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Deutschland: Verwaltungs- und Infrastrukturkrise | Das Jahr 2015: Flucht und Flüchtlinge im Fokus – ein Rückblick | bpb.de

Das Jahr 2015: Ein Rückblick Fluchtmigration: Hintergründe Verwaltungs- und Infrastrukturkrise EU: Reaktionen auf die Fluchtzuwanderung Flüchtlingszahlen weltweit

Deutschland: Verwaltungs- und Infrastrukturkrise

Vera Hanewinkel

/ 7 Minuten zu lesen

Im Laufe des Jahres 2015 stieg die Zahl von Menschen, die Schutz vor Verfolgung, Krieg und Not suchen, nicht nur weltweit, sondern auch in einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, darunter auch Deutschland, stark an. In Deutschland entwickelte sich der starke Zuzug von Asylsuchenden ab Sommer 2015 zu einer Verwaltungs- und Infrastrukturkrise, die sich auf allen Ebenen – vom Bund, über die Länder bis zu den Kommunen – manifestiert.

Oktober 2015: Ein elektronische Anzeigetafel zeigt vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in Berlin die Nummern von Wartemarken an. Dort warten die Flüchtlinge auf ihre Registrierung, die Zuweisung eines Schlafplatzes und die Auszahlung sozialer Leistungen. (© picture-alliance/dpa)

Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge steigt die Zahl unbearbeiteter Asylanträge (355.914 waren es Externer Link: Ende November), die Asylverfahren ziehen sich in die Länge, da es nicht genügend Personal gibt, das über die Asylanträge entscheidet (sogenannte Entscheider). Die Bundespolizei kommt angesichts mehrerer tausend Menschen, die täglich die südliche Landgrenze passieren, um in Deutschland Asyl zu suchen, nicht mehr mit der Erfassung der Personalien und Fingerabdrücke nach. Das BAMF vermutete im September, dass sich rund 290.000 Menschen in Deutschland aufhielten, die noch nicht als Asylsuchende registriert seien. Bundesländer und Kommunen sehen sich mit der Unterbringung der Schutzsuchenden überfordert. Leer stehende Baumärkte und Sporthallen werden zu Notunterkünften, in denen sich Feldbett an Feldbett reiht. Die beengte Unterbringungssituation, fehlende Privatsphäre, die Strapazen der Flucht und mit Kriegserfahrungen verbundene seelische Verletzungen, das zermürbende Warten auf die Entscheidung über den Asylantrag und schlichtweg Langeweile aufgrund fehlender (sinnvoller) Beschäftigungsmöglichkeiten entladen sich gelegentlich in teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern. Berichte über Schlägereien in Flüchtlingsunterkünften führen bei einigen Deutschen dazu, dass sie ihre Sorge um einen Anstieg der Kriminalität durch Asylsuchende bestätigt sehen. Belegbar ist dies jedoch nicht. Die vom Bundesinnenministerium beim Bundeskriminalamt in Auftrag gegebene Lageübersicht "Kriminalität im Kontext von Zuwanderung" zeigt, dass Flüchtlinge "genauso wenig oder oft straffällig werden wie Vergleichsgruppen der hiesigen Bevölkerung."

"Wir schaffen das!?"

Ein Hinweisschild weist mit Symbolen vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in Berlin auf die Ausgabestelle für Bekleidung hin. Hier können Flüchtlinge sich registrieren lassen oder erste Unterstützungsleistungen erhalten. (© picture-alliance/dpa)

Trotz solcher Beschwichtigungen wird in der Bevölkerung Deutschlands zunehmend hitzig über die steigende Asylzuwanderung und ihre Folgen diskutiert. Das Thema polarisiert die Gesellschaft. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die sich für Geflüchtete einsetzen. Ehrenamtliche Helfer, die unermüdlich da einspringen, wo der Staat seinen Aufgaben nicht mehr gerecht wird; Helfer, ohne deren Arbeit die Flüchtlingsversorgung vermutlich schon längst zusammengebrochen wäre. Sie sammeln Kleiderspenden, bieten Deutschkurse an, stehen an Bahnhöfen, um die Ankommenden mit Essen zu versorgen. Sie setzen sich für ein humanes Deutschland ein, das seiner Verantwortung für die Flüchtlinge gerecht wird, sehen Deutschland in der Pflicht, "in Notsituationen ein freundliches Gesicht" zu zeigen, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) es bei einer Pressekonferenz im September ausdrückte. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die mit mehr oder weniger Gewalt gegen die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften demonstrieren, Brandsätze in Häuser von Flüchtlingsfamilien werfen, auf der Straße laut die Gefahr der "Islamisierung des Abendlandes" beschwören und "Lügenpresse" sowie "Deutschland den Deutschen" skandieren. Die Gewalt gegen Flüchtlinge steigt. Die Amadeu Antonio Stiftung, die zusammen mit Pro Asyl Übergriffe und Demonstrationen gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte dokumentiert, verzeichnete Mitte November bereits 444 Angriffe auf Unterkünfte (2014: 247), davon 99 Brandanschläge, 119 tätliche Übergriffe mit Körperverletzung (2014: 81) und 267 flüchtlingsfeindliche Kundgebungen. Dass sich die Stimmung in der Bevölkerung mit Blick auf die Asylzuwanderung im Laufe des Jahres verschlechterte, dokumentieren auch Meinungsumfragen wie der "DeutschlandTrend" der ARD. Parallel zum Aufkommen zunehmend warnender Stimmen aus den Reihen der Politik, gab im Oktober erstmals eine Mehrheit der Befragten an, dass ihnen die hohe Flüchtlingszuwanderung Angst mache. Noch Ende August hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf ihrer alljährlichen Sommerpressekonferenz betont, dass Deutschland die Flüchtlingszuwanderung und ihre Folgen meistern werde. "Wir schaffen das!", hatte sie in die Kameras gesagt. Dieser Kurs wurde jedoch schon kurz darauf zunehmend infrage gestellt und insbesondere von Politikern aus den eigenen Reihen, wie dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU), angegriffen. Der Ruf nach kürzeren Asylverfahren, vehementeren Abschiebungen und Obergrenzen für die Asylzuwanderung wurde immer lauter. Bereits am 24. Oktober trat das eilig verhandelte sogenannte "Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz" in Kraft, das auf einige dieser Forderungen reagiert.

Integration in den Blick nehmen

In Politik und Medien standen 2015 angesichts der hohen Asylzuwanderung vor allem Fragen nach Möglichkeiten der Begrenzung der Asylbewerberzahlen im Fokus der Aufmerksamkeit. Das wird auch an den gesetzlichen Maßnahmen und politischen Beschlüssen deutlich, die in der zweiten Jahreshälfte verabschiedet und gefasst wurden und mit denen viele der Erleichterungen und Rechte für Asylbewerber, die in den letzten Jahren erstritten worden waren, wieder zurückgenommen wurden. Auch die teilweise verheerende Unterbringungssituation war ein Thema; Länder und Kommunen verlangten erfolgreich eine höhere finanzielle Unterstützung vom Bund. Zukünftig zahlt der Bund in der Zeit von der Registrierung bis zum Ende des Asylverfahrens monatlich 670 Euro pro Asylbewerber.

Diesen Diskussionen gegenüber untergeordnet waren in Politik und Medien dagegen Debatten über die gesellschaftlichen Integrationsprozesse all derjenigen Asylbewerber, die als Flüchtlinge anerkannt werden und damit ein langfristiges Aufenthaltsrecht in Deutschland erhalten, auch wenn dieses Thema in der kommunalen Praxis, d.h. "vor Ort" – in Kindergärten, Schulen oder bei Arbeitgeberverbänden – schon längst angekommen ist und angegangen wird. Zentral sind dabei Fragen nach Möglichkeiten, den Neuankömmlingen gesellschaftliche Teilhabechancen zu eröffnen, sie sprachlich und beruflich (weiter) zu qualifizieren, ihnen Werte und rechtliche Grundlagen des Zusammenlebens in Deutschland zu vermitteln, den inter-religiösen Dialog zu fördern und als Gemeinschaft zusammenzuwachsen. Wie wollen und wie können wir zusammenleben? Antworten auf diese Frage werden in der Migrationsgesellschaft immer wieder neu Interner Link: ausgehandelt werden müssen.

Sichere Herkunftsstaaten

Das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz erweitert die Liste der "sicheren Herkunftsstaaten", auf die im Herbst 2014 bereits die Westbalkanstaaten Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina gesetzt worden waren, um Albanien, Kosovo und Montenegro. Die Anträge von Asylsuchenden aus "sicheren Herkunftsstaaten" können schneller bearbeitet werden, da von vornherein angenommen wird, dass in diesen Staaten "weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet" (GG Art. 16 a (3)). Flüchtlingshilfsorganisationen kritisieren, dass Asylverfahren von Menschen aus Ländern, die als "sicher" eingestuft werden, nicht ergebnisoffen seien, da von Anfang an vermutet werde, dass kein Verfolgungstatbestand bestehe, der die Vergabe eines humanitären Aufenthaltstitels rechtfertige. Damit müsste der Asylsuchende einen viel höheren Begründungs- und Beweisaufwand erbringen, um den Entscheider vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom Gegenteil zu überzeugen. Zudem wird kritisiert, dass die deutsche Definition der sicheren Herkunftsstaaten nur staatliche bzw. quasi-staatliche Verfolgung berücksichtigt. Das bedeutet, dass politische Verfolgung oder auch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von staatlicher Seite ausgehen muss. Damit wird Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure, vor denen der Staat seine Bürger nicht wirksam schützt, nicht berücksichtigt. Anhaltende und systematische Verletzungen sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Menschenrechte, wie sie etwa Roma in vielen Westbalkanstaaten erfahren, gelten in Deutschland demnach nicht als Gründe, um humanitären Schutz zu gewähren. Das Europarecht sieht das anders. Mehrfachdiskriminierungen, die dazu führen, dass Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, können aus europarechtlicher Sicht und auch aus Sicht des internationalen Flüchtlingsrechts durchaus als "Verfolgung" gelten, womit die Betroffenen ein Recht auf humanitären Schutz hätten. Genau diese Mehrfachdiskriminierungen (bzw. kumulativen Diskriminierungen), für die das deutsche Asylrecht im Fall von Menschen aus sogenannten "sicheren Herkunftsstaaten" also blind ist, werden von Menschenrechtsorganisationen für die Balkanstaaten aber in zahlreichen Berichten belegt.

Abbildung 4: Hauptherkunftsländer von Asylsuchenden in Deutschland 2015 (Januar bis November) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Ob die Einstufung als "sichere Herkunftsstaaten" wirklich zu nennenswerten Verkürzungen der Bearbeitungszeit von Asylanträgen führt, ist ebenfalls fraglich. Auf die Praxis des Asylverfahrens hat das Label des "sicheren Herkunftsstaates" kaum Einfluss, da dennoch jedem Asylbewerber eine persönliche Anhörung in Anwesenheit eines Entscheiders und eines Dolmetschers zusteht. Im Gesetzesentwurf der Bundesregierung "zur Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsstaaten und zur Erleichterung des Arbeitsmarktzugangs für Asylbewerber und geduldete Ausländer" heißt es, dass lediglich eine Zeitersparnis von zehn Minuten je Entscheidung über einen Asylantrag von Bürgern dieser Staaten erwartbar sei. Dass die durchschnittliche Bearbeitungszeit 2015 im Schnitt bei 3,4 Monaten und damit deutlich unter dem allgemeinen Durchschnitt von 5,4 Monaten lag, ist eher darauf zurückzuführen, dass Anträge von Menschen aus "sicheren Herkunftsstaaten" vorrangig bearbeitet werden. Zu einer weiteren Beschleunigung der Verfahren sollen sogenannte "Registrierungszentren" beitragen, auf deren Einrichtung sich die Parteivorsitzenden von SPD, CDU und CSU Anfang November verständigten, und in denen das Asylverfahren in Anlehnung an das mit dem "Asylkompromiss" 1993 eingeführte Flughafenverfahren innerhalb von einer Woche abgeschlossen werden soll. Rückführungen bzw. Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber könnten dann direkt aus diesen Zentren erfolgen. Kaum ein Bürger der Westbalkanstaaten hat in Deutschland Chancen auf humanitären Schutz. Die Ablehnungsquote liegt fast bei 100 Prozent.

Insgesamt lässt sich im Herbst 2015 ein deutlicher Rückgang der Zahl der Asylantragsteller aus den Westbalkanstaaten ausmachen. Ob dieser sich vor dem Hintergrund der ergriffenen Maßnahmen fortsetzen wird, bleibt abzuwarten. Die mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz beschlossenen Vereinfachungen hinsichtlich der Aufnahme einer Arbeit in Deutschland durch Menschen aus den Westbalkanstaaten (vgl. § 26 (2) Beschäftigungsverordnung) könnten dazu beitragen, dass das Asylsystem entlastet wird. Denn damit bestehen nun auch Zuwanderungsmöglichkeiten für Menschen aus diesen Staaten, die nicht von den Interner Link: in den vergangenen Jahren gelockerten Zuwanderungsregeln für hochqualifizierte Ausländer profitieren.

Restriktionen auch für Kriegsflüchtlinge?

Arbeiteten sich Teile der politischen Debatte in der ersten Jahreshälfte an den "Wirtschaftsflüchtlingen" aus den Westbalkanstaaten, die das deutsche Asylsystem "missbrauchten" ("falsche" Flüchtlinge) und der Frage nach Möglichkeiten der Eindämmung dieser Zuwanderung ab, so begann sie sich ab Herbst zunehmend um die Frage der Einschränkung des Zuzugs von "Kriegsflüchtlingen" aus Syrien zu drehen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) löste Anfang November eine kontroverse Debatte aus mit dem Vorschlag, syrischen Flüchtlingen solle statt der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention nur noch ein sogenannter Externer Link: subsidiärer Schutz erteilt werden. Statt einer Aufenthaltserlaubnis, die drei Jahre lang gültig ist, würde ihnen demnach zunächst nur ein einjähriger Aufenthalt in Deutschland gewährt, der anschließend jeweils um zwei Jahre verlängert werden kann. Der Familiennachzug kann nicht sofort, sondern erst nach zwei Jahren beantragt werden, wie die Parteispitzen von SPD, CDU und CSU für subsidiär Schutzberechtigte kurz zuvor festgelegt hatten. Voraussetzung für eine solche veränderte Genehmigungspraxis im Asylverfahren ist die Rückkehr zu einer individuellen Prüfung der Asylanträge von Syrern im Rahmen einer persönlichen Anhörung. Seit November 2014 hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Asylverfahren von Antragstellern aus Syrien sowie Christen, Mandäern und Yeziden aus dem Irak beschleunigt, indem mittels eines Externer Link: schriftlichen Fragebogens ermittelt wurde, ob die Flüchtlingseigenschaft auch ohne persönliche Anhörung beim Bundesamt gewährt werden könne. Diese schriftlichen Verfahren kommen allerdings nur für Personen infrage, deren Asylanträge nicht im Rahmen der Interner Link: Dublin-Verordnung von einem anderen Land bearbeitet werden müssten.

Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Jahresrückblick Migration 2015.

Weitere Inhalte

Vera Hanewinkel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück und Redakteurin bei focus Migration.
E-Mail Link: vera.hanewinkel@uni-osnabrueck.de