier ein filmhistorisch wichtiges Dokument vor, das gerade durch einerseits neue technische Möglichkeiten und Unzulänglichkeiten, andererseits die Weiterführung von Stummfilmtraditionen eine Initialzündung für die Verwendung von Ton im Film liefern konnte.

Quellen / Literatur

Claudia Bullerjahn: Musik zum Stummfilm: Von den ersten Anfängen einer Kinomusik zu heutigen Versuchen der Stummfilmillustration, in: Josef Kloppenburg (Hrsg.): Filmmusik. Geschichte – Ästhetik – Funktionalität, Laaber 2012, S. 23 – 83 

Robert L. Carringer: The Jazz Singer, Madison, WI 1979 

Deutsche Instrumentenbauzeitung 3 (1929) 97 

Michael Freedland: You ain’t heard nothin’ yet: How one sentence uttered by Al Jolson changed the movie industry, in: The Independent, 28.9.2007 

Krin Gabbard: Jammin’ at the Margins. Jazz and the American Cinema, Chicago / London 1996 

Steven J. Gold: From "The Jazz Singer" to "What a Country!" A Comparison of Jewish Migration to the United States, 1880 – 1930 and 1965 – 1998, in: Journal of American Ethnic History 18 (1999) 3, S. 114 – 141 

Eric A. Goldman: The Jazz Singer and its Reaction in the Yiddish Cinema, in: Sylvia Paskin (Hrsg.): When Joseph met Molly. A Reader on Yiddish Film, Nottingham 1999, S. 39 – 48 

Douglas Gomery: The Coming of Sound. A History, New York / London 2005 

Lisa Gotto: "Trans / formieren". Zum Verhältnis von Bild und Ton in "The Jazz Singer" (Alan Crosland, USA 1927), in: Jazzforschung / Jazz Research 41 (2009), S. 119 – 133 

Christoph Henzel:"A Jazz Singer – singing to his God". The Jazz Singer (1927): Musik im "ersten Tonfilm", in: Archiv für Musikwissenschaft 63 (2006) 1, S. 47 – 62 

Harald Jossé: Die Entstehung des Tonfilms. Beitrag zu einer faktenorientierten Mediengeschichtsschreibung, Freiburg / München 1984 

Jeffrey Knapp: "Sacred Songs Popular Prices": Secularization in The Jazz Singer, in: Critical Inquiry 34 (2008) 2, S. 313 – 335 

Silke Martin: Überlegungen zur hybriden Form des vermeintlich ersten Tonfilms The Jazz Singer (USA 1927), in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung 3 (2009), Externer Link: www.filmmusik.uni-kiel.de/artikel/KB3-Martinarc.pdf

Michael Rogin: Blackface, White Noise. The Jewish Jazz Singer Finds His Voice, in: Critical Inquiry 18 (1992) 3, S. 417 – 453

Fussnoten

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Claudia Bullerjahn für bpb.de

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Claudia Bullerjahn, Dr., Professorin für Systematische Musikwissenschaft und Musikkulturen der Gegenwart am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Justus-Liebig-Universität Gießen.