Praxis: "Richte keinen Schaden an, ganz einfach"
Podiumsdiskussion: Berichten über Katastrophen
Der Amoklauf eines Schülers im Baden-Württembergischen Winnenden im Jahr 2009 erschüttert die Region. Während die Berichterstattung in den Medien und das Verhalten der angereisten Journalisten in die Kritik gerät, entscheiden sich die Journalisten der Lokalredaktion für einen anderen Weg, über den Fall zu berichten. Mit der Ethik im Journalismus befasste sich 2011 eine Podiumsdiskussion beim Forum Lokaljournalismus in Waiblingen. Welche Lehren müssen die Medien aus der Berichterstattung über den Amoklauf von Winnenden ziehen? Was lief falsch, was richtig? Wie können Zeitungen ihrer ethischen Verantwortung gerecht werden?
Es ist ganz einfach, im Grunde sind sich darüber alle auf dem Podium einig. Wie ein Berichterstatter sich im Angesicht einer schrecklichen Katastrophe zu verhalten hat, lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen, und um ihn zu begreifen, reicht der gesunde Menschenverstand: "First do no harm", sagt Bruce Shapiro vom Dart Center for Journalism and Trauma – keinen weiteren Schaden anzurichten bei den Betroffenen, das sei die erste Leitlinie.
Wer über Entsetzliches wie einen Amoklauf, eine Naturkatastrophe, einen Verkehrsunfall berichtet, muss sich in jedem Augenblick der Verantwortung gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen bewusst sein. Sie sehen sich vollkommen unvorbereitet in eine Situation hineingeworfen, aus der es keinen Ausweg gibt – in solch einer Lage "ruht eine erhöhte Verantwortung auf den Schultern des Journalisten", sagt Gisela Mayer, deren Tochter Nina am 11. März erschossen wurde. Alles Weitere ergibt sich daraus – die psychologische Nachsorge hat in Winnenden in einer viel beachteten Handreichung für Journalisten die naheliegenden Regeln durchdekliniert: Trauernde nicht bedrängen; keine Minderjährigen befragen; Schulen und Wohnhäuser nicht belagern. Oder mit den Worten von Frank Nipkau, Redaktionsleiter beim Zeitungsverlag Waiblingen: die "Jagd auf Opfer- Fotos und Opfer-Geschichten" nicht mitmachen, nicht zwei Stunden nach der Tat bei den schockstarren Eltern klingeln: Haben Sie Bilder von Ihrer Tochter? Hatte sie einen Freund? Der Zeitungsverlag Waiblingen hat auf blutige Einzelheiten der Tat verzichtet – und "es gab keinen Leser, der gesagt hat, da hat uns was gefehlt". Man kann sich der Hatz nach den grellsten Details also entziehen – und nimmt gerade dadurch keinen Schaden: Lokaljournalisten sind keine routinierten Katastrophenprofis, die von irgendwoher anreisen, eine Geschichte raushauen und wieder verschwinden; Lokaljournalisten sind auch keine "Bild"-Reporter, von denen man nun mal weiß, dass Behutsamkeit, Zurückhaltung, Respekt nicht Teil des Geschäftsmodells sind; Lokaljournalisten müssen auch am Tag, in der Woche, im Jahr nach dem Geschehnis den Menschen in ihrer Heimat in die Augen schauen können. Wenn sie ihrer Verantwortung gerecht werden, gewinnen sie den Respekt der Leser. Das ist eine "ermutigende Botschaft" für jede Lokalredaktion, sagt Nipkau. So weit ist den Podiumsbeiträgen nicht im Geringsten zu widersprechen. Am spannendsten sind aber womöglich zwei Beiträge, die über diesen Common Sense hinaus Problemhorizonte aufreißen.
"Gründlichkeit statt Schnelligkeit"

Weiterführende Links
Die Berichterstattung über den Amoklauf hat die Zeitung in einem eigenen Bereich gebündelthttp://www.zvw.de/amoklauf-winnenden
Das Aktionsbündnis setzt sich gegen Gewalt an Schulen ein
www.aktionsbuendnis-amoklaufwinnenden.de/
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der Dokumentation des Forum Lokaljournalismus 2011