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Die Wikipedisierung des Journalismus Journalistische Recherche und Wissensvorsprung im Netz

Julia Neubarth Christoph Neuberger

/ 10 Minuten zu lesen

Die Wikipedia als Wissensquelle hat viele Vorteile: sie ist schnell, kostenfrei und international frei zugänglich – und so wird sie auch von Journalisten als Recherchequelle verwendet. Büßt der Journalismus damit seinen Wissensvorsprung ein?

Verlieren Journalisten durch das Netz ihren Informationsvorsprung? - Blick in den Newsroom der DAPD (© picture-alliance/dpa)

Das Internet macht es einfach, an Informationen zu gelangen. Suchmaschinen liefern in Sekundenschnelle zu jedem beliebigen Thema eine Fülle an Treffern: kostenfrei und bequem abrufbar. Doch die Herkunft der Informationen und die Glaubwürdigkeit der Quellen bleibt oft unklar. Der User muss selbst entscheiden, wie relevant die Antworten sind und welche Qualität sie besitzen. In den alten Medien haben Redaktionen diese Aufgabe übernommen. Im Internet tritt neben das Prinzip "Profession" bei der Qualitätssicherung nun auch das Prinzip "Partizipation": Können die Internetbürger gemeinsam gesichertes Wissen schaffen? Die Online-Enzyklopädie Wikipedia will dafür den Beweis antreten. Die breite Nutzung der Wikipedia spricht dafür, dass es ihr in den Augen vieler User auch gelingt. Selbst Journalisten bedienen sich der neuen Wissensquelle im Netz. Allerdings werden an die professionellen "Gatekeeper" besonders hohe Ansprüche gestellt – werden sie ihnen gerecht oder handeln sie fahrlässig, wenn sie ihr Wissen aus der Wikipedia und anderen Internetangeboten beziehen?

Wie Journalisten im Internet recherchieren

Längst ist die Recherche im Internet in den Redaktionen aller Medien ein gängiger Weg geworden, um an Informationen zu gelangen. Dass sich die Netzrecherche im Journalismus etabliert hat, belegten beispielsweiseExterner Link: Leipziger Forscher. Ihre Befragung aus dem Jahr 2007 zeigt, dass besonders Internetjournalisten eine hohe Affinität zum eigenen Medium besitzen. Zum gleichen Befund kam 2005 die repräsentative Befragung "Journalismus in Deutschland". Danach investierten Journalisten durchschnittlich 66 Minuten pro Tag für die Online-Recherche – von insgesamt 117 Minuten, die ihnen für die Recherche zur Verfügung standen. Mehr als die Hälfte der Recherchezeit fand also bereits online statt. Seither hat der Anteil sicher noch zugenommen – neuere Forschungsergebnisse liegen allerdings nicht vor.

Wo suchen die Journalisten? In erster Linie läuft die journalistische Internetrecherche über Suchmaschinen ab, ergab die Leipziger Studie. Google ist hier das wichtigste Recherchemittel. Daneben sind auch die Ableger traditioneller Massenmedien selbst wie Spiegel Online bedeutsame Anlaufstellen. Social Media erweitern seit einigen Jahren das Spektrum der Recherchequellen, wie Befragungen von Redaktionsleitern an der Universität Münster belegen: Sowohl in Nachrichtenredaktionen von Presse und Rundfunk (93 Teilnehmer, entspricht 43 Prozent aller Redaktionen) als auch in Internetredaktionen (183, 44 Prozent) war in den Jahren 2006/07 die Nutzung von Weblogs zurückhaltend war, während die Wikipedia in fast allen Redaktionen Verwendung fand. Drei Viertel der befragten Internetredaktionen nutzten die Wikipedia sogar "häufig", während dies bei den Print- und Rundfunk-Nachrichtenredaktionen immerhin noch für zwei Drittel galt. Besonders verbreitet war die Wikipedia-Nutzung in den Online-Abteilungen von Zeitungen und Zeitschriften.

Großes Zutrauen in die Wikipedia

Wonach suchen die Journalisten in der Wikipedia? Sowohl in den Nachrichtenredaktionen der alten Medien als auch in den Internetredaktionen diente die Wikipedia in erster Linie als Nachschlagewerk für Hintergrundwissen. Auch die Orientierung über Internetquellen wurde oft als Ziel angegeben. Im Unterschied dazu lasen Journalisten Weblogs vor allem, um neue Themen aufzuspüren und Fakten über ein aktuelles Ereignis zu sammeln. Mehr als die Hälfte der Internetredaktionen gab außerdem an, die Wikipedia häufig für die Gegenprüfung von Informationen zu nutzen – dies zeugt von einem großen Vertrauen der Redakteure. Und in der Tat: Die befragten Redaktionsleiter stellten der Enzyklopädie ein erstaunlich gutes Zeugnis aus. 83 Prozent der Leiter von Internetredaktionen sagten, dass die Informationen der Wikipedia "meistens" zuverlässig seien. Zwölf Prozent hielten sie sogar "(fast) immer" für richtig. Auch die Redaktionsleiter der Nachrichtenredaktionen von Presse und Rundfunk schätzten die Informationen in 76 Prozent der Fälle als "meistens" zuverlässig ein. Ein weiteres Fünftel (21 Prozent) sagte, sie seien "fast immer" zuverlässig. Eine grundsätzliche positive Bewertung der Wikipedia vermag zu erklären, weshalb auch Qualitätszeitungen auf sie zurückgreifen, wie eine Studie aus den USA zeigt. In Deutschland verweist Spiegel Online in seinem Themenarchiv durch eine Kooperation mit der Wikimedia auch auf die passenden Wikipedia-Einträge.

Das große Vertrauen der Journalisten erstaunt umso mehr, als es bereits eine Reihe von Fällen gab, in denen falsche Informationen aus der Wikipedia in die journalistische Berichterstattung gelangt sind. Ein Beispiel: Der 22-jährige britische College-Student Shane Fitzgerald wollte beweisen, dass es ein Leichtes ist, Journalisten mittels Wikipedia zu manipulieren. Zu diesem Zweck veränderte er die Biografie des französischen Filmmusik-Komponisten Maurice Jarre unmittelbar nach dessen Tod und dichtete dem Verstorbenen ein falsches Zitat an. Das Zitat erschien daraufhin in den Nachrufen verschiedener britischer Zeitungen, allen voran im Guardian. Die Fehlinformation wurde erst als solche erkannt, als sich der Student öffentlich zu Wort meldete und auf seine Manipulation hinwies.

Verlorener Wissensvorsprung

Die von der Universität Münster 2006/2007 befragten Redaktionsleiter waren fast ausnahmslos der Auffassung, dass das Internet die Qualität der Berichterstattung positiv beeinflusst. Gerade im Fall der Wikipedia kann diese Einschätzung aber nicht unwidersprochen bleiben. Der Journalismus büßt seinen Wissensvorsprung ein, wenn er sich in einer Enzyklopädie bedient, die jedem User offen steht. Die 2001 gegründete Wikipedia zählt seit Jahren zu den erfolgreichsten Internetangeboten, belegt die Nutzungsstatistik von Alexa [http://www.alexa.com/topsites]: Im April 2012 stand die Wikipedia auf Platz 6 der "Top Sites", und zwar sowohl weltweit als auch in Deutschland. Damit ließ sie Websites wie Spiegel Online, Bild.de und Twitter hinter sich. Nach einer Externer Link: Forsa-Befragung im Januar 2011 ist für rund ein Viertel der Internetnutzer (24 Prozent) die Wikipedia der erste Anlaufpunkt für Recherchen im Netz . Bei Männern (28 Prozent) ist der Anteil höher als bei Frauen (19 Prozent).

Aber auch bei den Usern, die sie nicht als erste Adresse für das Nachschlagen im Netz nutzen, ist die Wikipedia überaus präsent. Die repräsentative Externer Link: ARD/ZDF-Onlinestudie zeigt einen starken Anstieg der Nutzung über die letzten Jahre in Deutschland: Die zumindest gelegentliche Nutzung der Enzyklopädie stieg von 47 Prozent (2007) auf 70 Prozent (2011). Etwas mehr als ein Drittel der deutschsprachigen Internetnutzer über 14 Jahren nutzten die Wikipedia sogar mindestens einmal in der Woche. Besonders beliebt ist die Wikipedia bei jüngeren Internetnutzern: Unter den 14- bis 29-Jährigen besuchen sie sogar 89 Prozent. Für 97 Prozent aller Wikipedia-Nutzer dient die Website nur der Informationsbeschaffung – der winzige Rest ist es schließlich, der auch schreibt und die Artikel redigiert.

Es ist das Wissen einer Minderheit, nicht die "Weisheit der Vielen", die auf der Wikipedia anzutreffen ist – was nicht von Nachteil sein muss, solange sich die Experten motivieren lassen, ihr Wissen weiterzugeben.

Schleichende Wikipedisierung

Die Wikipedisierung der journalistischen Recherche muss wohl vor allem als ein Symptom für die Arbeitsverdichtung und Kostenkürzung in vielen Redaktionen gewertet werden. Man spart Zeit und Geld, wenn man sich mit der Wikipedia begnügt. Im Verhältnis zur umfangreichen Nutzung in den Redaktionen wird aber selten auf die Wikipedia als Quelle verwiesen – auch wenn 83 Prozent der Leiter von Internetredaktionen der Auffassung sind, dass eine Quellenangabe im Fall der Wikipedia notwendig ist. Auch wenn es darüber keine Studien gibt: Allgemein dürfte die Neigung vorherrschen, Wikipedia als Quelle zu unterschlagen. So wie Schulaufgaben und Hausarbeiten oft nicht zu erkennen geben, wie stark sie von der Enzyklopädie profitieren, so ist auch im Journalismus ein großer versteckter Einfluss der Wikipedia zu vermuten. Umso peinlicher für den Ruf recherchierender Journalisten ist es dann, wenn fehlerhafte Übernahmen die unterschlagene Quelle offensichtlich machen:

Dem damals neu ernannten Wirtschaftsminister Karl-Theodor von und zu Guttenberg wurde 2009 in seinem Wikipedia-Eintrag von einem anonymen Autor mit "Wilhelm" ein zusätzlicher Vorname angedichtet. Der falsche Vorname wanderte daraufhin von Spiegel Online quer durch die deutsche Medienlandschaft und entlarvte die Bedeutung der Wikipedia für die journalistische Recherche und ihren bedenkenlosen Gebrauch. Im Fall des Journalismus ist blindes Vertrauen in die Wikipedia im Verbund mit Intransparenz besonders problematisch: Ohne dass es den Lesern bewusst wird, verbreiten so die reichweitenstarken Massenmedien Presse und Rundfunk die Wikipedia-Inhalte.

Partizipation statt Profession

Die Wikipedia ist ganz ohne Frage eine Verlockung – für Journalisten genauso wie für andere Nutzer: Wie praktisch wäre es, einen riesigen Wissenspool im Internet zu haben, in den man bequem und bedenkenlos greifen kann? Und tatsächlich hat die Wikipedia viele Vorteile gegenüber anderen Quellen: Sie ist aktuell, schnell, international, billig und leicht zugänglich. Via Smartphone kann sie von jedem Ort der Welt mit Internetempfang angezapft werden. Aber kann man der Wikipedia wirklich einfach so vertrauen?

Das Prinzip, nach dem sie funktioniert, stellt den Journalismus auf den Kopf: Jeder kann Artikel anlegen, korrigieren und ergänzen – nicht nur jene, die sich qua Beruf dafür qualifiziert haben. Und: Erst wird veröffentlicht und dann geprüft – und nicht umgekehrt, wie es in Nachrichten- oder Lexikonredaktionen bisher üblich war.

Diese Offenheit ist zugleich Stärke und Schwäche der Wikipedia. Ein Ergebnis sind die erheblichen Qualitätsschwankungen, worauf die Externer Link: Wikipedia selbst aufmerksam macht: "[W]hile some articles are of the highest quality of scholarship, others are admittedly complete rubbish."

Um die Qualität zu verbessern, werden Kontrollaufgaben an einzelne Mitglieder delegiert. So können Administratoren Einträge löschen und Autoren verbannen. Voraussetzung für diese Form der Qualitätssicherung ist aber, dass die falschen Informationen jeweils auch tatsächlich entdeckt werden. Außerdem wird durch diese Rollenverteilung das Prinzip des "Open Knowledge" in Frage gestellt. Es kommt durchaus vor, dass Administratoren ihre Machtposition ausspielen. Und immer wieder kommt es auch zu sogenannten "Edit wars" zwischen Autoren.

Wissenschaftlicher Qualitätsvergleich

Die Qualität von Wikipedia-Artikeln war in der Vergangenheit auch immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Studien. Für besonderes Aufsehen sorgte die Externer Link: Veröffentlichung von Jim Giles in der renommierten Fachzeitschrift "Nature" vom 15. Dezember 2005. Zu einer Auswahl von hauptsächlich naturwissenschaftlichen Begriffen legte er jeweils die anonymisierten Einträge in der Wikipedia und der Onlineversion der Encyclopaedia Britannica unabhängigen Gutachtern vor. Die Studie zeigte hinsichtlich verschiedener Arten von Ungenauigkeiten zwischen den beiden Enzyklopädien keine großen Unterschiede. Nur in Bezug auf den Sprachstil fiel die Wikipedia gegenüber der herkömmlichen Enzyklopädie deutlich ab. Die Studie wurde nach Erscheinen kontrovers diskutiert, weil das offene Wikipedia-Prinzip dem herkömmlichen Redaktionsprinzip keineswegs unterlegen war. Aber auchExterner Link: andere wissenschaftliche Untersuchungen konnten die Befürchtungen der Wikipedia-Kritiker in Bezug auf die Qualität nicht bestätigen.

Meistens richtig, aber nicht immer

Im Großen und Ganzen scheint die Wikipedia also gut zu funktionieren – aber eben nicht immer: In der Vergangenheit kam es zu Fällen von Vandalismus, zu ideologischen Missionierungsversuchen, Verleumdungen oder Irrtümern. Für großes Aufsehen sorgte 2005 der "Seigenthaler-Skandal": Der renommierte amerikanische Journalist Externer Link: John Seigenthaler Sr. wurde in seiner Wikipedia-Biografie der Beteiligung an der Ermordung der Kennedy-Brüder beschuldigt. Als Folge dieses Skandals wurde mit fixen Versionen der Artikel, die nicht mehr ohne Genehmigung geändert werden dürfen, ein weiterer Kontrollmechanismus bei Wikipedia eingeführt.

Andere Irrtümer, die der Glaubwürdigkeit der Wikipedia schadeten, waren falsche Todesnachrichten. Diverse Prominente wie Senator Edward Kennedy oder die Schauspielerin Miley Cyrus wurden in der Wikipedia schon zu Lebzeiten für tot erklärt, einschließlich einer ausführlichen Schilderung ihres jeweiligen Ablebens. Auch hinsichtlich des Renommees der Autoren gab es schon peinliche Enthüllungen: Eine amerikanische Zeitung fand heraus, dass sich hinter einem Autor, der sich als Professor für Theologie ausgab, ein 24-jähriger Schulabbrecher verbarg. Mit Hilfe des Programms Wiki-Scanner wurde außerdem ermittelt, dass sich manche Änderung eines Artikels bis zu Scientology, Politikern und Unternehmen zurückverfolgt werden, die Wikipedia zu PR- oder Propagandazwecken missbrauchten.

Wikipedia als Nachrichtenangebot?

Ist die Wikipedia nicht nur eine Konkurrenz für Brockhaus & Co., sondern auch für den Journalismus selbst? Kann die Wikipedia auch mit dem Tagesgeschehen Schritt halten? Es gibt eine Reihe von Beispielen, die belegen, dass zumindest in Einzelfällen Nachrichtenereignisse schnell und profund in der Wikipedia aufbereitet wurden – so geschehen beim Tod des Popstars Michael Jackson: Nach dem Bekanntwerden des Todes wurde der Eintrag im Minutentakt ergänzt und verändert. Grundsätzlich sprechen aber die langwierigen Aushandlungsprozesse und das sperrige Textformat dagegen, dass die Wikipedia tatsächlich mit dem Journalismus mithalten kann: Während in Nachrichten das Wichtigste und Neueste am Anfang steht, sind Wikipedia-Artikel sachlich gegliedert. Oft steht das Aktuelle erst ganz am Ende. Bei kontroversen Themen kann sich das Entstehen eines Beitrags enorm verzögern. Der britische Medienforscher Gavin Stewart zeigte das am Beispiel des Ossetien-Krieges: Kurz nach Beginn der Gefechte zwischen Georgiern und Russen im Sommer 2008 forderte ein Wikipedia-Autor, für diese Auseinandersetzung einen eigenständigen Beitrag zum Ossetien-Krieg. Doch nachdem er angelegt war, begann ein Ringen unter den Autoren um die Deutungsmacht: Wie ist der Krieg zu interpretieren, welche Ereignisse sollten in den Vordergrund gestellt werden, und wer hat angefangen? Auch der Versuch, mit Externer Link: Wikinews die aktuelle Berichterstattung in ein separates Projekt auszulagern, läuft eher schleppend.

Satirische Darstellung des Zusammenhangs zwischen Journalismus und Wikipedia. (© Wikimedia)

Nicht nur Journalisten informieren sich in der Wikipedia, sondern auch Wikipedia-Autoren in den Medien. Dieses Vorgehen birgt das Risiko eines zirkulären Zitierens – wie im bereits geschilderten Fall Guttenberg: Als der zusätzliche Vorname eingefügt worden war, wollten einige skeptische Wikipedia-Autoren einen Quellennachweis sehen. Als Referenz gab der Autor einfach den Spiegel Online-Artikel an, dessen Autor wiederum zuvor bei ihm abgeschrieben hatte. Die Kommunikationswissenschaftler Thomas Roessing und Nicole Podschuweit untersuchten dieses Phänomen in einer Studie zum Bundestagswahlkampf 2009. Sie verglichen die Berichterstattung verschiedener Leitmedien mit den wahlkampfrelevanten Wikipedia-Einträgen, zum Beispiel zu den Kanzlerkandidaten und den Parteien, um so das wechselseitige Einflussverhältnis beurteilen zu können. Ihre Studie ergab, dass derartige Zitationszyklen nur äußerst selten vorkommen.

Richtiger Umgang

Die Wikipedia ist heute aus den Redaktionen nicht mehr wegzudenken. Nicht immer werden Journalisten den Anforderungen im Umgang mit der Wikipedia gerecht. Dennoch scheint es sich bei den Verstößen eher um Einzelfälle zu handeln. Oft mag auch der zeitliche und ökonomische Druck, der auf den Redaktionen lastet, ein Übriges zu schlechter Recherche oder fehlender Gegenprüfung von Fakten beitragen. Dennoch sollte nicht ein Verzicht auf Wikipedia die Devise sein, sondern eine realistische Einschätzung der Chancen und Risiken der Internet-Enzyklopädie und ein reflektierter Umgang mit ihr. Grundsätzlich sollten Journalisten die Schwächen des Onlineangebots im Hinterkopf behalten. Es empfiehlt sich etwa, jeweils in der öffentlich zugänglichen Historie der einzelnen Artikel zu recherchieren. Dort ist oft erkennbar, welche Fakten umstritten sind, die noch einmal geprüft werden sollten. Die Wikipedisierung des Journalismus ist also nicht nur auf der Schadenseite zu verbuchen.

Quellen / Literatur

  • Busemann, Katrin/Gscheidle, Christoph (2011): Web 2.0: Aktive Mitwirkung verbleibt auf niedrigem Niveau. Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2011. In: Media Perspektiven, H. 7-8, S. 360-369.

  • Machill, Marcel/Beiler, Markus/Zenker, Martin (2008): Journalistische Recherche im Internet. Bestandsaufnahme journalistischer Arbeitsweisen in Zeitungen, Hörfunk, Fernsehen und Online. Unter Mitarbeit von Johannes R. Gerstner. Berlin: Vistas.

  • Messner, Marcus/South, Jeff (2011): Legitimizing Wikipedia. How US national newspapers frame and use the online encyclopedia in their coverage. In: Journalism Practice. 5. Jg., H. 2, S. 145-160.

  • Neuberger, Christoph/Nuernbergk, Christian/Rischke, Melanie (Hrsg.) (2009): Journalismus im Internet. Profession – Partizipation – Technisierung. Wiesbaden: VS.

  • Roessing, Thomas/Podschuweit, Nicole (2011): Wikipedia im Wahlkampf: Politiker, Journalisten und engagierte Wahlkämpfer. In: Schweitzer, Eva Johanna/Albrecht, Steffen (Hrsg.): Das Internet im Wahlkampf. Analysen zur Bundestagswahl 2009. Wiesbaden: VS, S. 297-314.

  • Stewart, Gavin (2011): 'I Can't believe a war started and Wikipedia sleeps': Making News with an Online Encyclopedia.' In: Charles, Alec/Stewart, Gavin (Hrsg.): The End of Journalism. News in the Twenty-First Century. Oxford u.a.: Peter Lang, S. 139-158.

  • Weischenberg, Siegfried/Malik, Maja/Scholl, Armin (2006): Die Souffleure der Mediengesellschaft. Report über die Journalisten in Deutschland. Konstanz: UVK.

Fussnoten

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-SA 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Julia Neubarth, Christoph Neuberger für bpb.de

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Julia Neubarth, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Dort forscht sie im Rahmen ihrer Dissertation zu dem räumlichen Bezug von Weblogs (Arbeitstitel: ”Transnationale Öffentlichkeit oder nationale Isolation im Internet? Eine Netzwerk- und Inhaltsanalyse länderspezifischer Blogosphären.”)

Prof. Dr. Christoph Neuberger ist Professor für Medienwandel am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Zu seinen Schwerpunkten gehören Journalismus- und Internetforschung. Von 2006 bis 2008 leitete er das DFG-Forschungsprojekt ”Vermittlungsakteure, -strukturen und -leistungen der aktuellen Internetöffentlichkeit”. Daraus entstand 2009 das Buch Journalismus im Internet. Profession – Partizipation - Technisierung.