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Einbürgerung als Alternative zum Ausländerwahlrecht? | Wahlrecht und politische Partizipation von Migranten in Europa | bpb.de

Wahlrecht und Partizipation von Migranten Einleitung Politische Rechte und Kommunalwahlrecht Wahlrecht für Drittstaatsangehörige Einbürgerung Aktuelle Entwicklungen Schlussbemerkungen Literatur

Einbürgerung als Alternative zum Ausländerwahlrecht?

Kees Groenendijk

/ 8 Minuten zu lesen

Während mobile Unionsbürger in allen EU-Mitgliedstaaten an kommunalen Wahlen teilnehmen dürfen, haben Drittstaatsangehörige dieses Recht nur in 15 von 28 EU-Mitgliedstaaten. In einigen Ländern wird argumentiert, dass anstelle der Ausweitung des kommunalen Wahlrechts auch auf Nicht-EU-Ausländer lieber die Einbürgerung beworben werden sollte.

Offizielle Feier zum "Einbügerungstag" mit Königin Beatrix 2006. In den 1990er Jahren wurde in den Niederlanden das Einbürgerungsrecht liberalisiert und auch die doppelte Staatsangehörigkeit gestattet. (© picture-alliance/dpa)

In einigen europäischen Ländern (z.B. Deutschland, Belgien und den Niederlanden) ist die Debatte über die Einführung des Kommunalwahlrechts für ausländische Staatsangehörige (insbesondere aus Drittstaaten) mit derjenigen über die Einbürgerung verknüpft. In seinem Urteil aus dem Jahr 1990 wies das deutsche Bundesverfassungsgericht explizit darauf hin, dass die Regierung den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vereinfachen solle, anstatt Ausländern das kommunale Wahlrecht zuzusprechen. Das Staatsangehörigkeitsgesetz, das 2000 in Kraft trat, kann als verspätete Realisierung dieses Vorschlags verstanden werden: Es führte das ius soli-Prinzip (Geburtsortsprinzip) für den Staatsangehörigkeitserwerb von in Deutschland geborenen Kindern niedergelassener Zuwanderer ein und erlaubte in einigen Fällen die doppelte Staatsangehörigkeit (z.B. für EU-Staatsangehörige). Das Wiederaufleben der Debatte um die Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts um das Jahr 2008 steht auch mit dem geringen Effekt der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und den darin verankerten Bestimmungen für den Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Migranten der ersten Generation in Verbindung. Die Zahl der Einbürgerungen ist nach und nach von 190.000 im Jahr 2000 auf 95.000 im Jahr 2008 gesunken. Dies mag teilweise an der Anhebung der Gebühren für die Einbürgerung einerseits und andererseits auch an der Einführung einheitlicher formalisierter Sprach- und Einbürgerungstests liegen.

In Belgien und den Niederlanden wurden ähnliche Kompromisse zwischen dem Staatsangehörigkeitsgesetz und dem Wahlrecht getroffen. Nachdem Belgien 2001 seine Einbürgerungsgesetzgebung liberalisiert hatte, verstummte die Debatte über das kommunale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige. In den Niederlanden erzielte in den frühen 1990er Jahren die Koalition aus Sozialdemokraten (PvdA) und Christdemokraten (CDA) einen politischen Kompromiss. Sie beschloss, die Einbürgerungsregeln zu liberalisieren, was auch die Akzeptanz der doppelten Staatsangehörigkeit bedeutete, anstatt ausländischen Staatsangehörigen die Teilnahme an Wahlen auf Provinz- und nationaler Ebene zu ermöglichen - eine Politik, die die Sozialdemokraten befürworteten, die aber von den Christdemokraten entschieden abgelehnt wurde.

Was sind die Effekte des Ausländerwahlrechts?

Machen Ausländer tatsächlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch?


Empirische Daten zur Zahl der ausländischen oder zugewanderten Wahlberechtigten, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, gibt es auf der Basis von Wählerbefragungen für einige Städte in den EU-Mitgliedstaaten Dänemark, Finnland, den Niederlanden und Schweden. Daten zur Zahl der im Wählerverzeichnis eingetragenen ausländischen Wähler sind für drei weitere Länder verfügbar (Belgien, Irland, Luxemburg). Diesen Daten zufolge weisen ausländische Wähler bei Kommunalwahlen im Allgemeinen eine niedrigere Wahlbeteiligung auf als Staatsangehörige des jeweiligen Landes. Die niedrigere Wahlbeteiligung ist jedoch nicht zwingend ein Ausdruck geringeren Interesses oder unterschiedlicher politischer Traditionen. Es kann sein, dass es sich einfach um das Ergebnis bürokratischer Hürden wie strengen Voraussetzungen für eine Registrierung im Wählerverzeichnis handelt, die Zuwanderer davon abhalten, ihre Stimme abzugeben.

Die Wahlbeteiligung schwankt im Zeitverlauf, zwischen Städten und zwischen Zuwanderergruppen. Zeitweise liegt die Wahlbeteiligung bestimmter Zuwanderergruppen verhältnismäßig höher als die der Gesamtbevölkerung. Zum Beispiel haben türkische Zuwanderer in Dänemark und den Niederlanden im Allgemeinen eine höhere Wahlbeteiligung als andere Zuwanderergruppen. Es scheint, als beeinflussten die lokalen Rahmenbedingungen die Wahlbeteiligung und das Abstimmungsverhalten von ausländischen Wählern. Eine große Zahl an Zuwanderern hat von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. In den relevanten Ländern suchen Parteien aus dem gesamten politischen Spektrum Kandidaten aus Zuwanderergruppen, um Stimmen aus dieser Bevölkerung zu gewinnen. Die Zahl der Stadträte mit Migrationshintergrund oder mit ausländischer Staatsangehörigkeit hat im Laufe der Zeit deutlich zugenommen. In Dänemark ist die Zahl der Stadträte mit Drittstaatsherkunft von drei im Jahr 1981 auf 51 in 2001 gestiegen. In Luxemburg waren 189 (6 Prozent) der Kandidaten bei den Wahlen 2005 ausländische Staatsangehörige; 14 davon wurden gewählt. Mehr als 300 nicht-niederländische Stadträte wurden 2006 bei den niederländischen Kommunalwahlen gewählt, darunter 157 türkischer und 66 marokkanischer Herkunft. In Schweden hatten 2002 sieben Prozent der Mitglieder der Kommunalparlamente einen Migrationshintergrund (Eingebürgerte oder ausländische Staatsangehörige) und damit doppelt so viele wie noch zehn Jahre zuvor. Selbst die offen zuwanderungsfeindlichen Parteien wie Geert Wilders Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit) in den Niederlanden stellen sicher, dass sie Kandidaten mit Zuwanderungsgeschichte aufstellen.

Wahlrecht und Integration


Ob die Gewährung des Wahlrechts Zuwanderern hilft, sich zu integrieren, hängt weitgehend davon ab, wie Integration definiert wird. Wenn Integration den Grad der Partizipation von Zuwanderern in den zentralen Institutionen der Aufnahmegesellschaft (u.a. auf dem Arbeitsmarkt, in Schulen sowie religiösen, militärischen oder politischen Einrichtungen) meint, dann fördert die Ausweitung des Wahlrechts auf Zuwanderer ihre Integration. Wenn aber Integration im normativen oder emotionalen Sinne definiert wird und die innere Einstellung von Zuwanderern wichtiger erscheint als ihr Verhalten, dann ist die entscheidende Frage: Sind die Zuwanderer uns ähnlicher geworden? Aus dieser Perspektive heraus könnten diejenigen, die ihre Stimme für Kandidaten aus der eigenen Zuwanderergruppe abgeben, als nicht ausreichend integriert betrachtet werden. Natürlich könnte dieses Abstimmungsverhalten umgekehrt auch als perfekter Ausdruck eines der grundlegenden Elemente von Demokratien verstanden werden: Jedes Individuum hat das Recht, denjenigen Kandidaten zu wählen, der seiner Meinung nach die Interessen der Wähler am besten versteht und vertritt.

Ergebnisse empirischer Forschung weisen darauf hin, dass das Recht zur Wahlteilnahme Zuwanderer auch motiviert, sich anderweitig politisch zu engagieren. Sie treten häufiger in politische Parteien, Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Organisationen ein als Zuwanderer ohne Wahlrecht.

Migrantenparteien


Die Angst, dass Zuwanderer ihre eigenen Parteien gründen könnten, hat sich als weitgehend unbegründet herausgestellt. In den Niederlanden nehmen zwar bei jeder Kommunalwahl einige Migrantenparteien oder –listen teil; ihnen gelingt es aber nur selten, genug Wählerstimmen für einen Sitz im Gemeinderat zu gewinnen. Bei den Kommunalwahlen 2014 erhielt eine von einem jungen marokkostämmigen Niederländer gegründete Partei zwei von 45 Sitzen im Stadtrat von Rotterdam. Der Chef dieser Partei war zuvor als Abgeordneter der Grünen Partei im Stadtparlament gewesen. Die meisten Politiker und Wähler mit Migrationshintergrund sehen ihren Weg zu politischer Macht offenbar durch die Mitgliedschaft in traditionellen Parteien oder die Wahl derselben. Irland ist hierfür ein gutes Beispiel. Vor den Wahlen 2004 starteten NGOs eine Kampagne, um Zuwanderer dazu zu ermutigen, sich ins Wählerverzeichnis eintragen zu lassen, mehrere Parteien stellten aus Drittstaaten Zugewanderte als Kandidaten auf und eine Gruppe von 60 Asylbewerbern gründete in ihrer Gemeinde einen örtlichen Zweig von Fianna Fáil, einer der größten etablierten politischen Parteien in Irland.

In den meisten Ländern stammen die Zuwanderer aus unterschiedlichen Herkunftsländern, sind Angehörige unterschiedlicher Religionen und sozialer Schichten. Diese Heterogenität mindert die Chancen von Migrantenparteien selbst in Ländern mit einem Verhältniswahlsystem. Länder mit einem Wahlsystem, das für kleinere Parteien unvorteilhafter ist - etwa weil der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt oder ein bestimmter Schwellenwert überschritten werden muss, um ins Parlament einzuziehen - stellen für Zuwanderer einen noch größeren Anreiz dar, bestehende Parteien zu wählen oder sich in ihnen zu engagieren. In solchen Systemen erhalten Migrantenparteien nur selten einen Sitz im Gemeinderat.

Einfluss ausländischer Regierungen


Die Regierungen der Herkunftsländer von Zuwanderern haben nur selten versucht, das Abstimmungsverhalten ihrer im Ausland lebenden Staatsangehörigen oder (ethnischen) Volkszugehörigen zu beeinflussen. Die Ausnahmen haben viel negative Presse erhalten, so wie beispielsweise 1986 der Versuch des marokkanischen Königs Hassan Einfluss auf in den Niederlanden lebende marokkanische Staatsangehörige zu nehmen. Der König riet ihnen, sich an der ersten Kommunalwahl in den Niederlanden, an der ausländische Staatsangehörige teilnehmen durften, nicht zu beteiligen ("Man kann nicht hinter zwei Flaggen gehen"). Es war darüber hinaus das erste Mal, dass eine große Zahl marokkanischer Staatsangehöriger in einem europäischen Land wählen durfte. Der Aufruf des Königs führte zu einer geringen Wahlbeteiligung unter den marokkanischen Wählern. In späteren Jahren änderte König Hassan dann seine Meinung und riet marokkanischen Migranten in Europa, ihre demokratischen Rechte zu nutzen.

Wahlrecht und Einbürgerung


Die Zahl der Einbürgerungen ist in keinem der EU-Staaten mit kommunalem Ausländerwahlrecht zurückgegangen. In den Niederlanden ist die Zahl der jährlichen Einbürgerungen in dem Jahrzehnt nach der Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts von 20.000 1986 auf 80.000 1996 gestiegen. Die Gewährung des Wahlrechts führt also nicht dazu, dass sich Zuwanderer gegen die Einbürgerung entscheiden. Vielmehr sind es Faktoren wie der Verlust oder die Pflicht zur Aufgabe der alten Staatsangehörigkeit, hohe Gebühren, schwierige Sprach- und Integrationstests, emotionale Bindungen an das Herkunftsland oder der Verlust von Eigentums- und Erbrechten in diesem Land, die gegen eine Einbürgerung sprechen. Zuwanderer wägen diese Hürden und Nachteile mit den Vorteilen einer Einbürgerung ab, wie visafreies Reisen, Freizügigkeit in der EU, volles Wahlrecht und Zugang zu Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst, die Staatsangehörigen vorbehalten sind.

In einer Studie aus den frühen 1990er Jahren über die Gründe für den Erwerb der niederländischen Staatsangehörigkeit gaben zwei Drittel der Befragten an, dass ein sicherer Rechtsstatus und das volle Wahlrecht in ihre Einbürgerungsentscheidung eingeflossen waren. Nur das visafreie Reisen wurde häufiger genannt. Das kommunale Wahlrecht erscheint also nicht als Barriere, sondern vielmehr als Anreiz für eine Einbürgerung.

Die politische Macht von Migranten wird sichtbar


Wähler mit Migrationshintergrund können den entscheidenden Ausschlag geben. Bei den niederländischen Kommunalwahlen im März 2006 gab eine große Zahl von Zuwanderern ihre Stimme ab um ihre Unzufriedenheit mit der zuwanderungsfeindlichen Politik der Mitte-rechts-Regierung zum Ausdruck zu bringen. Medienberichte und empirische Forschung zeigen, dass die sozialdemokratische Partei die Kommunalwahlen in Amsterdam und Rotterdam hauptsächlich aufgrund der Stimmen aus den Reihen der Wähler mit Migrationshintergrund (Eingebürgerte oder niedergelassene ausländische Staatsangehörige) gewann.

Die Bedeutung der Wähler mit Migrationshintergrund wurde auch im Januar 2008 bei den Wahlen im deutschen Bundesland Hessen deutlich. Der damalige hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) spielte in der finalen Wahlkampfphase mit Ressentiments gegenüber Zuwanderern. Seine Partei verlor 12 Prozent der Stimmen und die absolute Mehrheit und schlug die Sozialdemokraten (SPD) nur mit einem knappen Vorsprung von 3.500 Stimmen. Für dieses Ergebnis könnten die etwa 70.000 deutsch-türkischen Wähler in Hessen ausschlaggebend gewesen sein.

Sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland wurden sich die Vorsitzenden traditioneller Parteien bewusst, dass zuwanderungsfeindliche Programme zwar einige Wähler anziehen, dass die Bedeutung der Wähler mit Migrationshintergrund aber nicht unterschätzt werden darf. In den Niederlanden stellen Zuwanderer zwischen 10 und 15 Prozent der Wahlberechtigten; in den großen Städten mag ihr Anteil noch höher liegen. In den Fällen, in denen die großen Parteien etwa gleich stark sind, können die Stimmen der Wähler mit Migrationshintergrund den entscheidenden Ausschlag geben. Das Ergebnis der niederländischen Kommunalwahlen 2006 kann als Beweis dafür angesehen werden, dass die Einführung des Ausländerwahlrechts zur politischen Integration der Zuwanderer beigetragen hat. Für diejenigen, die der gesellschaftlichen Einbindung von Zuwanderern kritisch gegenüber stehen, mag diese Entwicklung ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigen.

Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers "Interner Link: Wahlrecht und politische Partizipation von Migranten in Europa".

Fussnoten

Fußnoten

  1. BVerfGE 83, 37 (Urteil v. 13. Okt.).

  2. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2010), S. 223.

  3. van Oers (2014), S. 237.

  4. Jacobs (1999), S. 649-663, Jacobs (2007).

  5. Dubajic (2007), S. 129-140.

  6. Soininen (2007).

  7. Giugni (2007).

  8. Éinrí (2007).

  9. van den Bedem (1993).

  10. Migration und Bevölkerung (Februar/März 2008), S. 2.

Lizenz

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Kees Groenendijk ist emeritierter Professor für Rechtssoziologie an der niederländischen Universität Nijmegen, Gründer und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Migrationsrecht der Universität sowie Vorsitzender des Ständigen Expertenausschusses für internationales Migrations-, Flüchtlings- und Strafrecht (Meijers Committee). Er ist Mitglied des Odysseus-Expertennetzwerks zu Europäischer Migration und Asylrecht.
E-Mail: E-Mail Link: cagroenendijk@hotmail.com