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"Die müssen die Sprache lernen" | Perspektiven auf die Integration von Geflüchteten in Deutschland | bpb.de

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"Die müssen die Sprache lernen" Heterogenität in der deutschen Schule

Ursula Neumann

/ 5 Minuten zu lesen

Wie kann in deutschen Schulen der Deutschspracherwerb gefördert werden? Welchen Stellenwert hat dabei die Erstsprache von zugewanderten Schülerinnen und Schülern? Dieser Kurzbeitrag zeigt, wie sprachliche Vielfalt den Schulunterricht bereichern kann.

Jugendliche Geflüchtete in einer Sprachlernklasse in Hannover. Innerhalb eines Jahres sollten die Kinder so gut Deutsch lernen, dass sie dem Unterricht in einer Regelklasse folgen können. Dabei kann Sprachvielfalt den Schulunterricht bereichern. (© picture-alliance/dpa, Peter Steffen)

Alle Kinder und Jugendlichen, die neu nach Deutschland kommen, sind schulpflichtig. Ihre Nationalität ist dafür ohne Bedeutung. Sie haben das Recht, zur Schule zu gehen, und der Staat hat die Pflicht, ihnen einen Platz in der Schule bereitzustellen. Bei der Zuweisung kann es zu Verzögerungen kommen, wenn z.B. geflüchtete Familien zuerst in einer Notunterkunft oder Erstversorgungseinrichtung untergebracht werden und noch nicht klar ist, in welchem Ort sie leben werden, bis sie Asyl bekommen und länger bleiben können. Verschärfungen im Interner Link: Asylrecht verhindern aber, dass die eigentlich Schulpflichtigen tatsächlich zur Schule gehen. So wurden z.B. Zentren eingerichtet, in denen auch Kinder und Jugendliche leben, die keine Aussichten haben zu bleiben, weil sie aus Ländern kommen, die zu "Interner Link: sicheren Herkunftsländern" erklärt worden sind. Der Zugang zu Bildung ist daher in Deutschland keineswegs für alle Kinder und Jugendlichen gesichert.

Gleichzeitiges Lernen von Deutsch und Unterrichtsinhalten in deutscher Sprache

Aus anderen Ländern einwandernde Kinder und Jugendliche sind eine andere Schule gewohnt als sie sie in Deutschland kennenlernen. Ihr Wissen, aber auch ihre Gewohnheit, wie sie Lehrerinnen und Lehrern begegnen und von ihnen behandelt werden, ist deshalb sehr unterschiedlich. Sie haben in ganz verschiedenen Sprachen lesen und schreiben gelernt; manche hatten bereits Englisch- oder sonstigen Fremdsprachenunterricht. Andere sind noch gar nicht alphabetisiert. Fast alle aber sprechen kein Deutsch, wenn sie nach Deutschland kommen. Die Schulverwaltung hat seit den 1970er Jahren Erfahrung mit neu einreisenden Schülerinnen und Schülern. In den meisten Bundesländern wurde ein System von "Vorbereitungsklassen" eingerichtet, in denen Deutsch als Zweitsprache vermittelt wird, aber auch die wichtigsten Fächer unterrichtet werden. Nach dem Übergang in eine "normale" Klasse spielt der Erwerb der – fachspezifischen – Bildungssprache eine besondere Rolle.

Der Bildungserfolg von Kindern, die neu ins deutsche Bildungssystem kommen, ist niedriger als bei deutschen Kindern. Ihn beeinträchtigen verschiedene Faktoren: Unterbrechungen durch Krieg und Flucht, aber auch die verzögerte Aufnahme in die Schule in Deutschland führen zu lückenhaftem Wissen und Können. Die neue Unterrichtssprache Deutsch muss gleichzeitig mit den Unterrichtsinhalten gelernt werden bzw. die neuen Unterrichtsinhalte müssen in einer zunächst fremden Sprache erworben werden. An die Sprachen, die die Kinder und Jugendlichen sprechen, wird kaum angeknüpft – sie sind den Lehrkräften in der Regel nicht bekannt. Es dominiert der Blick auf die neu Hinzukommenden, dass sie nicht Deutsch sprechen können und weitere Defizite haben. Was sie können, nämlich zum Beispiel in persischer Sprache lesen und schreiben und die arabische Schrift beherrschen, wird nicht beachtet. Als normal gilt es in Deutschland, einsprachig aufzuwachsen und später in der Schule Fremdsprachen zu lernen. Auch die Sprachen der Kinder von Einwanderern aus früheren Jahrzehnten, z.B. Türkisch, werden in der Gesellschaft wenig geschätzt; ihre Kenntnis gilt eher als Hindernis für eine erfolgreiche Schullaufbahn.

Sprachliche Vielfalt als Unterrichtsbereicherung – ein Praxisbeispiel

Könnte es anders sein? Ist die sprachliche Vielfalt nicht eine nützliche Fähigkeit für den Einzelnen und ein Reichtum für die Gesellschaft? Schließlich investieren Länder wie Deutschland in der Schule sehr viel Zeit und Geld in das Lernen von Fremdsprachen. Dennoch ist die folgende Haltung eher ungewöhnlich: Die von geflüchteten und zugewanderten Menschen "mitgebrachten" Sprachen bereichern die Gesellschaft; sie können auch den Unterricht bereichern und den Kindern wechselseitig Vorteile bringen. Ein Beispiel:

In ihrer Vorbereitungsklasse unterrichtet die Lehrerin N. 12- bis 14-jährige Jugendliche, die neu in Deutschland sind, aus mehr als zehn verschiedenen Ländern kommen und 14 verschiedene Sprachen sprechen. Mehrere der 16 Jungen und Mädchen sprechen zwei oder drei Sprachen – alle wollen Deutsch lernen. Frau N. nutzt die sprachliche Heterogenität ihrer Klasse zum Lernen. Sie hat die Jugendlichen in Gruppen von drei bis fünf Personen zusammengesetzt, die eine gemeinsame Verständigungssprache haben. Sie haben sie z.T. auf der Flucht gelernt, z.T. als Zweitsprache mitgebracht, z.T. als "Muttersprache" in der Familie erworben. Den Unterricht gestaltet Frau N. so, dass die Schülerinnen und Schüler in Gruppenarbeitsphasen alle ihnen verfügbaren Sprachen nutzen können und sollen – auch Deutsch – aber sie sind nicht dazu verpflichtet, ausschließlich in ihrer neuen Sprache zu kommunizieren. Es gibt viele Wörterbücher, Lexika und Smartphones, ein Smartboard und Internet in der Klasse, die eifrig genutzt werden. Die Lehrerin hat außerdem für sich selber mit den Kindern ein Lernprogramm ausgearbeitet, mit dem sie die wichtigsten Begriffe und Floskeln der Klassensprachen lernt. Der Effekt: Die Schülerinnen und Schüler sind rasch aufgeschlossen für das sprachliche und fachliche Lernen, sie verstehen Strukturunterschiede zwischen den Sprachen, begreifen schneller, was ein "Verb" ist und was ein "Adjektiv". Der Sprachvergleich ist eine Methode des Grammatiklernens, die hier systematisch eingesetzt wird. Vor allem aber fühlen sich die Jugendlichen akzeptiert und in ihren Fähigkeiten und mit ihrem Vorwissen ernst genommen.

Sprachliche Fähigkeiten in den Erstsprachen berücksichtigen und fördern

Der in diesem Beispiel zum Ausdruck kommende Nutzen der Mehrsprachigkeit einer Klasse kann – und sollte – auch in Regelklassen zum Tragen kommen. Forschungsergebnisse weisen nach, dass eine systematische Berücksichtigung der sprachlichen Fähigkeiten in den Erstsprachen der Schülerinnen und Schüler ihnen nicht nur das Erlenen einer dritten Sprache – in deutschen Schulen meist Englisch – erleichtert, sondern auch die übergreifenden Sprachfähigkeiten fördert. Auch die nur mit Deutsch aufwachsenden Kinder profitieren von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, indem sie Einblick in andere Sprachen und deren Strukturen erhalten.

Der durch die Einwanderung gewachsene Sprachenreichtum Deutschlands sollte allgemein systematisch genutzt werden, damit er nicht nur für das einzelne Kind bzw. Jugendlichen Gewinn bringt, sondern für die gesellschaftliche Kommunikation insgesamt. Die Zahl der Sprachen, die in der Schule unterrichtet werden, kann erweitert werden. Wenn derzeit viele Arabischsprecherinnen und -sprecher nach Deutschland einwandern, sollten deren Kinder auch Arabisch schreiben lernen können, damit diese Sprache einen gesellschaftlichen Wert entfalten kann. Es ist also einerseits die Alphabetisierung in arabischer Schrift vonnöten, damit ein Zugang zu Literatur, Medien etc. möglich wird. Andererseits ist eine Entwicklung der Sprache auf hohem Niveau erforderlich, wie es dem Lernen in der gymnasialen Oberstufe entspräche. Eine Externer Link: repräsentative Befragung von Eltern zweisprachiger Kinder im Alter zwischen 10 und 18 Jahren ergab, dass fast 90 Prozent der Eltern einen herkunftssprachlichen Unterricht befürworteten, und zwar am besten in der deutschen Schule ihrer Kinder. Sie glauben an eine Wirkung dieses Unterrichts auf die Persönlichkeitsbildung sowie die interkulturellen Fähigkeiten ihrer Kinder.

Merkmale einer zukunftsweisenden Bildungspolitik

Was hier am Beispiel von Sprache diskutiert wird, gilt für weitere Merkmale von Heterogenität in den Schulen: die religiöse Vielfalt, die Unterschiede in der geschlechtlichen Orientierung, die Fähigkeiten und Behinderungen der Kinder und Jugendlichen, ihre Persönlichkeiten. Eine zukunftsweisende Bildungspolitik

  • ermöglicht allen Kindern den Zugang zu gemeinsamer Bildung,

  • fördert das Selbstbewusstsein angesichts der eigenen Sprache, Religion, des Geschlechts, usw.

  • stiftet einen Dialog zwischen den Schülerinnen und Schüler über ihre Verschiedenheit,

  • und bietet allen die Chance, ihre Eigenschaften und Fähigkeiten weiterzuentwickeln.

Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Perspektiven auf die Integration von Geflüchteten in Deutschland.

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Ursula Neumann, Dr., geb. 1949, ist Professorin i.R. für interkulturelle Bildung der Universität Hamburg, DIVER – Diversity in Education Research.