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Erklärungsmodelle zu Migration und Gesundheit | (Flucht-)Migration und Gesundheit | bpb.de

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Erklärungsmodelle zu Migration und Gesundheit

Oliver Razum Jacob Spallek Oliver Razum und Jacob Spallek

/ 1 Minute zu lesen

Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Migration und Gesundheit bleiben oft unbefriedigend, weil explizit formulierte Erklärungsmodelle fehlen . Determinanten von Krankheit und Gesundheit bei Migrantinnen und Migranten werden häufig nicht benannt, was ihre systematische Untersuchung erschwert.

Patienten der Malteser Migranten Medizin in Berlin. (© picture-alliance/dpa)

Auch in der Epidemiologie erwacht erst in den vergangenen Jahren das Interesse, Migrantinnen und Migranten in epidemiologische Studien einzubinden . Wenn dann – wie es nicht selten geschieht – die Daten zur gesundheitlichen Lage von Migranten nicht den Erwartungen entsprechen, beginnt nachträglich die Suche nach möglichen Erklärungen. Sie endet oft und bisweilen voreilig mit dem Schluss, es müsse sich um eine Verzerrung oder ein Artefakt (also ein aufgrund von Problemen in der Datenlage oder Fehlern in der Auswertung zustande gekommenes und letztendlich falsches Ergebnis) handeln.

Das Phänomen des "gesunden Migranten"

Viele Migrantinnen und Migranten sind gegenüber der Mehrheitsbevölkerung sozial und ökonomisch benachteiligt, daher müsste auch ihre Gesundheitssituation messbar schlechter sein. Aus der Sozialepidemiologie ist bekannt, dass ein niedriger sozioökonomischer Status das Risiko einer Erkrankung und vorzeitigen Todes erhöht. Erwachsene Migrantinnen und Migranten aus vielen Herkunftsländern, die in europäische Länder oder die USA migriert sind, weisen jedoch im Vergleich zur nicht migrierten Mehrheitsbevölkerung der Zielländer eine niedrige Mortalität auf. Ihre Sterblichkeit kann in manchen Altersgruppen bis zu 50 % niedriger liegen als in der Mehrheitsbevölkerung . Die Tabelle zeigt Beispiele aus der internationalen Literatur.

 
Sterblichkeit von Migranten
 
HerkunftZiellandDatenquelleMaßRelatives Risiko
Männer - Frauen
Referenz
ChinaKanadaCanadian Mortality DatabaseRR0,55 - 0,63Sheth et al. 1999
MexicoUSANational Longitudinal Mortality StudyHR0,57 - 0,60Abraido-Lanza et al. 1999
VietnamEnglandNational Health Service RegisterSMR0,64 - 0,56Swerdlow 1991
Südeuropa*DeutschlandSozioökonomi-
sches Panel
RR0,68Razum et al. 2006
Ehem. UDSSR**Deutschland (Nordrhein-Westfalen)Bevölkerungs- und Todesur-
sachenstatistik
SMR0,89 - 0,81Ronellenfitsch et al. 2006
v.a. Latein-
amerika, Asien
USANationale MortalitätsdatenRR0,77 - 0,84Singh & Hiatt 2006
*"Gastarbeiter"-Anwerbeländer im Mittelmeerraum (Türkei, ehemaliges Jugoslawien, Italien, Spanien, Portugal)
**Aussiedler/Spätaussiedler
RR: Relatives Risiko; HR: Hazard Ration; SMR: Standardised Mortality Ration. Diese Maße geben an, wie viel Mal so hoch die Sterblichkeit der Migranten ist, relativ zur bevölkerung des Ziellandes. Beispiel: RR = 0,55: Männliche chinesische Zuwanderer in Kananda haben einen 0,55-mal so hohe Sterblichkeit wie kanadische Männer. Dies ist gleichbedeutend mit einer 45 % niedrigeren Sterblichkeit (berechnet als 100 - 0,55 * 100).
Quelle: Razum (2006)


Dieser in vielen Datensätzen beobachtete Mortalitätsvorteil der Migranten wird in der Literatur als "Healthy migrant"-Effekt bezeichnet, frei übersetzt das "Phänomen des gesunden Migranten". Es ist unwahrscheinlich, dass es sich dabei lediglich um einen Auswahleffekt bei der Migration handelt: Zwar migrieren oft besonders gesunde Menschen, ihr gesundheitlicher Vorteil müsste sich aber relativ zur Herkunftsbevölkerung zeigen, nicht notwendigerweise relativ zur Bevölkerung des Ziellandes der Migration. Zudem zeigt sich der Vorteil meist noch Jahre nach der Migration, trotz der ungünstigen sozioökonomischen Bedingungen, unter denen Migranten oft leben. Angesichts der inversen Assoziation zwischen sozioökonomischem Status und Mortalität stellt der "Healthy migrant"-Effekt ein Paradox dar.

Verzerrungen

Artefakte oder Verzerrungen in den verfügbaren Daten werden immer wieder als Erklärungen für scheinbare Gesundheitsvorteile oder die niedrigere Sterblichkeit von Migranten angeführt. Einerseits werden Todesfälle unter Migranten im Ausland (zum Beispiel während Reisen ins Herkunftsland) in der deutschen Todesursachenstatistik nicht registriert. Andererseits könnten Migranten ins Herkunftsland zurückgekehrt sein, ohne sich in Deutschland abzumelden; sie würden damit rechnerisch weiter in der Bezugsbevölkerung verbleiben und die beobachtete Sterblichkeit "verdünnen". Sicher tragen solche Verzerrungen einen Teil zur Erklärung der Unterschiede bei. Auffallend ist aber, dass Mortalitätsvorteile von Migranten auch in Studien bestehen, die solche Verzerrungen ausschließen können. Auch manche gesundheitlichen Vorteile bestehen nach statistischer Adjustierung fort – wenn auch in deutlich geringerem Maße als vorher.

Soziale Unterstützung

Eine verglichen mit der Mehrheitsbevölkerung bessere "soziale Unterstützung" innerhalb der Migrantenbevölkerung könnte einen Teil der gesundheitlichen Vorteile von Migrantinnen und Migranten erklären. Begründet wird das mit einer salutogenetischen, d. h. gesundheitsfördernden Wirkung sozialer Unterstützung. Es ist aber noch weitgehend ungeklärt, welchen Beitrag sie zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit tatsächlich leistet. "Bessere soziale Unterstützung" ist daher meist nur eine Ad-hoc-Erklärung für scheinbar paradoxe Befunde. Die zugrunde liegende Überlegung bleibt jedoch wichtig: Ein Erklärungsmodell zur Gesundheit von Migranten darf seinen Schwerpunkt nicht nur auf Faktoren legen, die einen schlechteren Gesundheitszustand bedingen, sondern muss auch migrantenspezifische gesundheitliche Ressourcen und protektive Faktoren beinhalten.

Migration als gesundheitlicher Übergang

Zwischen den Bevölkerungen ärmerer und reicherer Länder treten Unterschiede in der lebensgeschichtlichen Exposition auf. Das bedeutet, dass Migranten anderen Faktoren ausgesetzt sind, die Einfluss auf die Gesundheit nehmen. Beispiele sind die weltweit bestehenden Unterschiede in den hygienischen Verhältnissen oder der Ernährung. Wer über nationale und dabei auch über ökonomische Grenzen hinweg migriert, dessen Risiko chronischer Erkrankungen unterscheidet sich allein deshalb von dem der nicht migrierten Bevölkerung im Zuwanderungsland. Daraus ergeben sich scheinbare Paradoxien hinsichtlich chronischer Erkrankungen bei Migranten.

Um sie aufzulösen, kann man Migration aus ärmeren in reichere Länder als einen gesundheitlichen Übergang interpretieren. Unter "gesundheitlichem Übergang" versteht man normalerweise den in einer Gesellschaft stattfindenden Übergang von einer hohen Sterblichkeit – vorwiegend an Infektionskrankheiten sowie Mütter- und Kindersterblichkeit – hin zu einer insgesamt niedrigen Sterblichkeit – vorwiegend an nicht übertragbaren, chronischen Erkrankungen . Der gesundheitliche Übergang hat mehrere Komponenten, relevant sind hier:

  • die therapeutische Komponente – bessere Vorbeuge- und Behandlungsmöglichkeiten, z. B. für Infektionskrankheiten

  • die Risikofaktorenkomponente – z. B. Erkrankungsschutz durch sauberes Trinkwasser, aber auch neue Risiken durch Rauchen, Ernährungsweise und Bewegungsmangel.

Der gesundheitliche Übergang hin zu chronischen Erkrankungen läuft weltweit ab, aber in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Viele der ärmeren Herkunftsländer von Migranten befinden sich in medizinischer Hinsicht noch in einem früheren Stadium, verglichen mit reichen Industrieländern wie Deutschland. Migrieren Menschen von dort nach hier, so ändern sich ihre Neuerkrankungs- und Sterberaten. Das geschieht je nach Art der Erkrankung unterschiedlich schnell :

  • Die Sterblichkeit von Migranten an behandelbaren Infektionskrankheiten und durch mütterliche Todesfälle, die in vielen Herkunftsländern noch hoch ist, sinkt schnell in Richtung des Niveaus in der Bevölkerung des Zuwanderungslandes ab – entsprechend der "therapeutischen" Komponente des gesundheitlichen Übergangs.

  • Neuerkrankungen und Sterblichkeit der Migranten an ischämischer Herzerkrankung ("Herzinfarkt"), der häufigsten Todesursache in Deutschland, bleiben zunächst auf dem niedrigen Niveau z. B. eines südeuropäischen Herkunftslandes. Dies ist auf die meist lange Latenzzeit zwischen einem Anstieg der Risikofaktoren und dem Auftreten der Erkrankung zurückzuführen. Zuwanderer der ersten Generation können daher noch viele Jahre nach der Migration ein niedrigeres Herzinfarkt-Risiko und eine geringere Sterberate haben als die Bevölkerung des Zuwanderungslandes.

Mit zunehmender Aufenthaltsdauer – oder in den nachfolgenden Generationen, die im Zuwanderungsland aufwachsen – passen sich die Migranten an den "westlichen" Lebensstil an. Dadurch steigt ihr Risiko eines Herzinfarktes mit der Zeit an – entsprechend der "Risikofaktor"-Komponente des gesundheitlichen Übergangs. Dies kann Jahrzehnte dauern. Bei einzelnen ethnischen Gruppen geht dieser Aspekt des gesundheitlichen Übergangs jedoch mit einer besonders schnellen Änderung von Krankheitsrisiken einher. Ein Beispiel dafür sind Migranten aus Südasien in England und Schottland. Vermutlich aufgrund einer erhöhten Insulinresistenz nimmt ihr Risiko eines Herzinfarktes bei einem "westlichen" Lebens- und Ernährungsstil (fettreiche, kalorienreiche Ernährung, Bewegungsmangel) innerhalb von Jahren zu und übersteigt das Risiko sowohl der Bevölkerung des Herkunfts- als auch des Ziellandes . Es wird diskutiert, ob türkischstämmige Menschen in Deutschland ebenfalls ein erhöhtes Herzinfarktrisiko haben, wenn sie ihren Lebensstil dem "westlichen" anpassen. Grund könnte ein genetischer Polymorphismus sein, der mit einem niedrigeren "schützenden" Cholesterin (HDL-Cholesterol) einhergeht .

Der Anstieg des Risikos neuer, lebensstilbedingter Erkrankungen kommt zu den bestehenden höheren Risiken von Migranten bezüglich anderer chronischer Erkrankungen hinzu. Beispiele sind Magenkrebs und Schlaganfall. Sie treten gehäuft bei Menschen auf, die ihre Kindheit in Armut und unter schlechten hygienischen Bedingungen verbracht haben . Diese "mitgebrachten" Krankheitsrisiken sind eine negative Seite des gesundheitlichen Übergangs, den Migranten durchlaufen. Migranten aus ärmeren Ländern befinden sich also in einem anderen Stadium auf dem Kontinuum des gesundheitlichen Übergangs als die Mehrheitsbevölkerung. Dadurch treten zwar nicht grundlegend andere chronische Erkrankungen auf, sie treten jedoch in einem anderen Verteilungsmuster auf.

Migration und Lifecourse Epidemiology

Migranten bringen oft andere lebensgeschichtliche Expositionen mit, als sie die nicht migrierte Mehrheitsbevölkerung aufweist. So waren viele Migranten während der Kindheit im Herkunftsland anderen und unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt. Das kann zu unerwartet anderen Mustern des Auftretens chronischer Krankheiten führen. Für manche chronischen Erkrankungen wird das Risiko des Auftretens in späteren Lebensphasen – nach langer Latenzzeit – schon durch Expositionen in der frühen oder frühesten Kindheit determiniert. Daher ist eine Untersuchung des gesamten Lebenslaufes von Migranten erforderlich, um die Muster ihrer chronischen Erkrankungen und ihrer Mortalität verstehen zu können. Eine Momentaufnahme zu einem Zeitpunkt nach der Migration reicht hierzu nicht aus. Vielmehr ist eine Lifecourse epidemiology erforderlich, also eine Epidemiologie, die Expositionen während des gesamten Lebenslaufes einbezieht . Die Abbildung zeigt eine solche Betrachtungsweise im Überblick.

Einflussgrößen auf die Gesundheit von Migranten aus der Sicht der Lifecourse Epidemiology (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de

In Studien zum Gesundheitszustand von Migranten – und damit auch bei der Entwicklung eines Erklärungsmodells – ist es schwierig, geeignete Vergleichsgruppen zu identifizieren. Die Unterschiede, beispielsweise in der Mortalität zwischen Migrantinnen und Migranten einerseits und der Mehrheitsbevölkerung andererseits, ergeben sich teilweise durch Faktoren aus der Lebensgeschichte im Herkunftsland. Wer aus einem südlichen Mittelmeer-Anrainerland nach Deutschland migriert, bringt zunächst die dortige, im Vergleich zur deutschen Bevölkerung viel niedrigere Herzinfarkt-Sterblichkeit mit. Er wird sie aufgrund der langen Latenzzeiten zwischen Risiko-Exposition und Erkrankung selbst bei sozioökonomischer Benachteiligung noch für viele Jahre beibehalten. Will man zwischen genetischer Prädisposition und Lebensstileinflüssen unterscheiden, so ist vor allem der Vergleich mit der Bevölkerung des Herkunftslandes aussagekräftig. Will man dagegen Aussagen über den Zugang zur Gesundheitsversorgung treffen, sind Vergleiche mit der Bevölkerung im Zielland der Migration sinnvoll.

Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "(Flucht-)Migration und Gesundheit".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Schenk (2007).

  2. Siehe Zeeb und Razum (2006).

  3. Siehe Razum (2006); Razum und Twardella (2002); Singh und Hiatt (2006); Swerdlow, (1991); Abraido-Lanza et al. (1999).

  4. Siehe Razum (2006).

  5. Siehe Ringbäck et al. (1999); Kibele et al. (2008); Raymond et al. (1996).

  6. Siehe Neumann (1991).

  7. Siehe Swerdlow (1991); Abraido-Lanza (1999).

  8. Siehe Lechner und Mielck (1998).

  9. Siehe White (1997).

  10. Siehe Mielck (2005).

  11. Siehe Schenk (2007).

  12. Siehe Omran (1971); Feachem et al. (1992).

  13. Siehe Razum und Twardella (2002).

  14. Siehe Anand et al. (2000); Benfante (1992).

  15. Siehe Khunti (2004); Bhopal et al. (1999).

  16. Siehe Hergenc et al. (1999); Mahley et al. (1995).

  17. Siehe Leon und Davey Smith (2000).

  18. Siehe Lynch und Davey Smith (2005); Spallek und Razum (2008).

Prof. Dr. med. Oliver Razum leitet die AG 3 – Epidemiologie & International Public Health in der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld.

Jacob Spallek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand in der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld.