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Weg zur Demokratie in den neunziger Jahren | Afrika | bpb.de

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Weg zur Demokratie in den neunziger Jahren

Stefan Mair

/ 8 Minuten zu lesen

Anfang der neunziger Jahre vollzog sich schlagartig eine demokratische Wende in vielen afrikanischen Staaten - ausgelöst durch die Unabhängigkeit Namibias. Wo liegen die Ursachen des Wandels, das Versagen der Diktaturen, aber auch die Rückschläge?

Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 264) - Weg zur Demokratie in den neunziger Jahren

Einleitung

Bis Ende der achtziger Jahre war die im vergangenen Jahrhundert geprägte Bezeichnung Afrikas als dunkler Kontinent in einer Hinsicht zweifellos gerechtfertigt: Die dort herrschenden autoritären politischen Systeme hatten sich wie ein Schatten über die Länder der Region gelegt. Afrika südlich der Sahara befand sich im festen Griff der Diktatoren. Menschenrechte bedeuteten wenig, Rechtssicherheit war kaum vorhanden. Putsche waren an der Tagesordnung. Politische Macht diente überwiegend der Selbstbereicherung der Machthaber und der sie umgebenden Cliquen. Ein kleiner Teil des derart angesammelten Vermögens sickerte zu jenen Volksgruppen und Regionen durch, die die ethnische und regionale Basis der jeweiligen Machtkoalition bildeten. Unter den 48 Staaten südlich der Sahara konnten 1988 nur die nach Bevölkerungszahl winzigen Länder Botswana und Mauritius, mit sehr viel gutem Willen auch noch Senegal und Simbabwe als Demokratien bezeichnet werden. Südafrika verfügte zwar über demokratische Institutionen, die aber nur für die Minderheit der weißen Bevölkerung Gültigkeit hatten.

Demokratische Wende

Dieses düstere Bild sollte sich Anfang der neunziger Jahre schlagartig erhellen. Mit der Unabhängigkeit Namibias 1990 und den dort durchgeführten demokratischen Wahlen wurde der Startschuß für einen schnell um sich greifenden Demokratisierungsprozeß gegeben. Signalcharakter hatten die Ablösungen der autoritären Systeme in Benin im Jahr 1990 und in Sambia im darauffolgenden Jahr. In Benin erfolgte die Systemänderung über eine Nationalkonferenz, die sich nach historischem französischem Vorbild aus Vertretern aller großen gesellschaftlichen und politischen Gruppen des Landes zusammensetzte. Sie war von einem autoritär regierenden Präsidenten eingesetzt worden, um der demokratischen Reformbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Diese Strategie mißlang. Die Nationalkonferenz erreichte zuerst eine Verfassungsänderung und dann demokratische Wahlen, die zur Abwahl des Präsidenten führten.

Benins Weg zur Demokratie setzte Zeichen für die anderen Länder. In einer Reihe von ebenfalls frankophonen Staaten fanden Nationalkonferenzen statt, fast alle führten Anfang der neunziger Jahre Wahlen durch. Die meisten anglophonen Länder Afrikas folgten dem Beispiel Sambias. Dort verweigerte der autoritär regierende Präsident zwar eine Nationalkonferenz, ermöglichte zumindest aber Wahlen, die auch in seinem Falle zur Abwahl führten. Erst die neuen Machthaber leiteten dann eine Verfassungsreform ein.

Insgesamt fanden im Zeitraum von 1990 bis 1997 mehr als 40 Wahlen statt. Sie hatte es zwar in Afrika südlich der Sahara schon vor 1990 gegeben. Bei ihnen standen in der Regel aber nur ein Präsidentschaftskandidat ohne Konkurrent und die Parlamentskandidaten der Einheitspartei zur Wahl. Bei den Wahlen seit 1990 handelte es sich fast ausnahmslos um Mehrparteienwahlen.

Ursachen des Wandels

Worin liegen nun die Gründe für diesen Wandel, dessen Geschwindigkeit und Umfang wohl die meisten politischen Beobachter innerhalb und außerhalb Afrikas überrascht hat? Bei der Beantwortung dieser Frage lassen sich externe und interne Faktoren unterscheiden. Der wichtigste externe Faktor ist das Ende des Ost-West-Konflikts, der sich in zweierlei Hinsicht auf Afrika südlich der Sahara auswirkte. Zum einen darf der Demonstrationseffekt nicht unterschätzt werden, den der Sturz der Diktatoren in Osteuropa auf Afrika ausübte. Die Oppositionellen Afrikas stellten unter diesem Eindruck die Frage, warum in ihren Ländern nicht gelingen sollte, was in osteuropäischen Staaten, deren Diktaturen ja weitaus machtvoller und repressiver waren als die afrikanischen, möglich gewesen war. Verstärkend kam hinzu, daß nicht wenige der afrikanischen Diktatoren mit ihren osteuropäischen Kollegen eng verbündet waren. Da sie sich und ihr System häufig als sozialistisch definierten, war ihnen mit der Bankrotterklärung des real existierenden Sozialismus in Osteuropa gleichsam auch die ideologische Basis ihres Machtsystems abhanden gekommen.

Viel wichtiger waren jedoch die Auswirkungen, die das Ende des Ost-West-Konflikts auf das internationale Machtgefüge hatte. Westliche Industrieländer und Ostblock hatten aus der Logik der Konkurrenz der beiden Lager die ihnen jeweils nahestehenden Diktatoren in Afrika rückhaltlos unterstützt. Die Loyalität eines afrikanischen Machthabers gegenüber einem der beiden Blöcke war für die Erteilung von Entwicklungs- und Militärhilfe wichtiger als die Menschenrechtsbilanz und demokratische Legitimität seines Regimes. Der Zusammenbruch des Ostblocks führte zum fast völligen Rückzug der Sowjetunion und ihrer Verbündeten aus Afrika südlich der Sahara. Die westlichen Industrieländer nützten ihre Vormachtstellung nun, um Diktatoren ihre Unterstützung aufzukündigen und Demokratie, Schutz der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Entwicklungsorientierung staatlichen Handelns – so die offiziellen Kriterien des deutschen Entwicklungshilfeministeriums – einzufordern.

Dieser Sinneswandel wurde unterstützt durch eine grundsätzliche Neuorientierung in der internationalen Entwicklungspolitik. Galt für Jahrzehnte der starke, autoritäre Staat als der einzig geeignete Agent, um rasche nachholende Entwicklung zu gewährleisten, so entdeckte man Mitte der achtziger Jahre, daß wirtschaftliche und soziale Entwicklung ohne ein Minimum an politischen Freiräumen für die Bevölkerung und deren Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen nicht möglich sei.

Versagen der Diktaturen

Diese reformfördernden externen Faktoren trafen auf eine Reihe interner Faktoren, die die Ablösung autoritärer Systeme begünstigten. Da war als der wichtigste das Versagen afrikanischer Diktaturen bei der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Länder. Korruption, Mißwirtschaft, teure Prestigeprojekte, verfehlte Entwicklungsstrategien und die Strangulierung der Privatwirtschaft durch staatliche Regulierung machten Fortschritte in der Entwicklung nahezu unmöglich.

Zwischen 1980 und Anfang der neunziger Jahre sank das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in Afrika südlich der Sahara um durchschnittlich 1,5Prozent. Der gleichzeitige Erfolg der südostasiatischen Tigerstaaten entzog der Argumentation afrikanischer Führer, an dieser Negativentwicklung seien allein die Ausbeutung durch die Industrieländer und negative weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen schuld, die Grundlage. Das Scheitern überzogener Entwicklungspläne führte zu umfassender staatlicher Verschuldung, die wiederum fast alle afrikanischen Staaten zwang, die Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in Anspruch zu nehmen. Deren wirtschaftliche Strukturanpassungsprogramme hatten wiederum eine Reihe sozialer Härten zur Folge: Einsparungen im öffentlichen Dienst, Arbeitsplatzverluste in bisher geschützten Industriesektoren, Reduzierung staatlicher Leistungen im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie die Streichung von Nahrungsmittelsubventionen.

Am härtesten waren von dieser Entwicklung die städtischen Mittelschichten betroffen. Sie waren zwar in der Regel klein, politisch aber relativ einflußreich. Sie waren auch die Hauptnutznießerinnen staatlicher Industrialisierungs- und Alphabetisierungsanstrengungen gewesen. Letztere trugen dazu bei, daß sie relativ gut über die politischen Vorgänge in ihrem Land und außerhalb informiert waren. Formiert wurde ihr Protest durch eine kleine Gruppe von Intellektuellen – meist Studierende, Lehrkräfte, Universitätsdozenten, Rechtsanwälte, Geistliche –, die unter der staatlichen Repression am stärksten gelitten hatten und die nun ihre Chance zu grundlegenden politischen Veränderungen sahen. Unterstützt wurden sie durch die gewaltbereiten städtischen Unterschichten. Ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben durch den Umzug in die Stadt hatten sich nicht realisiert. Sie hatten wenig zu verlieren und waren zum offenen, wenn nötig auch gewaltsamen Protest entschlossen.

QuellentextDemokratie – Traditionen und Realisierungschancen

Vielfach wird – ohne näheren Nachweis – behauptet, Demokratie habe in Afrika keine Tradition. Unbestritten ist, daß es dort keine demokratisch verfaßten Staaten in unserem Sinne gab, zumal sich der Zusammenhalt der Gesellschaften weitgehend nicht auf normierte Staatsformen stützte. Andererseits gab es Formen demokratischer Partizipation in den vorherrschenden Sozialstrukturen. Afrikanische Politiker beklagen, daß ihnen vom Westen die Begrifflichkeiten vorgegeben werden, was unter Demokratie zu verstehen sei. Dabei geht es nicht um das Anzweifeln allgemein gültiger Grundsätze, sondern um deren Ausprägung in konkreten gewachsenen Formen. Westliche Termini sehen teilweise zu eng oder träfen den Sachverhalt nicht voll. Auch frage sich, ob die Länder des Nordens an ihre eigenen Traditionen so strenge Maßstäbe anlegten wie bei anderen.

Afrikanischen Wissenschaftlern sind staatstheoretische Ansätze von Plato bis Rawls durchaus geläufig. Unsere Lehrbücher sind dagegen mangels geeigneter Quellen unvollständig, wenn es um frühe Ausformungen von Staatlichkeit in Ländern auf der Südhalbkugel geht. Demokratische Grundregeln des Zusammenlebens nach traditionellem Verständnis sind gemeinsames Kulturgut in Schwarzafrika. Sie werden z.B. in der Sprache der südafrikanischen Zulu Ubuntu (menschliches Miteinander) genannt. [...]

Ubuntu wird als eine Lebensphilosophie beschrieben, die in ihrer grundlegenden Bedeutung die Wertschätzung der Person, Menschlichkeit, menschliches Miteinander und Moralität in der Gesellschaft reflektiert; eine Metapher, die Solidarität in der Gruppe und den fundamentalen Glauben daran beschreibt, daß der Mensch nur zum Menschen wird durch die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Mit anderen Worten, die Existenz des Individuums und sein Wohlergehen hängen von dem der Gruppe ab. [...]

Ubuntu enthält Grundsätze in horizontaler Richtung (z.B. Miteinander in der Familie, mit Nachbarn) sowie im vertikalen Sinne (Miteinander von Regierenden und Regierten). Zu diesen Grundsätzen zählen etwa festgelegte Formen der Meinungsbildung bei Entscheidungsprozessen der Herrscher oder der traditionellen Chiefs. Wurden die Regeln der Meinungsbilder verletzt, war die Entscheidung nicht legitimiert. Es war also keineswegs so, daß afrikanisches Denken herkömmlicherweise nur auf eine Monopolisierung von Macht abzielte und abweichende Meinungen nicht zuließ. Im Gegenteil: die sprichwörtlichen Beratungen unter dem Baum sollten gerade Akzeptanz und Integration von Andersdenkenden garantieren, und nicht, worin die Gefahr westlicher Mehrheitsdemokraten liegen kann („Mehrheit ist Mehrheit“), Minderheiten frustrieren. [...] Die traditionelle Gemeinschaft konnte nach den Regeln des Ubuntu „mit den Füßen“ über ihren Chief abstimmen und ihn sogar abwählen. Dagegen werden heute übliche Methoden der Regierenden, ihre Herrschaft mit Waffengewalt abzusichern, als westliches Denken bezeichnet. Diese traditionellen Denkansätze sind sicher eine vertiefte Betrachtung wert. Wir sollten also – bei aller Vorsicht gegenüber möglicher modischer Verklärung der Vergangenheit – in unserer Wertung hinsichtlich der Demokratiefähigkeit anderer zumindest etwas vorsichtiger und differenzierter sein.

Mißtrauen ist ferner geboten bei dem nicht endenden Nachdenken darüber, ob die Forderung nach demokratischer Entwicklung in afrikanischen Staaten nicht „verfrüht“ komme. Gewiß mag mancher trefflich darüber streiten, ob die Fülle infrastruktureller Probleme und Unzulänglichkeiten in den meisten Staaten nicht erst einmal durch eine „weiche Diktatur“ vorsortiert werden sollte, bevor an eine breitere Partizipation politisch Andersdenkender oder der breiten Bevölkerung an Entscheidungsprozessen zu denken sei. Diese Denkweise ist gefährlich; sie stellt nicht nur in Frage, ob die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten ein aufschiebbares Luxusgut sei (wohlgemerkt: für andere), sondern verkennt auch, daß die politische Gesamtsituation und die Zukunftsprognosen in zahlreichen der betroffenen Länder nicht auf das (Fehl-)Verhalten der dortigen Führung oder der herrschenden Einheitspartei reduziert werden können. In derartigen Ländern ist oft eine ganze Generation gut ausgebildeter Nachwuchspolitiker – oft noch im Verborgenen – auf dem Sprung, die Verhältnisse zu ändern, woran sie nur durch existentielle Repressalien wie den Verlust des Arbeitsplatzes oder gar Inhaftierung gehindert wird. [...]

In zahlreichen afrikanischen Staaten, die Anfang der sechziger Jahre zur Unabhängigkeit gelangten und in denen man sich zunächst um eine gewisse wirtschaftliche Konsolidierung kümmern wollte, bevor eine demokratische Öffnung versprochen wurde, sind bis heute weder wirtschaftlicher Aufschwung noch eine spürbare demokratische Partizipation erkennbar. [...]

Dies schließt nicht aus, daß man solchen Staaten hinreichend Zeit gibt, ihren Weg zu finden. Die Frage, ob man es „sich leisten“ kann, Menschen in Afrika jetzt schon mehr Demokratie zuzugestehen, hat Präsident Mandela [...] 1998 [...] eindeutig dahingehend beantwortet, daß Demokratie und Good Governance unerläßliche Voraussetzungen sind, um in Afrika Frieden, politische Stabilität, wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand einzuführen. [...]

In afrikanischen Ländern leben oft 90 Prozent der Bevölkerung in ländlichen Gebieten, die Politik spielt sich in der fernen Hauptstadt ab. Aber auch dort sind selbst Menschen aus der Mittelschicht infolge der infrastrukturellen Probleme weithin damit befaßt, die täglichen Lebensbedürfnisse zu befriedigen. [...]

Anreize, sich trotz allem mit politischen Zielen zu beschäftigen, sind kaum vorhanden. Nicht allein, daß man in den Schulen kaum an Geschichte, Gesellschaftskunde oder gar politische Bildung herangeführt wird. Politische Parteien bestehen, soweit nicht als staatliche Einheitspartei, oft nur aus einer Handvoll von Führern, die ihre Streitigkeiten miteinander und mit anderen Persönlichkeiten austragen. Institutionen der sogenannten Zivilgesellschaft sind recht schwer organisiert und damit ineffektiv bei der Einforderung gesellschaftspolitischer Verbesserungen. [...]

Das, was Männer wie Thabo Mbeki als „afrikanische Wiedergeburt“ oder Yoveri Kaguta Museveni als „afrikanisches Erwachen“ bezeichnen, wird aus vielfältigen Quellen gespeist: Da sind zum einen die Visionen einer neuen Politikergeneration, die den auf antikoloniale Ziele beschränkten Kampf und die durch den Kalten Krieg begünstigten Fehlentwicklungen wie Korruptheit und Diktatur nun durch neue Identitäten ersetzen will. Da ist das wachsende Bewußtsein, daß im Interesse der Zukunftsfähigkeit des Landes nicht notwendigerweise alle Werte und Traditionen über Bord geworfen werden müssen; und da ist ferner der Wunsch nach politischer Unabhängigkeit vom Westen und von internationalen Finanzquellen, die man gegenüber manchen afrikanischen Staaten für streng, anderenorts dagegen für doppelbödig und blind hält. Und da ist schließlich die Besinnung auf eine stärkere Nutzung eigener Ressourcen, um nur einige Gründe zu nennen. [...]

Die meisten Länder in der Region sind heutzutage Mehrparteiensysteme. In ihren Verfassungen und von ihren Prinzipien her akzeptieren sie Pluralismus der Meinungen, Partizipation der Bürger, insbesondere durch Wahlen, die Kultur des Dialogs, Good Governance, transparency und Rechenschaftspflicht sowie Überwindung tribalistischen Denkens. [...] Es gilt, konstruktive Auswege zu suchen, möglichen Fehlentwicklungen durch wirksame und effektive politische Kontrolle zu begegnen. Sie kann letztlich nur in den betreffenden Ländern selbst erfolgen, durch die Stärkung neuer Eliten in Entscheidungsfunktionen vor allem der Regierung, des Parlaments, der Justiz und der Ordnungsbehörden, der sogenannten Zivilgesellschaft, der politischen Parteien und der Presse. Besondere Schlüsselgruppen für gesellschaftliche Verantwortung sind Jugendliche und Frauen.

Michael Schlicht, „Afrikas Gesellschaften auf dem Weg ins 21. Jahrhundert“, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), KAS/Auslandsinformationen Heft 9/1998, S. 64 ff.

Rückschläge

Anfang der neunziger Jahre schien es, als ob kaum eine afrikanische Diktatur in der Lage wäre, sich dieser Woge aus internem Protest und externem Druck entgegenzustellen. Euphorisch wurde vom Anbruch eines neuen demokratischen Zeitalters für Afrika gesprochen. Ende der neunziger Jahre hat diese Euphorie allerdings Realismus, zum Teil sogar schon Frustration Platz gemacht. Zwar haben seither zahlreiche formal demokratische Wahlen stattgefunden. Ein hoher Prozentsatz dieser Wahlen gilt jedoch als gefälscht oder zumindest als in ihrem demokratischen Charakter ernsthaft beeinträchtigt. Nur wenige haben zu Machtwechseln geführt. Und nur wenige der neuen Machthaber haben die Erwartungen im Hinblick auf wirtschaftliche und politische Reformen sowie auf Eindämmung der Korruption und Erhöhung der Effektivität staatlichen Handelns auch nur annähernd erfüllt.

Für diese Rückschläge ist ein Bündel von Faktoren verantwortlich. Teilweise haben erfahrene autoritäre Machthaber nach einer kurzen Schockphase erkannt, wie sich interner und externer Druck erfolgreich kanalisieren und zum Teil manipulieren läßt. Beispiele hierfür sind Kenia, die Elfenbeinküste, das ehemalige Zaire und Togo. Andere, wie die Machthaber von Nigeria, entschlossen sich zum Widerstand gegenüber dem innenpolitischen Protest. Aufgrund ihrer Öleinnahmen sowie des gut ausgerüsteten und im inneren Konflikt erprobten Militärs hatten sie auch die Mittel dazu.

Weiterhin stellte sich bei einer Reihe ehemaliger Oppositioneller, die im Zuge der Demokratisierung an die Macht gekommen waren, bald darauf heraus, daß ihr Reformeifer nicht auf demokratische Gesinnung, sondern allein auf den Willen zum Machtwechsel zurückzuführen war. War dieser bewerkstelligt, trat an die Stelle des Reformwillens der Drang zur Selbstbereicherung. Ein prominentes Beispiel hierfür ist Sambia. Die Oppositionellen, denen in ihren Ländern der Sprung zur Macht nicht gelungen war, wurden im Widerstand gegen die Regierung zermürbt und wandten mehr und mehr Zeit für inneroppositionelle Auseinandersetzungen auf.

Neben diesen politischen Faktoren gibt es einen zentralen strukturellen Faktor, der weitere demokratische Fortschritte be- oder gar verhindert. Auch die neuen demokratischen Regierungen waren gezwungen, wirtschaftliche Reformen gemäß den Vorgaben von IWF und Weltbank durchzuführen. Während die sozialen Kosten solcher Anpassungsprogramme vor allem kurzfristig auftreten, realisieren sich etwaige wirtschaftliche Erfolge dagegen nur langfristig. Die sozialen Kosten sind vor allem von der städtischen Mittel- und Unterschicht zu tragen, da besonders sie den politischen Wandel unterstützen. Unter dem Eindruck, daß schneller wirtschaftlicher Erfolg auch unter der neuen Regierung ausbleibt, entziehen sie ihr jedoch meist die Unterstützung. Jene, die am ehesten von der Wirtschaftsreform profitieren, die ländliche bäuerliche Bevölkerung, sind in der Regel politisch kaum mobilisiert und können somit den Verlust an Unterstützung kaum ausgleichen. Die demokratisch gewählten Machthaber reagieren darauf mit dem Aussetzen oder sogar mit der Zurücknahme politischer Reformen. Diese innenpolitischen Entwicklungen werden durch das tendenziell nachlassende Engagement der westlichen Industrieländer für weltweite Demokratisierung verstärkt. Verantwortlich ist hierfür vor allem die Erkenntnis, daß politischer Wandel kurzfristig gleichbedeutend ist mit politischer Instabilität. Unter dem Eindruck des Völkermords in Ruanda sowie der Bürgerkriege in Somalia, Liberia, Sierra Leone und dem ehemaligen Zaire hat politische Stabilität erneut einen hohen Stellenwert bekommen.

Ausblick

Trotz der Ernüchterung der vergangenen fünf Jahre wäre es verfehlt, den Glauben an eine demokratische Zukunft in Afrika südlich der Sahara zu verlieren. Auch in Lateinamerika war die Demokratisierung ein langwieriger, von zahlreichen Rückschlägen geprägter, letztendlich aber erfolgreicher Prozeß.

In einer Reihe von Ländern könnte eine Stabilisierung der Demokratie gelingen. Südafrika, Malawi, Mali und Benin sind hierfür Beispiele. Eine weitere Gruppe von Ländern hat gute Chancen, mittelfristig und trotz einiger Rückschläge demokratische Strukturen zu festigen. Uganda, Ghana und Tansania, aber auch Kenia, Simbabwe und Elfenbeinküste könnten hierzu zählen. Wenn auch diese Länder noch zahlreiche demokratische Defizite aufweisen, besteht in ihnen jedoch ein höheres Maß an Freiheit und Menschenrechtsschutz als in den siebziger und achtziger Jahren.

Für eine letzte Gruppe von Staaten, allen voran Somalia und das ehemalige Zaire scheint eine funktionierende Demokratie noch in weiter Ferne zu liegen. Mit konsequentem äußeren Druck und mit langem Atem der Opposition liegen allerdings erste Schritte hierzu nicht außerhalb des Möglichen. Wie schnell und überraschend solche erfolgen können, bewies einmal mehr die Entwicklung in Nigeria, wo nach dem plötzlichen Tod des Diktators dessen Nachfolger den Übergang zu einer Mehrparteiendemokratie in wenigen Monaten bewerkstelligte.

Fussnoten