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Politische Ideen der Unabhängigkeitsbewegung | Afrika | bpb.de

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Politische Ideen der Unabhängigkeitsbewegung

Simone Kopfmüller

/ 8 Minuten zu lesen

Neben der Suche nach der eigenen, afrikanischen Identität zielte die Programmatik der Befreiungsbewegungen darauf ab, die bestehenden kolonialen Strukturen als ungerechtes und unmenschliches System anzuprangern und sie zugunsten staatlicher Unabhängigkeit zu beseitigen.

Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 264) - Politische Ideen der Unabhängigkeits-
bewegung

Einleitung

Das politische Denken und Handeln herausragender afrikanischer Führungspersönlichkeiten hat die Entwicklung Afrikas südlich der Sahara bereits vor der Entkolonialisierung stark beeinflußt und nach der staatlichen Unabhängigkeit entscheidend geprägt. Der Prozeß der Entkolonialisierung wurde dabei vorwiegend von jenen Afrikanern getragen, die nach längeren Aufenthalten in den Metropolen der Kolonialmächte mit Engagement und Idealismus in ihre Heimat zurückkehrten. So entstand eine Bewegung afrikanischer Intellektueller, die durch ihre europäische Sozialisation einerseits ihrer eigenen Kultur entfremdet waren, andererseits jedoch ein gestärktes politisches Bewußtsein entwickelt hatten.

Neben der Suche nach der eigenen, afrikanischen Identität zielte die Programmatik der Befreiungsbewegungen darauf ab, die bestehenden kolonialen Strukturen als ungerechtes und unmenschliches System anzuprangern und sie zugunsten staatlicher Unabhängigkeit zu beseitigen. Nach der Erlangung der Selbständigkeit sollte gerade die Hinwendung zum afrikanischen Nationalismus und Sozialismus diese Abkehr vom Kolonialismus bekräftigen.

Philosophie der Négritude

Stellvertretend für die politischen Ideen der Dekolonisation von ehemals französischen Kolonien in Afrika steht die Philosophie der Négritude von Léopold S. Senghor. Der 1906 im Senegal geborene Dichter und Politiker blieb nach seiner Ausbildung zum Studienrat für Griechisch, Latein und Französisch zunächst in Frankreich und war von 1945 bis 1958 Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung. Die von ihm gegründete Partei Bloc Démocratique Sénégalais bemühte sich um einen Dialog mit der Kolonialmacht Frankreich. Nach seiner Tätigkeit als beratender Minister für kulturelle Kolonialangelegenheiten unter Präsident Charles de Gaulle wurde Senghor erster Staatspräsident von Senegal, als das Land 1960 unabhängig wurde.

Die Philosophie der Négritude unternimmt den Versuch, das durch den Kolonialismus geprägte Verhältnis der afrikanischen zur europäischen Kultur zu klären. Senghor betont hierbei die Eigenart und die Würde der Afrikaner und plädiert für eine Rückbesinnung auf die Werte der afrikanischen Kultur. Der Verweis auf die "Gesamtheit der kulturellen Werte der schwarzen Welt" sollte einerseits zur Abgrenzung im Sinne einer Emanzipation dienen. Andererseits unterstreicht Senghor jedoch mit seinen Ideen auch gerade die Gleichheit zwischen Europäern und Afrikanern und verfällt somit nicht in einen "umgekehrten Rassismus".

Die Négritude beeinflußte das Selbstverständnis afrikanischer Intellektueller, die die kulturelle Identitätsfindung als befreiend empfanden und somit in ihrem Selbstbewußtsein gestärkt wurden. Die enge Bindung an die Frankophonie, also an die Gemeinschaft französischer Sprache und Kultur, blieb jedoch nach wie vor bestehen – nicht zuletzt deswegen, weil das französische Kolonialsystem mittels seiner Assimilationspolitik auf eine kulturelle Anpassung an das Mutterland einen sehr hohen Wert gelegt hatte.

Panafrikanismus

Afrikanische politische Denker, die durch ihre Sozialisation in Frankreich eng mit der frankophonen Kultur verbunden waren, verliehen ihren Vorstellungen zur Dekolonisation vorwiegend auf literarischer Ebene Ausdruck; afrikanische Intellektuelle aus ehemaligen britischen Kolonien hingegen argumentierten meist direkter und politischer.

Der 1909 in Ghana geborene Kwame Nkrumah – geistiger Führer des Panafrikanismus – verfaßte seine Ideen und Forderungen in Form eines politischen Programms. Während seiner Studienaufenthalte in den USA und in Großbritannien traf Nkrumah auf die führenden Vertreter der panafrikanischen Kongreßbewegung, durch die er maßgeblich beeinflußt wurde. Ziel dieser kulturellen und politischen Bewegung war die afro-amerikanische Emanzipation von Schwarzen in den USA und in Westindien sowie die Einigung des durch koloniale Grenzziehungen zersplitterten Afrikas. Als Nkrumah 1947 nach Afrika zurückkehrte, um sich der ghanaischen Unabhängigkeitsbewegung im Kampf gegen die britische Kolonialmacht anzu- schließen, entwickelte sich Ghana zum Zentrum des Panafrikanismus in Afrika. Mit der Unabhängigkeit im Jahre 1957 wurde der charismatische Führer erster Präsident eines souveränen schwarzafrikanischen Staates.

Der Grundgedanke des Panafrikanismuskonzeptes war, nach dem Ende der Kolonialzeit wieder zusammenzuführen, was zusammengehörte, nämlich die durch willkürliche Grenzziehung auseinandergerissenen Volksgruppen. Das von den afrikanischen Kolonialmächten übergestülpte Modell des Nationalstaates sollte durch einen afrikanischen Kontinentalstaat ersetzt werden. Nkrumahs Plädoyer für ein vereintes Afrika sah in der engen Zusammenarbeit national unabhängiger Staaten und schließlich in der Einheit im Rahmen einer gesamtafrikanischen Gemeinschaft eine Chance, den Kontinent politisch zu stärken und die Durchsetzung afrikanischer Interessen voranzutreiben. Nach dem Entwurf Nkrumahs sollte die angestrebte panafrikanische Einigung eine Art Konföderation darstellen, die nach einem ökonomischen Gesamtplan handelt, eine gemeinsame Militär- und Verteidigungsstrategie aufstellt sowie eine einheitliche Außenpolitik anwendet.

Bei der Gründung der "Organisation Afrikanischer Einheit" im Jahre 1963 setzte sich statt der von Nkrumah angestreb- ten supranationalen Union afrikanischer Staaten jedoch nur das sehr gemäßigte Konzept eines losen Zusammenschlusses durch. Als gemeinsame Vision für Afrika wurde der Panafrikanismus jedoch zum Verbindungsglied afrikanischer Befreiungsbewegungen und somit zu einem zentralen Bestandteil der Dekolonisationsgeschichte Afrikas.

Sozialismus

In der kritischen Auseinandersetzung mit westlich-kapitalistischen Entwicklungsstrategien entstanden auf dem afrikanischen Kontinent alternative Entwicklungskonzepte, die auf nationaler Ebene auch umgesetzt wurden. Herausragendes Beispiel hierfür ist der von Julius Kambaragene Nyerere in Tansania eingeführte Ujamaa-Sozialismus, dessen Grundlagen er in der sogenannten Arusha-Deklaration von 1967 darlegte. Als Präsident Tansanias versuchte Nyerere nach der politischen Unabhängigkeit im Jahre 1961 nun mit Hilfe der Ujamaa-Politik auch die wirtschaftliche Eigenständigkeit des Landes zu forcieren.

Dem tansanischen Sozialismus lag dabei eine Entwicklungsstrategie zugrunde, die auf kurzfristige Erfolge bewußt verzichtete. Von zentraler Bedeutung hingegen war das Konzept der self-reliance, das – ausgehend vom Vertrauen auf die eigenen Kräfte – die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen erschließen und einsetzen wollte. Dies sollte durch eine Konzentration auf den Binnenmarkt und eine verstärkte Partizipation der Bevölkerung erreicht werden. Die wichtigsten Ziele des tansanischen Sozialismus waren die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Schaffung einer egalitären Gesellschaft mit gleichen Einkommens- und Vermögensstrukturen, die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung in den Entwicklungsprozeß sowie die Beendigung der Abhängigkeit und Ausbeutung. Neben der Verbesserung von sozialen Diensten war auch die Neuorientierung des Erziehungswesens ein Schwerpunkt des von Nyerere propagierten Sozialismus.

Im Mittelpunkt des Konzepts Ujamaa (Swahili: "wie eine Familie leben") stand jedoch die ländliche Entwicklung. Hierdurch sollte das massive Gefälle zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen verschiedenen Regionen des Landes abgebaut werden. Zu diesem Zweck wurde seit 1967 die verstreut siedelnde Landbevölkerung zunächst freiwillig, später jedoch unter Zwang in sogenannte Ujamaa-Dörfer umgesiedelt. In genossenschaftlichen Produktionseinheiten sollten landwirtschaftliche sowie kommunale Aufgaben arbeitsteilig und gemeinschaftlich durchgeführt werden.

Der in Tansania bis in die achtziger Jahre hinein verfolgte Ujamaa-Sozialismus versuchte, als Alternative zu wachstums- und weltmarktorientierten Entwicklungsstrategien einen eigenständigen und den Gegebenheiten Tansanias angepaßten Entwicklungsweg zu gehen. Zwar konnte die Politik Nyereres keine wirkliche Transformation der historisch gewachsenen und durch die Kolonialzeit geprägten Strukturen in Tansania herbeiführen. Als idealistische politische Ideen hingegen haben die Konzepte self-reliance und Ujamaa, die zeitweise sogar als Modell für die Dritte Welt galten, einen großen Einfluß gewonnen und das Selbstbewußtsein der Entwicklungsländer über Afrika hinaus gestärkt.

Sambischer Humanismus

Einen von sozialistischen Gedanken geprägten Entwicklungsweg durchzusetzen versuchte auch Sambias Präsident Kenneth Kaunda, dessen Staatsphilosophie sowohl vom christlichen Glauben als auch von Gandhis Lehre der Gewaltlosigkeit geprägt war. 1967, also im selben Jahr, als Nyerere sein politisches Programm in der Arusha-Deklaration niederlegte, verkündete Kaunda die Philosophie des sambischen Humanismus als ideologische Grundlage der angestrebten sozialistischen Entwicklung des Landes.

Zentrale Aussage dieses Humanismus ist es, daß der Mensch im Mittelpunkt allen gesellschaftlichen Handelns steht. Um die Ausbeutung des Menschen durch die Auswirkungen des Kolonialismus und Kapitalismus zu beenden, sollte – so Kaundas Konzeption – die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft als Zwischenstadium auf dem Weg zur Verwirklichung des Humanismus angestrebt werden. Aus der zentralen Stellung des Menschen im gesellschaftlichen Konzept des Humanismus ergab sich auch die Forderung nach einer partizipatorischen Demokratie, also einer politischen Herrschaftsordnung, in der die Bevölkerung in Entscheidungs- sowie Entwicklungsprozesse aktiv miteinbezogen werden sollte. Das sambische Einparteiensystem, vom dem letztendlich vorwiegend die Mitglieder der herrschenden Elite profitierten, konnte diesen Anforderungen jedoch nicht breitenwirksam gerecht werden.

Ähnlich wie bei der Ujamaa-Philosophie Nyereres leitete auch Kaunda den sambischen Humanismus aus den Werten und der Organisation der traditionellen afrikanischen Lebensweise ab. Beide Entwicklungskonzepte kann man dem sogenannten "Afrikanischen Sozialismus" zuordnen. Sowohl Nyerere als auch Kaunda versuchten, dem Sozialismus durch das Anknüpfen an die Wiederherstellung vorkolonialer Strukturen ein spezifisch afrikanisches Gesicht zu verleihen. Daß sie mit diesen Vorhaben letztendlich scheiterten, lag nicht nur an den in der Kolonialzeit geprägten Strukturen, sondern auch an den Interessen der neuen Machteliten.

Bedeutung des Marxismus

Sozialistisches und später auch marxistisches Ideengut hatten generell einen sehr großen Einfluß auf die politischen Vorstellungen und Umsetzungen in Afrika. Dies gilt für die Konzepte von Nyerere und Kaunda ebenso wie für die Programmatik von Nkrumah und Senghor, aber auch für die Ideen anderer politischer Denker der Unabhängigkeitsbewegung, wie beispielsweise Sékou Touré, Modibo Keita oder Matthieu Kerikou.

Für die gerade in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten Afrikas südlich der Sahara war der sozialistische Entwicklungsweg durchaus eine vielversprechende Option. Zwar bedeutete ein innenpolitisches Bekenntnis zum Sozialismus nicht automatisch eine außenpolitische Hinwendung zum bzw. Unterstützung durch den Ostblock. Die meisten der neuen Führer befürworteten eine Politik der Blockfreiheit, welche jedoch weniger auf Neutralität als auf die Möglichkeit zu eigenständiger Kooperation zwischen Ost und West abzielte. Da die übernommenen Strukturen des Kolonialismus in erster Linie als System der ökonomischen Ausbeutung begriffen wurden, war der Marxismus zu einer ideologischen Quelle der Befreiungspolitik geworden. Anfang der siebziger Jahre entstanden in Afrika südlich der Sahara Regime, die sich explizit zum "wissenschaftlichen Sozialismus" auf der Basis der marxistisch-leninistischen Lehren bekannten.

Zu den Ländern, in denen der "Afro-Marxismus" am stärksten ausgeprägt war, zählen Angola, Moçambique sowie Äthiopien. Der sozialistische Entwicklungsweg inklusive Einparteiensystem und Planwirtschaft wurde von dortigen Führern mit der Möglichkeit verbunden, Fortschritt "unter Abkürzung der Phase kapitalistischer Schmerzen" zu erreichen. Aufgrund der wirtschaftlichen Rückständigkeit sowie der mangelnden "proletarischen Basis" erwies sich das marxistische Ziel, den Kapitalismus durch eine Revolution der Arbeiterschaft zu stürzen, jedoch als schwer übertragbar. Afro-marxistische Regime bemühten sich daher ohne Rücksicht auf Klassen und Schichten um eine Organisierung der "kolonialen Massen", also der ländlichen Bevölkerung. Die Prinzipien des Marxismus-Leninismus sowie die Theorie der sozialistischen Transformation der Gesellschaft wurden also auf die spezifischen Bedingungen der jeweiligen Länder angepaßt.

Diese Option scheiterte in Afrika südlich der Sahara letztendlich aus mehreren Gründen. Neben den massiven Fehlentwicklungen aufgrund der zentralisierten Planwirtschaften spielte auch die Einstellung des militärischen und wirtschaftlichen Engagements des Ostblocks nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine entscheidende Rolle.

Fussnoten