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Journalismus im Umbruch Wikimedia, Bürgerjournalismus und 'Open News'

Axel Bruns

/ 11 Minuten zu lesen

Indem sie Informationen zusammenstellt, sortiert und aktualisiert, betreibt die Wikipedia eine Form der Nachrichtenkuration. Besonders daran ist aber nicht allein, dass nicht Journalisten die Inhalte produzieren, sondern dass ein Kollektiv aus "Produtzern" dahintersteht: Der Nutzer wird zum Produzenten.

Schon auf dem Weg zum 'Produtzer'? Heutzutage produzieren nicht mehr nur Journalisten Bilder und Schlagzeilen. (© picture-alliance/AP, Ted S. Warren)

Es ist eine etwas Externer Link: eigenwillige Umsetzung des Märchens von den drei kleinen Schweinchen, die uns die renommierte englische Zeitung The Guardian da präsentiert: in ihrem Werbeclip wird der Kampf der Schweine gegen den bösen Wolf, der ihre Häuser niederzupusten sucht, in die heutige Zeit übersetzt. Das Märchen wird zu einem politischen Skandal um das Selbstverteidigungsrecht von Hausbesitzern, der von den Medien reichhaltig kommentiert und ganz besonders von Nichtjournalisten – über Internetmedien wie Blogs, Facebook, und Twitter – intensiv diskutiert wird. Die Moral der Story: Es gibt keinen Skandal, keine Kontroverse, kein Politikum, das heute nur noch unter Ausschluss der weiteren Öffentlichkeit von journalistischer Berichterstattung alleine abgedeckt würde. Und: der Guardian – so sagt er jedenfalls – hat die Zeichen der Zeit erkannt, und setzt ganz dezidiert auf Bürgerjournalismus und 'Open News‘.

Die 'Open News‘-Idee selbst ist nicht gerade neu: ihre Wurzeln reichen mindestens bis in die Anfänge der 'Web 2.0‘-Ära. Um ihre alternative Berichterstattung vom Gipfel der World Trade Organisation in Seattle im Jahre 1999 zu unterstützen, entwickelten Aktivisten die erste Indymedia-Plattform: eine Webseite, die es allen Teilnehmern ermöglichte, direkt und ohne redaktionelle Eingriffe über Alternativveranstaltungen, Proteste und eventuelle Polizeiaktionen zu berichten. Über die folgenden Jahre entstanden nach diesem ersten Muster mehr als 300 Independent Media Center in der ganzen Welt: örtliche Aktivistengruppen, die sich für ihre öffentliche Kommunikation derselben Webplattform bedienten und sich als Indymedia-Netzwerk zusammenschlossen. Heutzutage – nachdem sich Blogs, Wikis und Social Media als Teile der Medienlandschaft etabliert haben – sind derlei Plattformen nicht mehr sonderlich ungewöhnlich; Ende der 90er Jahre allerdings waren sie noch geradezu revolutionär.

Von Produktion zu Produtzung

Von Indymedia bis ‚Open News‘ und weit darüber hinaus: Hinter diesen Entwicklungen steht ein sehr viel grundlegenderer Wandel in unserem Umgang mit Informationen, der letztlich eng mit der wachsenden Rolle des Internets als gesellschaftliches Basismedium zusammenhängt – ein Wandel, den man mit einiger Berechtigung durchaus als Übergang vom industriellen ins informationelle Zeitalter ansehen darf. Die traditionellen Massenmedien waren (und sind vielfach immer noch) industriell organisiert: Die Produktion und Verbreitung von Inhalten benötigt technische Hilfsmittel und spezialisiertes Personal und kann daher nur von entsprechend ausgerüsteten Verlagen und Sendern unternommen werden. Im Internet gelten diese Regeln dagegen nur noch sehr begrenzt: sind die Plattformen erst einmal verfügbar, ist das Erstellen und Verbreiten von Inhalten eine Aktivität, an der auch ganz normale Nutzer erfolgreich teilnehmen können. Die Trennlinien zwischen Nutzern und Produzenten von Inhalten verblassen, und es entwickelt sich ein Hybrid: ein ‚productive user‘ bzw. produktiver Nutzer, den ich alsExterner Link: produser bezeichnet habe – auf Deutsch ‚Produtzer‘, und wenn das ein wenig nach ‚Revoluzzer‘ klingt, ist das schon ganz richtig.

Das klassische, bekannteste Beispiel für solche Produtzung ist natürlich die – laut dem Online-Ranking von Alexa.com, welches globale Nutzer und Nutzung erfasst – sechstwichtigste Webseite der Welt: Die komplett auf Produtzung basierende Enzyklopädie Wikipedia Externer Link: http://de.wikipedia.org/. An sich sollte Wikipedia gar nicht funktionieren dürfen: Eine offene Informationsplattform mit einer großen Zahl von Teilnehmern, die – trotz gelegentlicher Kontroversen – letztlich doch nur recht lose koordiniert sind, ist aus Sicht traditioneller Enzyklopädisten ein Unding. Und dennoch ist sie erfolgreich. Nicht nur, was ihre Publikumsakzeptanz angeht, sondern auch im Hinblick auf die Qualität ihrer Inhalte, die denen konventioneller Nachschlagewerke zumeist in nichts nachstehen. Darüber hinaus bleibt Wikipedia in der Breite ihres Inhalts unerreicht. Selbst eher obskure Themen, von abgelegeneren Nebenschauplätzen der Weltgeschichte bis hin zu eher unbekannten Akteuren der deutschen Musikszene, werden hier von interessierten Teilnehmern liebevoll dokumentiert. Industriell produzierte Enzyklopädien würden solche Einträge wohl schon allein aus Kostengründen ausklammern.

Unverständlicherweise nutzen einige Wikipedia-Skeptiker diese Bandbreite als Argument für ihre Kritik. Die Logik solcher Angriffe scheint dabei zu sein, dass die Arbeit, die zum Beispiel in den Eintrag für die Krautrockband Wallenstein geflossen sei, nun für die Weiterentwicklung des Eintrags über Albrecht von Wallenstein fehle. Derlei Nullsummenlogik ist allerdings leicht zu widerlegen – und ihr gegenüber steht der Fakt, dass viele Wikipedia-Einträge Themen abdecken, die so noch nie in eine Enzyklopädie einbezogen worden sind: Die Mission, menschliches Wissen in all seinen Formen möglichst komplett abzudecken, erfüllt Wikipedia also deutlich besser als konventionelle Nachschlagewerke. Nicht zuletzt sollte in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, dass Wikipedia in weit mehr Sprachen verfügbar ist, als dies für konventionelle Enzyklopädien der Fall war. Wie Externer Link: Thomas Petzold gezeigt hat, stellen z.B. die beiden Wikipedia-Versionen in Obersorbisch und Niedersorbisch für diese Sprachfamilie aus der Lausitz die ersten enzyklopädischen Aktivitäten überhaupt dar, in 1.500 Jahren Sprachgeschichte.

Diese Breite und Tiefe der Inhalte auf Wikipedia wird erst durch ihre Produtzungspraktiken ermöglicht. Konventionelle Inhaltsproduktion baut auf die Arbeit einer kompakten Gruppe professioneller Mitarbeiter, die meist hierarchisch organisiert ist; Produtzung dagegen ist – getreu dem Wikipedia-Slogan ‚anyone can edit‘ – offen für alle. Mögliche Beiträge zur Wikipedia reichen von kleinsten Korrekturen bis hin zur Erstellung komplett neuer Artikel, können jederzeit beigesteuert werden, und sind dann sofort für alle Nutzer sichtbar; die (berechtigte) Hoffnung ist dann, dass zumindest ein Teil dieser Nutzer auch wieder selbst produktiv tätig wird uns so den Schritt zum Produtzer macht. Es entwickelt sich dadurch ein kontinuierlicher, öffentlicher und transparenter Verbesserungsprozess, der sich deutlich von den oft eher langsamen Updates (etwa durch jährliche Neuauflagen) traditioneller Enzyklopädien unterscheidet. Zusätzlich entsteht dabei auch eine Wikipedia-Community um bestimmte Einträge oder Themenbereiche, an deren Spitze die aktivsten und wertvollsten Teilnehmer stehen, ohne dass diese dabei jedoch eine wirkliche Kontrolle über die weitere Entwicklung dieser Inhalte erlangen. Produtzung hat viele Köpfe und ist bestenfalls heterarchisch, nicht hierarchisch angelegt.

Die Einbeziehung einer breiten Nutzerbasis als potentielle Produtzer wirkt sich letztlich ganz besonders mit Hinblick auf aktuelle Themen deutlich positiv aus. Wikipedia ist mehr als nur eine Enzyklopädie: in ihrer Zusammenfassung aktueller Themen werden Wikipedia-Teilnehmer durchaus journalistisch tätig – mit dem Unterschied, dass ihre Recherchen nicht in Form einer Reihe von Artikeln zum Thema veröffentlicht werden, wie das auf einer Nachrichtenplattform der Fall wäre, sondern dass sie in die kontinuierlichen Updates der thematisch relevanten Wikipedia-Einträge einfließen. Im Falle solcher Themen können diese Einträge daher oft als hochaktuelles Hintergrunddossier verstanden werden – und Standardpraktiken wie die neutrale Abwägung verschiedener Perspektiven und das Verweisen auf relevante Informationsquellen, wie sie bei Wikipedia die Regel sind, sind in diesem Zusammenhang ganz besonders nützlich. Was hier stattfindet, lässt sich als Nachrichtenkuration bezeichnen: auch wenn sie nicht selbst journalistisch aktiv werden, so leisten die Teilnehmer doch einen wertvollen Beitrag zur Auswertung und Organisation der neuankommenden Berichte und Kommentare zum Thema. Im Wikinews-Projekt der Wikimedia Foundation wird dieser Gedanke noch zugespitzt. 2004 als Experiment gestartet, folgt es ähnlichen Regeln und dem Grundsatz, dass jeder mitschreiben kann. Im Schreibstil und Ansatz aber unterscheidet es sich; In Wikinews geht es noch stärker um die Aktualität, und der Schreibstil ist deutlich stärker an journalistischen Vorbildern angelehnt. Allerdings ist dies auch ein klarer Grund dafür, daß diesem Projekt besonders international auch deutlich weniger Erfolg beschieden ist: aktuelle journalistische Reportage benötigt eben doch andere Fähigkeiten als das Zusammentragen und Bewerten bereits verfügbarer Materialien im Rahmen eines Themendossiers, und die Anlehnung von Wikinews an konventionelle Nachrichtenzyklen bewirkt durch die Notwendigkeit, immer neue Artikel zum selben Thema verfassen zu müssen, statt das eine Dossier kontinuierlich weiterzubearbeiten, erhebliche Mehrarbeit für Wikinews-Teilnehmer. Letztlich findet sich die detailliertere, oft auch aktuellere Sammlung an Informationen zu nachrichtenrelevanten Themen daher meist bei Wikipedia, nicht bei Wikinews.

Produtzung, Bürgerbeteiligung und Journalismus

Jedoch bleibt Wikipedia nur ein Beispiel für Produtzungsprozesse, und ganz besonders im journalistischen Kontext gibt es nun eine Vielzahl von etablierten Plattformen, die eine größere Bürgerbeteiligung möglich machen. Die Standardplattform ist hier oft ganz einfach das Blog, mit dem interessierte Einzelpersonen oder Gruppen die Entwicklung zu für sie interessanten Themen verfolgen, aktuelle Informationen aus den Medien und anderen Quellen zusammentragen und kommentieren, und sich mit anderen Bloggern und über Kommentarfunktionen auch mit ihren Lesern austauschen. Anspruchsvollere Formen von Bürgerjournalismus investieren stattdessen in leistungsfähigere Content Management Systeme, und versuchen sich mitunter in originärer Berichterstattung von ihnen zugänglichen Schauplätzen, folgen ansonsten aber ähnlichen Mustern. Dabei ist das weitere Feld des Bürgerjournalismus in Deutschland sogar vergleichsweise unterentwickelt; dies hängt unter anderem vermutlich mit der relativ diversen (Mainstream-) Medienlandschaft, der Leitrolle öffentlich-rechtlicher Nachrichtenangebote und der finanziell noch erstaunlich stabilen Position der Tageszeitungen zusammen. Die Lücken in der Bandbreite an Berichterstattung, Analyse und Kommentar, die Bürgerjournalisten zumeist zu füllen versuchen, sind in Deutschland wegen seiner vergleichsweise gut entwickelten Medienvielfalt gemeinhin weniger offen und offensichtlich, als das in vielen anderen Ländern der Fall ist. In den USA zum Beispiel, wo ein scheinbar unaufhaltsames Zeitungssterben begonnen hat, wo der öffentlich-rechtliche Sender PBS bestenfalls eine Nischenrolle spielt, und wo besonders in den Jahren nach dem 11. September kritische Stimmen in dem Massenmedien nur sehr vereinzelt hörbar waren, haben sich Bürgerjournalismusangebote als Reaktion auf diese Probleme im Mediensystem deutlich schneller etabliert. Gleiches gilt zum Beispiel auch für Australien, wo um die 70 Prozent aller Tageszeitungen von Rupert Murdochs Konzern News Ltd. herausgegeben werden.

Auch wenn die deutschen Massenmedien noch vergleichsweise gut in der Lage sind, ihre demokratische Rolle als Informationsquellen und -generatoren für die Bevölkerung zu erfüllen, so zeichnet sich dennoch auch hier ein längerfristiger Trend zur größeren Bürgerbeteiligung an journalistischen Prozessen ab. Wie anderswo auch beginnt dies ganz besonders in Bereichen, in denen Verbesserungsbedarf bereits von einer Vielzahl an Mediennutzern angesprochen worden ist: so hat es sich beispielsweise das Bildblog http://www.bildblog.de/ nun schon seit Jahren zum Ziel gesetzt, die größte deutsche Boulevardzeitung kritisch zu beleuchten, und scheint dabei auch durchaus die eine oder andere Korrektur von Falschinformationen zu erreichen. Obwohl oft von reinen Hobbyisten betrieben, können derlei einzelne Blogs durchaus einigen Einfluss erringen, wenn sie längerfristig aktiv und konsistent arbeiten; teilweise wird es dabei sogar möglich, sich als Teil der Medienlandschaft zu etablieren. (Politik-Blogger in den USA wurden im Präsidentschaftswahlkampf 2004 zum ersten Mal als offizielle Berichterstatter bei der Democratic National Convention akkreditiert.)

Auf ganz andere Art wurden Bürgerrechercheure dagegen tätig, als die ersten Plagiatsverdachte gegen den damaligen Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg aufkamen: In ihremExterner Link: GuttenPlag-Wiki veröffentlichten sie kurzerhand ein Exemplar der verdächtigten Dissertation und luden ihre Teilnehmer ein, Plagiatsfälle zu dokumentieren. Schlussendlich dokumentierte die Community in ihrem Wiki plagiierte Textstellen auf fast 95 Prozent aller Seiten in der Dissertation und wurde für ihre Arbeit mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet; Guttenberg selbst trat zurück. Auch hier werden einige Vorzüge des kollaborativen Produtzungsansatzes deutlich: besonders die arbeitsaufwendige Plagiatssuche selbst wäre innerhalb des journalistischen Tagesbetriebs nur schwer durchführbar gewesen.

Gerade mit Blick auf derlei kollaborative Arbeit innerhalb einer großen Gruppe freiwilliger Mitarbeiter wird dabei auch einiges an Potential für beiderseitig konstruktive Zusammenarbeit zwischen professionellen und Bürgerjournalisten sichtbar – und es ist natürlich genau diese Öffnung von Berichterstattungsprozessen für Teilnehmer außerhalb der Nachrichtenorganisation selbst, auf die der ‚Open News‘-Spot des Guardians mit seinen drei kleinen Schweinchen anspielt. Die Zeitung selbst (bzw. ihre mittlerweile deutlich wichtigere Onlineplattform) hat dabei schon einige Erfahrung in diesem Bereich. Zu Zeiten des Spesenskandals im britischen Parlament veröffentlichte sie eine komplette Sammlung der von Parlamentariern eingereichten Spesenabrechnungen – insgesamt mehr als 450.000 Seiten – und lud ihre Leser dazu ein, diese auf der Externer Link: MPs‘ Expenses-Plattform durchzuarbeiten und verdächtige Ausgaben zu kommentieren. Mehr als 30.000 Nutzer arbeiteten sich am Ende durch etwa die Hälfte aller Dokumente und fanden einiges an zweifelhaften Abrechnungen. ‚Open News‘ ist die logische Fortsetzung und Generalisierung dieses Experiments. Hier soll die Zusammenarbeit zwischen professionellen und Bürgerjournalisten zum Normalfall werden.

Eine der größten deutschen Erfolgsstorys bei der Verbindung von Bürgerjournalismuscommunitys und normalem redaktionellen Betrieb dagegen ist leider auch eine der am wenigsten bekannten – vielleicht, weil es sich hier nicht primär um ‚harten‘ Hauptstadtjournalismus dreht: schon seit über fünf Jahren hat sich die aus Augsburg stammende, inzwischen deutschlandweite Plattform Externer Link: myHeimat ganz besonders in ländlichen Regionen als Nachrichtenquelle zum Mitmachen etabliert. Dabei haben sich insbesondere einige interessante Verbindungen zu (professionellen) Regionalzeitungen ergeben: diese drucken nun mitunter jede Woche einige der besten von Teilnehmern verfassten Stories ab oder geben teilweise sogar farbige Monatsmagazine auf Dorf- oder Stadtteilebene heraus. Derlei (hyper-) lokaler Journalismus schafft eine starke Leserbindung, ist aber traditionell übermäßig arbeitsintensiv; die größere Bürgerbeteiligung, die myHeimat möglich macht, ist daher einerseits ökonomisch interessant, erschließt andererseits aber auch neue öffentliche Räume für eine Diskussion eng begrenzter lokaler Themen, die der Community in dieser Form nirgendwo anders zur Verfügung standen.

Neue Öffentlichkeiten?

Zusätzlich zu den praxis- und themenspezifischen neuen öffentlichen Räumen, wie sie zum Beispiel auf myHeimat, GuttenPlag oder Wikipedia entstanden sind, müssen schließlich noch die breiter angelegten neuen Öffentlichkeiten erwähnt werden, die auf Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter entstehen. Traditionell mag man die Massenmedien selbst als einen öffentlichen Raum verstehen, in dem aktuelle politische Diskussionen vor einem Massenpublikum, jedoch weitgehend ohne dessen unmittelbare Beteiligung durchgespielt werden; in einer sich verändernden, Internetbasierten Medienwelt jedoch vermischen sich Massen- und soziale Medien, Inhaltsproduktion und Inhaltsprodutzung so weit, dass ein neuer öffentlicher Raum entsteht, in dem diese Akteure sehr viel direkter miteinander in Kontakt und Kommunikation kommen.

Andererseits ist dieser Raum auch weit weniger universell, als dies noch zur Hochzeit der Massenmedien der Fall war: stattdessen existiert nun eine Vielzahl von miteinander mehr oder weniger stark verwobenen Teilöffentlichkeiten, konzentriert um bestimmte gemeinsame Praktiken, Plattformen und thematische Interessen. Auch wenn die These von einer fortschreitenden gesellschaftlichen Fragmentierung in diesem nachmassenmedialen Zeitalter mittlerweile weitgehend widerlegt ist: Die universelle Verbreitung wichtiger Informationen an die Gesamtbevölkerung ist in diesem komplexen Mediensystem doch durchaus problematischer, als dies in der deutlich überschaubareren Medienlandschaft vor einigen Jahrzehnten der Fall war – und dies muss sich letztendlich auch auf demokratische Prozesse auswirken. Die derzeitige, eher unüberschaubare Gemengelage (die in Deutschland noch sehr viel weniger volatil ist, als das zum Beispiel in den USA der Fall ist) kann dabei durchaus als Versuchslabor für die weitere Entwicklung angesehen werden. Unter den einstigen neuen Angeboten im Web haben sich Google, Wikipedia, und Facebook mittlerweile eindeutig als Erfolgsstorys des Internetzeitalters etabliert (auch wenn der Niedergang von MySpace oder StudiVZ zeigt, dass solche Erfolge äußerst kurzlebig sein können). Experimente wie die ‚Open News‘-Initiative des Guardian versuchen, solche auf Produtzung und Bürgerbeteiligung basierenden Ansätze speziell im Journalismus umzusetzen. Neue politische Bewegungen, von der amerikanischen Tea Party über die internationale Occupy-Bewegung bis zu den europäischen Piratenparteien, stellen äußerst unterschiedliche Auswirkungen des Internetaktivismus auf den politischen Tagesbetrieb dar. Sie entwickeln so unter anderem eigene Tools für die Online-Kommunikation und Abstimmung wie das Konzept Liquid Democracy, das die digitalen Möglichkeiten nutzt, um Elemente repräsentativer und direkter Demokratie zu verbinden.

Es liegt in der Natur der Sache, dass das Endergebnis solcher Entwicklungen noch nicht abzusehen ist. In der Tat ist es nicht einmal sicher, ob sich schon recht bald wieder ein stabiles Gleichgewicht einstellen wird oder ob wir eine Phase längerfristiger Instabilität durchmachen werden. Eines jedoch scheint sicher: Die erweiterte Bürgerbeteiligung an journalistischen und politischen Aktivitäten, die über das letzte Jahrzehnt sichtbar geworden ist, wird kaum noch zurückzufahren sein. Ob sie unsere demokratischen Strukturen grundlegend verändern wird, bleibt abzuwarten – auch hier sind aufgrund der unterschiedlichen Ausgangssituationen jedoch international durchaus divergierende Entwicklungen wahrscheinlich.

Fussnoten

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Dr. Axel Bruns ist Associate Professor an der Queensland University of Technology in Brisbane, Australien, und Chief Investigator im ARC Centre of Excellence for Creative Industries and Innovation. Er ist Autor von ”Blogs, Wikipedia, Second Life and Beyond: From Production to Produsage” (2008) und ”Gatewatching: Collaborative Online News Production” (2005). Mehr zu seiner Arbeit findet sich auf Externer Link: snurb.info/.