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Politische Entwicklung nach der Unabhängigkeit - Regionale Kooperation und Integration | Afrika | bpb.de

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Politische Entwicklung nach der Unabhängigkeit - Regionale Kooperation und Integration

Konrad Schliephake / Isabelle Werenfels / Hanspeter Mattes / Sonja Hegasy / Britta Frede / Steffen Erdle / Steffen Wippel

/ 42 Minuten zu lesen

Anfang der Sechzigerjahre starteten die Maghrebländer in die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit. Die Kolonialmächte hatten eine brauchbare Verkehrsinfrastruktur hinterlassen, die neu erschlossenen Rohstoffvorkommen konnten bei gutem Preisniveau lukrativ ausgebeutet werden und für die ehemals landlosen Kleinbauern und Pächter standen Ländereien abgewanderter Kolonisten bereit. Doch hatten die Kämpfe und Auseinandersetzungen, die insbesondere in Algerien zur Dekolonisation führten, bereits die Leitlinien für eine anhaltende Fragmentierung der Gesellschaft aufgezeigt. Die Brüche zwischen den einzelnen Gruppen gingen entlang ideologischer und ökonomischer Linien.

Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 272) - Politische Entwicklung nach der Unabhängigkeit

Einleitung

Konrad Schliephake

Anfang der sechziger Jahre starteten die Maghrebländer in die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit, und europäische Beobachter schrieben ihnen zunächst gute Voraussetzungen zu. Die Kolonialmächte hatten eine brauchbare Verkehrsinfrastruktur hinterlassen, die neu erschlossenen Rohstoffvorkommen konnten bei gutem Preisniveau lukrativ ausgebeutet werden und für die ehemals landlosen Kleinbauern und Pächter standen Ländereien abgewanderter Kolonisten bereit.

Doch hatten die Kämpfe und Auseinandersetzungen, die insbesondere in Algerien zur Dekolonisation führten, bereits die Leitlinien für eine anhaltende Fragmentierung der Gesellschaft aufgezeigt. Die Brüche zwischen den einzelnen Gruppen gingen entlang von ideologischen und ökonomischen Linien.

Bruchlinien

Konrad Schliephake

Ideologisch hatten sich im Verlauf des Kampfes gegen die Kolonialmacht Frankreich Gruppen ausgebildet, die panarabisch und islamisch orientiert waren. Schon in den dreißiger Jahren hatten die Kolonialherren sie als "Neo-Wahabiten" (nach der islamischen Erneuerungsbewegung in Saudi-Arabien) bezeichnet. Kleinbauern, Händler und islamische Schriftgelehrte gehörten zu diesen Gruppen. Sie strebten die Einheit von Religion und Staat an und sahen sich als regionale Bestandteile der Islamischen Gemeinschaft. Sie waren die Basis für die algerischen, aber auch für die libyschen Widerstandsbewegungen, konnten jedoch von der neu errungenen Unabhängigkeit nicht im erwarteten Ausmaß profitieren. In den ehemaligen Protektoraten gewannen die städtischen, assimilierten Eliten den stärkeren Einfluss. Im Verbund mit der etablierten Herrschaft (Königtum in Marokko, Bey von Tunis, 1957 durch Präsident Habib Bourguiba abgesetzt) nutzten sie den schrittweisen Abzug der Kolonisten und übernahmen ihre Ländereien und Betriebe.

Schärfer noch waren die Brüche in Algerien: Aus dem blutigen Befreiungskampf (1954–1962) ging die aus der arabisch-islamischen Wurzel stammende Armee der FLN (Nationale Befreiungsfront) als stärkste Kraft hervor, sie übernahm de facto unter den Staatspräsidenten Ben Bella (1962–1965) und vor allem unter Houari Boumedienne (1965–1978) die Staatsgewalt. Doch gerade der Einfluss der eher nasseristisch (das heißt, nach dem Modell der von Gamal Abdel Nasser, 1954–1969, mit Laizismus, also Trennung von Islam und Staat geführten Republik Ägypten) orientierten Armee in Algerien verweigerte dem Islam die Rolle als staatstragendes Element. Diese hatten sich die "Islamisten" und insbesondere die Vertreter der islamischen Reformbewegungen während der Kämpfe mit Frankreich erhofft. Nicht die "Demokratie des kleinen Mannes", sondern Militärs und Oligarchen beherrschten nun Algerien (und auch, in engem Zusammenspiel mit dem König, Marokko).

Die ökonomischen Bruchlinien waren und sind eng damit verbunden: Wer die Hand auf den landwirtschaftlichen Nutzflächen, insbesondere auf dem ehemaligen Kolonistenland, und den Rohstoff verarbeitenden Betrieben hat, kann am internationalen Handel partizipieren und reich werden. Gerade die Erlöse aus den Rohstoffexporten (Phosphat, Erdöl), die wie selbstverständlich von der Staatsspitze eingesammelt und nach unten insbesondere an die eigene Gefolgschaft weitergereicht wurden, ließen seither Abhängigkeiten entstehen und die ländlichen wie städtischen "Massen" weiter verarmen.

Es gab zwar Verstaatlichungsmaßnahmen (in Tunesien insbesondere unter Minister Ben Salah 1962–1969; in Algerien 1962) und Agrarreformen in Tunesien (1965), Algerien (1972) und Libyen (1973). Sie verhinderten jedoch nicht die Ungleichgewichte, die zu sozialen und zu "Brotunruhen" in Marokko (1981 und 1984), Tunesien (1984), Algerien (1988) und Mauretanien (1995) führten.

Zwar sind die Unterschiede zwischen arm und reich in den Maghrebländern nicht so ausgeprägt wie in anderen Staaten der Dritten Welt: In Algerien, Mauretanien, Marokko und Tunesien haben die ärmsten 20 Prozent der Gesellschaft einen Anteil von sechs bis sieben Prozent am Volkseinkommen und die reichsten zehn Prozent einen Anteil von durchschnittlich 30 Prozent. Doch trifft der relative Rückgang des Bruttosozialproduktes seit den achtziger Jahren besonders die Armen.

Ideologische Risse, soziale Disparitäten, Verfall der Rohstoffpreise und erfolglose Industrialisierungskonzepte lähmten in den meisten Maghrebländern zum Ausgang des alten Jahrtausends den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt. Dazu kam, dass sie weder die Dynamik der ostasiatischen Schwellenländer als Weltmarktkonkurrenten (zum Beispiel für die Textilproduktion in Marokko und Tunesien) noch die Entwicklung der neuen Informationstechnologien rechtzeitig erkannt hatten. Nur Libyen als großer Erdölproduzent konnte den Verfall der Rohstoffpreise einigermaßen verkraften. Doch fing das neue Jahrtausend besser als erhofft an. Die Preise für Erdöl als wichtigstes Exportprodukt (siehe Seite 38f.) sind gestiegen, verhelfen zu Deviseneinnahmen und geben somit wirtschaftlichen Auftrieb.

Die Attraktivität der großen Ideologien, seien sie sozialistisch, religiös-islamisch oder beides (Libyen), verblasst, so dass die Regierungen wie ihre Staatsvölker sich wieder mehr mit den Belangen der eigenen Territorien beschäftigen können: Algerien ist nicht mehr Sprachrohr der Dritten Welt und Libyen exportiert die "Universelle Dritte Theorie" aus dem "Grünen Buch" seines Führers Muammar al-Gaddafi nicht mehr, die zwischen Kapitalismus und Kommunismus den Königsweg für die Entwicklung der arabischen und afrikanischen Staaten sah.

Heute öffnet sich selbst Libyen dem Internet, dessen Einführung in den anderen Staaten selbstverständlich war. Lediglich in Algerien blockiert der anhaltende Bürgerkrieg die notwendige wirtschaftliche Entwicklung.

Algerien - wechselnde Militärregime

Isabelle Werenfels

Als in Algerien 1989 ein Mehrparteiensystem eingeführt und Meinungsfreiheit in der Verfassung garantiert wurde, schien das nordafrikanische Land auf dem besten Weg, die Vorzeigedemokratie der arabischen Welt zu werden. Bis dahin war die im Krieg (1954–1962) gegen die französische Kolonialmacht 1954 entstandene FLN (Nationale Befreiungsfront) fast drei Jahrzehnte lang die einzige Partei gewesen.

Die Weichen für das algerische Regierungssystem, in dem das Militär die Politik bestimmt, waren in der "Demokratischen Volksrepublik Algerien" schon bei der Staatsgründung 1962 gestellt worden. Damals hatte sich bei den Machtkämpfen zwischen den verschiedenen Clans innerhalb der FLN Ahmed Ben Bella (geboren 1916, nach anderen Quellen 1919) mit Hilfe der Befreiungsarmee in die Position des ersten algerischen Präsidenten manövriert. Drei Jahre später putschte sich Oberst und Verteidigungsminister Houari Boumedienne (1927–1978) selbst an die Spitze des jungen Staates und wurde damit Partei-, Armee- und Staatschef in einem. Der neue Präsident setzte die Verfassung außer Kraft und ersetzte Parlament und Politbüro durch einen 26-köpfigen Revolutionsrat, der fast ausschließlich aus Militärs bestand. Die Struktur des Rates sowie dessen Interaktion mit der Regierung blieben indes im Dunkeln. Damit war das Fundament für die bis heute andauernde Praxis des Regierens einer kleinen Clique von Generälen hinter den Kulissen gelegt worden.

Boumediennes erklärte Ziele waren der Aufbau einer funktionierenden, von ausländischen Importen möglichst unabhängigen, modernen, sozialistischen Wirtschaft und die Etablierung einer zentralistischen staatlichen Ordnung. Der Aufbau dieser Ordnung begann auf der Lokal- und Regionalebene. Das Volk wählte aus einer Liste von FLN-Funktionären die Gemeindebehörden sowie Exekutive und Legislative in den 48 Provinzen, die Provinzpräfekten ernannte das Regime in Algier. Ein nationales Parlament wurde erst 1976, zwei Jahre vor Boumediennes Tod, wieder eingerichtet, und zwar auf der Basis einer neuen Verfassung, in welcher die Einparteien-Herrschaft und die autoritäre Präsidialstruktur des politischen Systems verankert wurden.

Politische und soziale Spannungen

Dass sich das algerische Regime unter Boumediennes Nachfolger Chadli Bendjedid (1979–1992) Ende der achtziger Jahre zur demokratischen Flucht nach vorne sowie zu einer wirtschaftlichen Liberalisierung gezwungen sah, lag an Jugendrevolten, die im Oktober 1988 in Algier begannen und das ganze Land erfassten. Deren blutige Niederschlagung durch die Armee forderte mehr als 500 Todesopfer. Die tieferen Gründe dieser Unruhen lagen in einer weitgehend gescheiterten Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik, welche in der Wahrnehmung der rebellierenden Bevölkerung in erster Linie zur Bereicherung einer korrupten und autoritären Nomenklatur geführt hatten, nicht aber zur Entwicklung des Landes.

Die algerische Wirtschaft präsentierte sich Ende der achtziger Jahre in einem desolaten Zustand. Das ehrgeizige nationale Industrialisierungsprojekt hatte in den siebziger Jahren kurzfristig zu einem wirtschaftlichen Boom und einem bemerkenswerten Modernisierungsschub im Bereich der Infrastruktur geführt, nicht aber zu effizienten staatlichen Industrien und langfristigen Wachstumsperspektiven. Das Scheitern des Industrialisierungsprojekts verstärkte zudem die Abhängigkeit des algerischen Staates von Erdöl- und Erdgasexporten.

Spätestens zu Beginn der achtziger Jahre hatte sich gezeigt, dass die rapide wachsende Bevölkerung vom Arbeitsmarkt nicht absorbiert werden konnte. Als Mitte der achtziger Jahre die Ölpreise kollabierten, verschärfte sich die soziale und ökonomische Situation dramatisch. Neben der Teuerung und der Jugendarbeitslosigkeit von über 30 Prozent (1988) entwickelte sich die Wohnungsnot in den Städten zunehmend zu einem der dringlichsten Probleme. Nicht zuletzt die wirtschaftliche Not trieb der in den achtziger Jahren erstarkenden islamistischen Bewegung eine wachsende Zahl von Algeriern in die Arme. Islamistische Vereinigungen bauten ein Netz sozialer Dienste und Aktivitäten auf und füllten damit Lücken, die der Staat aufgrund leerer Kassen und Misswirtschaft hinterlassen hatte.

Zu den sozialen und politischen Spannungen trug auch die ungelöste Frage der kulturellen und ethnischen Identität Algeriens bei. Die nationalistische Rhetorik hatte die algerische Gesellschaft auf den Slogan "Wir sind Araber, unsere Sprache ist Arabisch und unsere Religion der Islam" reduziert. Damit wurde die sprachliche, ethnische und kulturelle Identität der Berber, die mit rund 30 Prozent einen beachtlichen Teil der Bevölkerung ausmachen, ignoriert. Unmut über diese kulturelle und politische Marginalisierung hatte sich bereits 1980 in Tizi-Ouzou, der Hauptstadt der Kabylei, gewalttätig entladen. Zwar richteten sich die Proteste in erster Linie gegen die Arabisierungspolitik der Regierung und verlangten die Anerkennung der Berbersprache Tamazight als offizielle Sprache neben dem Arabischen. Doch zeichnete sich bereits in diesem Aufstand ab, was 1988 und im Frühjahr 2001 zur Explosion führen sollte: die Frustration über die wachsende soziale Not und über die mangelnde politische Partizipation in einem zentralistischen System, welches die traditionellen tribalen und regional-spezifischen gesellschaftlichen Strukturen ignorierte und in dem eine kleine Clique von Generälen und FLN-Funktionären die innen- und außenpolitischen sowie die wirtschaftlichen Fäden zog.

Von den Wahlen zum Putsch

Anfang 1989 deuteten viele Zeichen auf einen radikalen Neuerungswillen hin. Nach den blutig niedergeschlagenen Aufständen im Herbst 1988 ließ Präsident Bendjedid das Volk über eine neue Verfassung abstimmen, welche die Grundlagen für ein demokratisches politisches System legte. Nach deren Annahme erlebte Algerien ein politisches, soziales und kulturelles Frühlingserwachen und ein Aufblühen der Bürgergesellschaft. Innerhalb von nur zwei Jahren entstanden 42 neue Parteien, formierten sich mehr als ein Dutzend neuer feministischer Gruppierungen und stieg die Zahl der Zeitungen und Zeitschriften in Französisch, Arabisch und Tamazight von 37 auf 137.

Zur einflussreichsten gesellschaftlichen Kraft und stärksten Stimme der Opposition entwickelte sich die "Front Islamique du Salut" (FIS, Islamische Heilsfront), die 1990 aus den ersten demokratischen Kommunalwahlen mit über 55 Prozent aller abgegebenen Stimmen als Siegerin hervorging. Die FIS muss als klassische Protestpartei verstanden werden, denn zu ihren Anhängern zählten nicht nur stark religiöse Algerier, sondern vor allem auch Kleinunternehmer und wenig religiöse jugendliche Arbeitslose, die sich in erster Linie einen radikalen Bruch mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik des bisherigen Regimes wünschten. Die Wahlplattform der FIS propagierte eine freie Marktwirtschaft und eine islamische Gesetzgebung. Ob die Einführung der letzteren auf demokratischer Basis geschehen sollte oder nicht, war innerhalb der FIS umstritten.

QuellentextSchleier – Pro und Contra

Wir sind auf dem Schulhof des Lycée Abdelkader, des größten Gymnasiums von Bab El Oued (Algerien – Anm. d. Red.). [...] Der Pausenhof wird zur schnatternden Farbenpracht. Unter den Bäumen rosa Hidjabs (arab.: Schleier, Verhüllung, gemeint ist die Bekleidung der Frauen nach religiösen/traditionellen Regeln, die immer das Bedecken der Haare und Kleider vorsieht, die bis über die Ellbogen und fast bis an die Knöchel reichen – Anm. d. Red.), grüne, braune, weiße, blaue, die sich gruppenweise verändern wie in einem Kaleidoskop. Manche Mädchen sind von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Nur die Gesichter sind unverhüllt. Die Hidjab-Gruppen kreuzen die Nicht-Hidjab-Gruppen in Jeans oder Rock. Oft sind Jeans und Hidjabs untergehakt, verhülltes neben unverhülltem Haar. Die Freundschaften hier scheinen sich nicht nach der Kleiderordnung zu richten. [...]

Unsere Gesprächspartnerin trägt Bluse und Jeans. „Ich denke, dass wir in zwei oder drei Jahren auch den Hidjab anziehen werden“, sagt sie lachend. Auf mein Erstaunen fügt sie hinzu: „Vielleicht, ja. Aber selbst ohne Hidjab fühlen wir uns als Mosleminnen und handeln unserer Religion entsprechend. [...] Sich zu verhüllen ist eine sehr, sehr gute Sache“, sagt die Jeansträgerin. „Es vermeidet, die Aufmerksamkeit der Jungen auf sich zu ziehen. Es schützt das Mädchen vor anderen Sachen, die nicht gut sind. Es hilft den Mädchen, sich in ihrer Haut wohl zu fühlen.“ [...]

„Ich bin dagegen, total dagegen“, ruft ein Mädchen [...]: „Eine Frau darf nicht, um als seriös zu gelten und in der Gesellschaft respektiert zu werden, gezwungen sein, den Hidjab anzulegen!“ [...] „Das wichtige ist nicht die Kleidung, das wichtige ist, was man im Kopf hat, was man denkt. Nicht um Äußerlichkeiten sollten wir uns kümmern, sondern darum, wie wir aus unserem Land etwas machen können, und zwar auf fortschrittliche Weise.“ [...] „Wir sollten uns mit der Idee anfreunden, dass wir alle gleich sind, ob Moslems oder Christen. Wir sind alle menschliche Wesen.“

Keiner der Umstehenden sagt etwas dazu. Es gibt nicht einmal zustimmendes Kopfnicken. Moslems und Christen auf die gleiche Stufe zu stellen, ist selbst auf diesem toleranten Schulhof nicht gefragt. [...] „Was denken Sie, wenn Sie über Parabolantenne europäische Frauen in Spielfilmen oder in der Werbung sehen?“ frage ich. [...] „Man hat der europäischen Frau ihre Würde genommen. Jedes Volk hat seine Religion und muss sie befolgen. Also dürfen wir Moslems nicht so handeln wie die europäischen Länder im Fernsehen. Doch die Europäer haben ihre Freiheit. Sollen sie tun, was sie wollen.“ [...]

Samuel Schirmbeck, Hinter den Schleiern von Algier, Hamburg 1996, S. 115 ff.

Der Siegeszug der FIS setzte sich im Dezember 1991 bei den ersten freien Parlamentswahlen fort. Zwar hatte das Regime nach der Wahlniederlage in den Gemeinde- und Provinzwahlen die Wahlkreiseinteilung zugunsten der FLN modifiziert und anstelle des relativen Mehrheitswahlrechts ein absolutes eingeführt. So wurden in den städtischen Ballungsräumen, den Hochburgen der Islamisten, 70000 Wählerstimmen benötigt, um einen Abgeordneten in die künftige Nationalversammlung zu bringen, während im FLN-freundlichen ländlichen Süden 7000 genügten. Das Mehrheitswahlrecht wiederum benachteiligte alle kleinen Parteien, darunter viele des so genannten demokratischen Lagers. Im Zuge der darauf folgenden Proteste ließ die Regierung zudem die FIS-Führung (Abassi Madani, Ali Belhadj) sowie Tausende ihrer Anhänger verhaften. Dennoch errang die FIS im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen bei einer Wahlbeteiligung von 52 Prozent 188 von 430 Sitzen. An zweiter Stelle lag mit 25 Sitzen die mehrheitlich von Berbern gewählte "Front des Forces Socialistes" (FFS, Front der Sozialistischen Kräfte). Die FLN eroberte lediglich 16 Sitze.

Zum zweiten Wahlgang kam es nicht. Am 11. Januar 1992 endete das vielversprechende demokratische Experiment in Algerien abrupt, als Präsident Bendjedid, nachdem er das Parlament aufgelöst hatte, auf Druck der Armee zurücktrat. Mit der Begründung, ein FIS-Wahlsieg hätte von der Demokratie zur Theokratie geführt, verübte eine Junta der einflussreichsten Generäle einen unblutigen Staatsstreich und etablierte einen in der Verfassung nicht vorgesehenen "Hohen Staatsrat", den sie selbst besetzten. An die Spitze des Rats beriefen sie als Legitimationsfigur Mohamed Boudiaf, einen im Exil lebenden historischen Führer des FLN-Unabhängigkeitskampfes. Dieser wurde jedoch bereits fünf Monate nach seinem Amtsantritt, im Juni 1992, ermordet. Bis heute sind in Algerien die Stimmen nicht verstummt, welche die Armee verdächtigen, sich seiner entledigt zu haben, weil seine Anti-Korruptionskampagne die Generäle bedrohte. Wenige Zweifel bestehen indes daran, dass die algerischen Präsidenten nach Boumedienne mehrheitlich zu Marionetten der Armee geworden sind.

Dekade des Bürgerkriegs

Spätestens mit Boudiafs Tod begannen die Jahre der blutigen Konflikte, welche zunehmend die Dimension eines Bürgerkriegs annahmen und nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen bis heute mindestens 100000 Algerier das Leben gekostet haben. Nach dem Abbruch der Wahlen und dem Verbot der FIS im März 1992 hatten sich viele der enttäuschten jugendlichen FIS-Anhänger radikalisiert und sich bewaffneten islamistischen Untergrundbewegungen etwa dem militärischen Flügel der FIS, der sich ab 1994 "Armée Islamique du Salut" (AIS, Islamische Heilsarmee) nannte, oder dem "Groupement Islamique Armée" (GIA, Bewaffnete Islamistische Gruppierung) angeschlossen.

Die meisten Gewaltakte werden von offizieller algerischer Seite diesen Gruppierungen angelastet. Doch wer in Algerien wen tötete, ist letztlich im Dunkeln geblieben. Nicht zuletzt, weil "Le Pouvoir" (französisch: Die Macht), wie das Regime von der Bevölkerung genannt wird, sich weigert, eine unabhängige Untersuchungskommission zuzulassen. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre mehrten sich die algerischen Stimmen, die hinter zahlreichen, den Islamisten zur Last gelegten Gewalttaten die algerischen Sicherheitskräfte vermuteten. Inzwischen gehen auch zahlreiche westliche Algerienkenner davon aus, dass das Regime mordet, um die Opposition physisch auszuschalten, die Islamisten in Verruf zu bringen und die Politik der Repression zu legitimieren.

QuellentextAssia_Djebar

Die Literatur arabischer Gegenwartsschriftstellerinnen wie Hanan Al-Shaykh (Libanon), Ahdaf Soueif (Ägypten) oder Assia Djebar (Algerien) wirft einen unerbittlichen Blick auf die eigenen Gesellschaften. In ihrer Heimat sind die Werke dieser Schriftstellerinnen häufig verboten.

Eine der bedeutendsten Autorinnen ist die 1936 geborene Historikerin Assia Djebar. Dieses Pseudonym wählte sie 1957 für ihren ersten Roman „Der Durst“. Seitdem hat sie über vierzehn Romane und mehrere Filme vorgelegt.

In ihrem Roman „Liebe und Kampf“ beispielsweise behandelt Assia Djebar die französische Kolonialzeit in Algerien. Sie schildert Episoden aus dem Kolonialkrieg 1830 ebenso wie aus dem Unabhängigkeitskrieg, der 1962 zu Algeriens Selbständigkeit führte. Besonders interessieren sie dabei die revolutionären Frauen, deren Beteiligung am Kampf ihnen keine nachhaltige Veränderung ihrer gesellschaftlichen Rolle im unabhängigen Algerien einbringt. Damit werden die Grenzen der Frauengleichstellung im heutigen Algerien sichtbar.

Im Jahr 2000 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels als Würdigung ihres Gesamtwerks, aber auch, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den blutigen Bürgerkrieg in Algerien zu lenken. Zielscheibe in diesem Krieg sind kritische Journalisten, Künstler und Schriftsteller – Männer wie Frauen. Sie sprechen Themen an, die die Wunden der Gesellschaft offenlegen. Aber welcher Zündstoff geht von ihnen aus? Für radikale Islamisten sind Kunst und Musik ein Angriff auf ihren Alleinvertretungsanspruch. „Man nimmt den ins Fadenkreuz, der spricht, der ,ich' sagt, der seine Meinung sagt, der die Demokratie verteidigen möchte. Man schlägt den tot, der sich an der Grenze ansiedelt: der Sprachen, der Geschlechter, der Lebensformen; den, der sich am Rand aufhält, den, der seinen Weg geht, ohne sich um sich selbst zu kümmern, oder jeden Tag seine persönliche Wahrheit erfindet“, schreibt Assia Djebar. Aber totalitäres und sakrales Denken lässt keine persönlichen Wahrheiten zu.

In der nicht-totalitären Kunst werden dagegen permanent Erfahrungen reproduziert, die zum Nonkonformismus aufrufen. Djebar hat für sich ein Medium gefunden, um über die sogenannten Ereignisse in Algerien zu sprechen. 1996 erschien „Weißes Algerien“ (weiß = Farbe der Trauer – Anm. d. Red.), eine Szenencollage Djebars über Algeriens tote Schriftsteller von Albert Camus (Ý 1960) bis Said Mekbel (ermordet 1994). Die meisten der noch lebenden Künstler haben Algerien inzwischen verlassen – unter ihnen auch Assia Djebar.

Sonja Hegasy

QuellentextRaï – der klingende Protest

Aziz Smati machte die beste Musiksendung Nordafrikas, „Bled Music“ („Dorfmusik“), eine Tätigkeit, die er 1993 fast mit dem Leben bezahlt hätte, denn sie verkündete die Botschaft des Raï, der populärsten Musik Nordafrikas. [...]

Untergrund-Islamisten schossen den zierlichen, kleinen Mann zum Krüppel, als er am Straßenrand ein Sammeltaxi herbeizuwinken suchte. [...]

Der Raï ist Konkurrenz der gefährlichsten Art. Er macht ohne Koran und Scharia glücklich; schlimmer noch, er zeigt Lebensperspektiven auf, denen blinder Gehorsam nur im Wege steht, weshalb der Raï auch bei den staatlichen Kulturmatadoren nie einen Stein im Brett hatte. Doch [...] der Raï [...] ist genuin algerisch.

Cheb Khaled, Cheb Mami, Cheb Hasni heißen die beliebtesten Raï-Sänger. Sie bauen auf den eigenartigen, verlorenen und innigen Melodien der Beduinenmusik auf, haben die traditionellen Instrumente um Akkordeon, Schlagzeug, Saxophon und Klarinette erweitert, arbeiten mit dem Synthesizer und machen eine schräge, schrille, helle Musik, die ihresgleichen sucht: In ihr werden die Grenzenlosigkeit der Sahara und das Licht der nordafrikanischen Küste zum akustischen Erlebnis. [...]

Der europäische Zuhörer mag sich wundern, dass derart simple, unschuldige Texte – nur Cheb Khaled greift auch mal zu derb-erotischen Anspielungen – das Missfallen staatlicher Kulturfunktionäre erregten und vom islamistischen Bannstrahl belegt sind. Der Grund für die vehemente Ablehnung liegt darin, dass Wort und Musik zusammen beim Hörer ein Bild völliger Freiheit entstehen lassen. [...]

Der Raï ist ungleich näher an Algeriens Jugend, an 75 Prozent der Bevölkerung, als selbst die Romane Djaouts und Mimounis, diese feinen Zeugnisse der Nach-Unabhängigkeitsgesellschaft [...]. Der Raï ist ein einziger Appell, mit der alten Einheitsordnung Schluss zu machen, nicht länger abzugrenzen, abzuriegeln oder, wie seit vier Jahren, abzuwürgen, abzuschießen, sondern ganz einfach cool zu mischen: Arabisches, Französisches, Berberisches, Religiöses, Weltliches – wozu hat der Mensch denn Seele und Verstand? [...]

Im Spätherbst 1994 wird in Oran Cheb Hasni von Terroristen ermordet, wie die Sicherheitskräfte dem schockierten Land mitteilen. Zu Intellektuellen, Ausländern, christlichen Geistlichen, Theaterregisseuren, Schriftstellern, Staatsbeamten, Bauern, Lehrern, Sportfunktionären, Mädchen und Frauen als Mordopfern kommt nun erstmals auch ein Raï-Sänger. [...]

Samuel Schirmbeck, Hinter den Schleiern von Algier, Hamburg 1996, S. 366 ff.

Die Politik des algerischen Regimes nach dem Putsch war von einer politischen und einer militärischen Strategie geprägt. Letztere spiegelt sich in der Parole, "die Terroristen zu terrorisieren" wider, was deren physische Eliminierung bedeutete. Dies führte weiter zur Bewaffnung von über 500000 Zivilisten für den anti-islamistischen Kampf. Diese Militarisierung der algerischen Gesellschaft hat bis heute weitreichende Konsequenzen, da ein Teil der bewaffneten Zivilisten dazu übergegangen ist, sich den Lebensunterhalt mit Schutzgelderpressungen und organisiertem Verbrechen zu verdienen.

Politisch versuchte das Regime, die eigene Herrschaft zu legitimieren und einen nationalen Konsens herzustellen, ohne politische Konzessionen an die Opposition einzugehen. Dazu gehört eine Verfassungsreform, für die 1996 85 Prozent der Algerier in einem Referendum votierten. Sie bestätigte den Islam als "Säule" der nationalen Identität, entfernte ihn aber gleichzeitig durch ein Verbot islamischer Parteien aus der politischen Arena.

Mit Wahlen zum Parlament 1997 und zum Präsidentschaftsamt 1999 versuchte das Regime, zumindest formell zu einer konstitutionellen Rechtmäßigkeit zurückzukehren. In der Praxis war dies indes nicht der Fall, da die Wahlen nach Einschätzungen von unabhängigen Beobachtern manipuliert waren. Unter den zehn 1997 ins Parlament gewählten Parteien ging denn auch die von der Regierung kurz vor den Wahlen gegründete "Rassemblement National Démocratique" (RND, Nationale Demokratische Vereinigung) als stärkste Partei hervor. Die Zulassung zweier von gemäßigten Islamisten geführten Parteien zu den Wahlen und die Einbindung einer dieser Parteien in die Regierung kann zudem als der Versuch gesehen werden, moderate Islamisten zu beteiligen.

Die 1999 gegründete, FIS-nahe, moderat islamistische Partei Wafa bleibt bis heute verboten, obwohl sich ihre Führung zu demokratischen Prinzipien bekennt. Der FIS-Führer Abassi Madani steht noch immer unter Hausarrest, obwohl er der Gewalt wiederholt abgeschworen hat. Mit dieser dreifachen Strategie der Repressionen, Beteiligung und Spaltung der Islamisten ist es den Machthabern gelungen, die FIS politisch entscheidend zu schwächen.

Im algerischen Regime haben sich somit die so genannten "éradicateurs", die eine Politik der Härte gegenüber den Islamisten vertreten, gegen die "réconciliateurs", die eine Politik des Dialogs mit den Islamisten befürworten, in allen wichtigen Entscheidungen durchgesetzt. Dies zeigt auch die Haltung der algerischen Regierung gegenüber der so genannten Plattform von Rom. In dieser "Plattform", die 1995 in der katholischen Kommune Sant' Egidio bei Rom ausgearbeitet worden war, hatten sich die wichtigsten Oppositionsparteien, darunter die FIS, auf drei Hauptpunkte geeinigt: ein Ende der Gewalt, die Legalisierung der FIS und die Abhaltung freier Wahlen. Diese Plattform stellt das derzeit vielversprechendste Konzept zu einer politischen Lösung des Konflikts dar, doch das Regime lehnte es als Einmischung von außen ab.

Fortdauernde Spannungen

Zu einer zweiten Chance, die blutigen innenpolitischen Konflikte beizulegen, kam es im Sommer 1999 mit einem Gesetzesvorschlag des neu gewählten Präsidenten Abdelaziz Bouteflika (geboren 1937) zur nationalen Versöhnung. Dieser so genannte "Concorde Civile", der in einem Referendum mit 98,6 Prozent aller abgegebenen Stimmen angenommen wurde, sah Straffreiheit für alle AIS-Kämpfer vor, die ihre Waffen abgaben und sich dem Staat zu Diensten stellten. Zwar ergaben sich nach offiziellen algerischen Angaben bis Anfang 2000 gut 5500 Kämpfer und wurden zusätzlich 5000 unter dem Vorwurf des Terrorismus inhaftierte Algerier vom Präsidenten amnestiert. Dennoch wird diese Politik der Versöhnung heute als gescheitert betrachtet. Die Zahl der Gewaltopfer hat wieder zugenommen. Viele der Islamisten, die den "Concorde Civile" ursprünglich unterstützten, beurteilen ihn heute als eine rein polizeiliche Maßnahme, die auf ihre Schwächung, nicht aber auf ihre politische Einbindung abgezielt hat. Die säkularen, westlich ausgerichteten und oft französisch sprechenden Bildungseliten ihrerseits verurteilen die Amnestiepolitik des Präsidenten, weil diese Straffreiheit für die in vielen Fällen mit großer Wahrscheinlichkeit von Islamisten verübten Morde an Intellektuellen und Kulturschaffenden bedeutet.

Die gesellschaftlichen Spannungen und die strukturellen politischen und wirtschaftlichen Probleme, mit denen sich das algerische Regime heute konfrontiert sieht, gehen weit über die Frage des Umgangs mit den Islamisten hinaus. Das haben die im Frühjahr 2001 in der Kabylei ausgebrochenen Massenaufstände der berberischen Bevölkerung gezeigt, welche trotz den Bestrebungen des Regimes, sie mit Waffengewalt niederzuschlagen, weitergehen. Diese Revolten haben Unterstützung weit über die ethnischen Linien der Berber hinaus gefunden und verdeutlichen den gravierenden Legitimationsmangel der Herrschenden.

Dabei ist die Forderung nach Anerkennung des Tamazight als offizieller Sprache nur noch ein Teilaspekt. Im Vordergrund stehen zwei Punkte die eng miteinander verflochten sind: Zum einen das Ende der "Hogra", wie die Algerier die Arroganz der Mächtigen nennen, und damit verbunden der Wunsch nach echter Demokratisierung. Zum anderen die wirtschaftliche Not eines breiten Teils der Bevölkerung. Inzwischen sind zwei von drei Jugendlichen arbeitslos. Jedes Jahr kommen 250000 Jugendliche neu auf einen Arbeitsmarkt, dessen Entwicklungsperspektiven pessimistisch stimmen.

Bis auf den äußerst erfolgreichen Erdgas- und Erdölsektor weist die algerische Industrie mehrheitlich negative Wachstumsraten aus und die Transformation der algerischen Wirtschaft von einer Staats- zu einer Marktwirtschaft geht nur zögerlich voran. Die meisten Reformen werden von politischen, militärischen und bürokratischen Eliten blockiert, die fürchten, dass ihnen mit einer Entflechtung von Wirtschaft und Politik und mit der Auflösung von Monopolen, etwa durch Privatisierung, ihre Pfründen davon schwimmen. Die Ablösung der "militärisch-politischen Finanzmafia", die sich mittels Korruption und Vetternwirtschaft bereichert, ist denn auch eine Hauptforderung der Demonstranten.

Auffällig dabei ist, dass die Forderungen der Aufständischen im Jahr 2001 fast identisch sind mit denjenigen von 1988, vor Beginn der kurzen demokratischen Öffnung. Die algerische Politik scheint sich im Kreis gedreht zu haben. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Algerien seit fast vier Jahrzehnten von den gleichen Personen, welche in wechselnden militärischen und politischen Schlüsselpositionen auftauchen, regiert wird. Dazu gehört der heutige Präsident, Bouteflika, der schon vor über 35 Jahren als Außenminister amtierte. Geändert hat sich lediglich, dass die algerischen Generäle im Gegensatz zu den achtziger Jahren nicht mehr die innen- und außenpolitischen Entscheidungen in einem Einparteiensystem auf undurchsichtige Weise steuern, sondern in einem formell pluralistischen System.

Libyen - Grüne Revolution

Hanspeter Mattes

Der vom "Bund der freien unionistischen Offiziere" unter Führung von Muammar al-Gaddafi (geboren 1942) am 1. September 1969 ("Septemberrevolution") herbeigeführte Sturz von König Idris al-Sanussi (1890–1983) geschah in einer gesamtarabischen Umbruchzeit, die stark von nationalistischem Gedankengut und dem Streben nach nationaler Selbstbestimmung geprägt war. Daraus resultierte eine spezifische Weltsicht und vor allem eine radikale Kritik an der politischen Situation im formal seit Dezember 1951 unabhängigen Königreich Libyen.

Die Kritik konzentrierte sich auf vier Aspekte:

  • die Unzulänglichkeiten des politischen Systems, das einen finanziell sehr aufwändigen Regierungsapparat mit einer Bundes- und drei Provinzregierungen unterhielt. Es war charakterisiert durch die Konflikte zwischen Monarchisten und Republikanern, das Vorherrschen traditioneller Eliten (Stammesscheichs) in den politischen Entscheidungsgremien und die Tendenz zur Unterdrückung kritischer Meinungen und zum Verbot von Parteien (1952) und Gewerkschaften.

  • die Unfähigkeit der Regierung zur Steuerung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Zählte Libyen noch 1951 zu den ärmsten Ländern der Erde, begann 1959 mit der Förderung des Erdöls eine Phase des von der Regierung nicht mehr gesteuerten finanziellen Überflusses und des gesellschaftlichen Umbruchs; so wandelte sich Libyen binnen kurzem zu einer unproduktiven Gesellschaft, in der Importe mehr und mehr die eigene Produktion ersetzten. Hinzu kamen die Landflucht, die Auflösung der Familien- und Stammesstrukturen und weitverbreitete Armut, während auf der anderen Seite eine kleine Gruppe einflussreicher Familien sich maßlos bereicherte und im Überfluss lebte.

  • die einseitige Ausrichtung der Außenpolitik auf Großbritannien und die USA. Dies war eine direkte Folge des Dekolonisationsprozesses (britisch-französische Militäradministration 1943–1951) und der anfänglichen finanziellen Probleme des Landes, die dazu führten, dass Libyen für die Überlassung von Stützpunkten an die USA und Großbritannien Wirtschafts- und Finanzhilfe erhielt. Mit der Entdeckung des Erdöls, an dessen Förderung maßgeblich britische und amerikanische Firmen beteiligt waren, verdichtete sich die militärisch-politische Zusammenarbeit, so dass allenfalls von einer "Pseudounabhängigkeit" Libyens (Ruth First) zwischen 1951 und 1969 gesprochen werden kann.

  • schließlich die Verwestlichung des öffentlichen Lebens vor allem in den beiden größten Städten, Tripolis und Bengasi. Der weitgehend konservativen libyschen Gesellschaft war die zunehmende Ausbreitung (freizügiger) westlicher Mode, westlicher Musik, des Alkoholkonsums, der Prostitution und der Amüsierbetriebe sowie der englischen Sprache (insbesondere auch im Militär) ein Dorn im Auge und galt als "Verrat am arabisch-islamischen Erbe".

Die Revolution vom 1. September 1969 war eine Reaktion auf diese Entwicklungen. Die neue Staatsführung – ein zunächst zwölfköpfiger, von Gaddafi geleiteter "Revolutionärer Kommandorat" – trat unter der Leitlinie "Freiheit, Sozialismus, Einheit" mit dem Anspruch an, Fremdbestimmung und ausländischen Einfluss zurückdrängen zu wollen und eine Politik im Dienste der "jamahir" (arabisch: Volksmassen, ein Schlüsselbegriff der gaddafischen Ideologie) umsetzen zu wollen. Dazu entwickelte sie ein national wie international umgesetztes revolutionäres Aktionsprogramm.

Politik der Selbstbefreiung

Im innenpolitischen Bereich zählte hierzu die Suche nach einem authentischen arabisch-islamischen Regierungssystem, außenpolitisch die Schließung der britischen (28. März 1970) und amerikanischen Militärstützpunkte (11. Juni 1970) sowie die Ausweisung der letzten italienischen Siedler (Oktober 1970). Zugleich begann die offensive finanzielle und materielle Unterstützung anderer Staaten und Völker, die ihrerseits für ihre Selbstbefreiung kämpften. Libyen unterstützte seit 1969 – mit allen Auswüchsen, zu denen dies in den achtziger Jahren führte – zahlreiche Befreiungsbewegungen, deren Spektrum von den Palästinenserorganisationen über den südafrikanischen African National Congress, ANC, die für eine unabhängige Westsahara kämpfende Polisario, die Moro-Befreiungsbewegung auf den Philippinen bis hin zur irischen IRA und dem American Indian Movement reicht(e).

Im wirtschaftlichen Bereich führte die von Gaddafi propagierte "Wiedereinsetzung des libyschen Volkes in seine Rechte" zu zahlreichen sukzessive eingeleiteten Maßnahmen und Positionsneubestimmungen im nationalen wie internationalen Bereich. Neben die noch 1970 umgesetzte Verstaatlichung der ausländischen Unternehmen und Banken sowie ab 1973 auch der großen internationalen Erdölfirmen trat international die vom Revolutionären Kommandorat unterstützte neue Erdölpolitik mit dem Ziel der Maximierung der Erdöleinnahmen sowie die Unterstützung der Süd-Süd-Kooperation, der Neuen Weltwirtschaftsordnung und der Kampf gegen führende transnationale Konzerne. Die ökonomische Selbstbefreiung sollte durch die in zahlreichen Reden Gaddafis angesprochene umfassendere "soziale Revolution" verwirklicht werden. Entsprechende Entwicklungspläne des Revolutionären Kommandorates erzielten im Bildungs- und Gesundheitswesen, im Transport- und Kommunikationsbereich sowie in der Landwirtschaft und im sozialen Wohnungsbau (zumindest unter quantitativen Gesichtspunkten) beeindruckende Erfolgsbilanzen, bevor Ende der siebziger Jahre ideologisch motivierte Wirtschaftseingriffe kontraproduktiv wirkten.

Die politische und wirtschaftliche Selbstbefreiung wurde schließlich durch die kulturelle Selbstbefreiung ergänzt, deren Ziel die Aufwertung des arabisch-islamischen Erbes war. Sie bestand aus einer vollständigen und rigorosen Arabisierungspolitik: dem ausschließlichen Gebrauch des islamischen Kalenders, einem Alkoholverbot und einer Teilislamisierung der Gesetze. Daneben gab es weitere Ansätze zur Entkolonialisierung der libyschen Geschichtsschreibung, zur Förderung libyscher Nationalkleidung und zur Bewahrung des arabischen Musikerbes. Dauerhaft seit 1970 ist die vom libyschen Staat betriebene islamische Mission mit gegenwärtigen Schwerpunkten in Schwarzafrika und Zentralasien.

Die über dreißigjährige Periode, seit der Gaddafi die politische Entwicklung Libyens lenkt, lässt sich in mehrere Teilphasen untergliedern.

In der ersten Phase (September 1969 bis Juni 1971), als die Ausprägung einer revolutionären Ideologie noch in den Anfängen steckte, dominierten die skizzierten Neuansätze in der Außen-, Wirtschafts- und Kulturpolitik, das Bestreben zur Beseitigung der sozialen Ungerechtigkeit und zur Überwindung der außenpolitischen Abhängigkeit. Dies führte indes nicht zur demokratischen Öffnung mit einer Wiederzulassung von Parteien und freien Gewerkschaften, sondern zur Einsetzung eines starken Revolutionsrates, wie er in der Verfassungserklärung vom 11. Dezember 1969 bereits festgeschrieben wurde, und am 11. Juni 1971 zur Gründung einer panarabisch orientierten Einheitspartei, der "Arabischen Sozialistischen Union" (ASU), die den "Volkswillen" artikulieren sollte. Das zeitgleich mit der Verfassungserklärung verabschiedete und bis heute gültige "Dekret zum Schutz der Revolution" bedrohte jeden, der die Grundlagen der Revolution in Frage stellte, mit Haft oder der Todesstrafe.

Die zweite Phase nach Gründung der ASU bis zum Beginn der "Volksrevolution" 1973 war durch eine weitere Einengung des organisationspolitischen Pluralismus (Verbot aller politischen Aktivitäten außerhalb der ASU; Verbot von Streiks), aber auch durch das Scheitern der mit der ASU verbundenen Hoffnungen gekennzeichnet. Denn die ASU war nicht, wie gedacht, das Instrument zur Massenmobilisierung und zur Umsetzung sozioökonomischer Entwicklung geworden, sondern mutierte schnell zu einer Parallelbürokratie entlang von Stammesbeziehungen. Diesen Stillstand suchte Gaddafi mit einer "Volksrevolution" zu überwinden. Als Folge entstanden erstmals in Libyens Geschichte kollektive Verwaltungsstrukturen (so genannte Volkskomitees).

In der dritten Phase (April 1973 bis Anfang 1976) ging es Gaddafi darum, die landesweit entstandenen exekutiven Volkskomitees und die ASU als Organ der Willensbildung miteinander zu verzahnen. Gaddafi zog sich deshalb im Frühjahr 1974 aus den laufenden Amtsgeschäften zurück und widmete sich in seiner Heimat, der Syrteregion, "ideologischen Aufgaben". Ergebnis seiner Überlegungen war das "Grüne Buch" (zumindest dessen erster Teil: "Die Lösung des Demokratieproblems. Die Volksrevolution"), das Gaddafi im Mai 1975 erstmals der Öffentlichkeit vorstellte. Darin legte er fest, dass die Parteizellen der ASU in für alle Libyer und Libyerinnen über 18 Jahre offene "Basisvolkskonferenzen" umgewandelt werden sollten, denen legislative Aufgaben zufallen. Die exekutiven Volkskomitees sollten zukünftig alle zwei Jahre gewählt werden und den Volkskonferenzen verantwortlich sein.

Diese "Volkskonferenzen-Volkskomitee-Struktur" sollte ganz Libyen überziehen und hierarchisch aufgebaut sein (lokale, regionale und nationale Ebene). Beschlüsse der Basisvolkskonferenzen sollten von der nationalen "Allgemeinen Volkskonferenz" auf ihrer regulären jährlichen Sitzung in Gesetze gefasst werden und ihre von der Basis bestimmten Mitglieder die Regierung (das Allgemeine Volkskomitee) wählen. Dieses so genannte direktdemokratische Regierungssystem wurde im zweiten Halbjahr 1975 aufgebaut, so dass die Allgemeine Volkskonferenz im Januar 1976 erstmals tagen konnte. Der Institutionenbildungsprozess war damit in seinen Grundzügen abgeschlossen.

Zerschlagung jeder Opposition

Die vierte, von 1976 bis in die Gegenwart andauernde Phase ist zwar einerseits von einer institutionellen Kontinuität gekennzeichnet, andererseits fanden in ihr verschiedene Teilentwicklungen statt, die alle in irgendeiner Form mit dem der Bevölkerung gewährten Intervall politischer Mitbestimmung zu tun haben. Hierzu zählte, nach der konstitutionellen Verankerung des im Grünen Buch beschriebenen politischen Systems 1977, ab 1978 die Gründung von "Revolutionskomitees". Gebildet aus jüngeren Anhängern Gaddafis, waren sie ursprünglich als Organ zur Massenmobilisierung gedacht, wurden indes bald militantes Organ zur Durchsetzung weiterer ideologischer Programmpunkte Gaddafis und Organ zur physischen Liquidierung dabei entstehender politischer Opposition.

Gaddafi hatte nämlich im November 1977 den zweiten Teil des Grünen Buches ("Die Lösung des ökonomischen Problems. Der Sozialismus") verfasst und ab 1979/80 mit der Umsetzung der darin propagierten "Produzentenrevolution" (Gründung von Arbeiterkomitees in Betrieben), der "Zerschlagung des ausbeuterischen Privathandels" und der Sozialisierung des Mietwohnraums begonnen. Proteste von Unternehmern, Händlern und Wohnhausbesitzern wurden als "konterrevolutionäre Akte" bekämpft.

Der sich so herausbildende Revolutionssektor, also Gaddafi als "Revolutionsführer" (so sein offizieller Titel seit 1979), die restlichen Mitglieder des inzwischen aufgelösten Revolutionären Kommandorates von 1969 und die Mitglieder der Revolutionskomiteebewegung, war und ist kraft "revolutionärer Legitimität" im Amt, weder gewählt noch abwählbar. Dies gilt indes nicht für die Mitglieder der Volkskomitees, die alle zwei Jahre neu gewählt werden oder sich wie die Mitglieder des Allgemeinen Volkskomitees jährlich vor der Allgemeinen Volkskonferenz zu verantworten haben.

Der Revolutionssektor hat mit großer Härte alle Kritiker des politischen Systems oder politischer Einzelentscheidungen verfolgt und gegen sie gesetzgeberische Maßnahmen getroffen. Insbesondere die seit Anfang der neunziger Jahre entstandenen islamistischen Gruppen, die Gaddafi als "Ketzer" bezeichneten, und die aktiv das Revolutionsregime bekämpfen, waren Opfer massiver Menschenrechtsverletzungen.

Aber auch Gesetze wie das so genannte Reinigungsgesetz von 1994 oder der "Ehrenkodex" von 1997, der Kollektivstrafen für Familien und Stämme vorsieht, wenn diese "Verräter an den revolutionären Prinzipien" aus ihren Reihen nicht den Behörden ausliefern, zeigt die engen Grenzen politischer Partizipation und Meinungsfreiheit in Libyen auf. Dennoch ist die Entwicklung in Libyen nicht nur negativ zu beurteilen. Die großzügige Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik, aber auch die starke Förderung der Rechte der Frauen (bis hin zur Eröffnung der bislang einzigen arabischen Frauenmilitärakademie in Tripolis im März 1979) sichern der Revolutionsführung noch immer Unterstützung in der Bevölkerung.

QuellentextKehrtwende in den Außenbeziehungen?

Während des EU-Afrika-Gipfeltreffens im Jahr 2000 fand der libysche Revolutionsführer in Kairo Gelegenheit, seine Wiederaufnahme in die Völkerfamilie vor allem durch Gespräche mit europäischen Regierungschefs medienwirksam zu demonstrieren. Dabei wurde die Neuorientierung der zukünftigen libyschen Außenpolitik deutlich: Sie besteht einerseits in einem verstärkten politischen Engagement im afrikanischen Bereich und andererseits in einer wirtschaftlichen Hinwendung zu Europa.

Nachdem Libyen in den letzten Jahren durch seinen Truppenrückzug aus dem zeitweise besetzten Nord-Tschad und den anschließenden Verzicht auf den umstrittenen Aouzou-Streifen im Grenzgebiet zu Niger und Tschad seinen Frieden mit der OAU (Organisation für Afrikanische Einheit) gemacht hatte, setzte sich diese im Gegenzug verstärkt für eine Lockerung der gegen Libyen verhängten UN-Sanktionen ein. Prominentester Fürsprecher war Nelson Mandela. An den Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der libyschen Revolution im September 1999 nahmen auffallend viele Gäste aus schwarzafrikanischen Ländern teil. Im Jahr 2000 beteiligten sich sogar libysche Offiziere mit Billigung der USA an Friedenssondierungsgesprächen in der Demokratischen Republik Kongo. [...]

Geradezu revolutionär [...] sind die libyschen Signale in Bezug auf eine künftige wirtschaftspolitische Zusammenarbeit mit Europa. Mehrfach wurde die Bereitschaft bekräftigt, die Bedingungen der „Barcelona-Vereinbarungen“ zu akzeptieren, welche die Beziehungen zwischen der EU und den Mittelmeeranrainern regeln [...], aber auch das Bekenntnis zu Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie beinhalten. Selbst Libyens frühere Forderung nach einem Ausschluss Israels wird nicht mehr aufrechterhalten. Nachdem Gaddafi im August 2000 im libyschen Radio bereits verkündet hatte, dass „sozialer Kapitalismus“ möglicherweise doch der bessere Weg sei, erklärte er kürzlich gegenüber der ägyptischen Zeitschrift Al-Ahram enge Beziehungen zu Europa und die Eingliederung in die euro-mediterrane Partnerschaft zu seinen vorrangigen politischen Zielen.

Geplante Investitionen in Milliardenhöhe und ein tatsächliches Wirtschaftswachstum um 5 Prozent setzen im Ausland deutliche Signale. Als Auftraggeber und Handelspartner ist Libyen bei ausländischen Firmen mittlerweile wieder ebenso beliebt wie gegen Ende der siebziger Jahre. Wichtigste Außenhandelspartner sind Italien und Deutschland. Mehr als 40 Prozent der libyschen Exporte fließen nach Italien, gefolgt von Deutschland mit 17 Prozent [...].

Andreas Dittmann, Libyen – Land im Abseits?, in: Geographische Rundschau 6/2001, S. 12 ff.

Monarchie in Marokko

Sonja Hegasy

Marokko nennt sich "konstitutionelle Monarchie". De facto steht der König jedoch über der Verfassung und unterliegt keiner parlamentarischen Kontrolle oder Rechenschaftspflicht. Die Verfassung gilt nur als Regelwerk innerstaatlicher Organisation, nicht aber als Quelle staatlicher Macht. Seinen Herrschaftsanspruch leitet der König aus seiner religiösen, genealogischen und dynastischen Legitimität ab: Er wird als "Führer der Gläubigen" verehrt, weil er als Nachkomme der seit 1796 in Marokko herrschenden Alawiden-Dynastie und auch als direkter Nachfahre des Propheten Mohammed gilt. Das Verhältnis des Volkes zum König ist so persönlich-spirituell, dass seine religiöse Legitimität von der Mehrheit der Bevölkerung nicht in Frage gestellt wird. Man spricht in Marokko von einem Staatsfundamentalismus, der sich auf die Fundamente des Islam bezieht. Die islamistische Terminologie ist somit schon weitgehend durch das Herrscherhaus besetzt und kann nicht so leicht wie in anderen arabischen Ländern als Fundus systemkonträrer Äußerungen dienen.

Am stärksten auf den Aufbau einer konstitutionellen Monarchie ausgerichtet war nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 der Conseil National Consultatif (CNC, Nationaler Konsultationsrat), der sich aus 76 vom König ernannten Vertretern der Parteien, der Interessenverbände, der islamischen Rechts- und Religionsgelehrten sowie einem jüdischen Rechtsgelehrten zusammensetzte. Der Conseil National Consultatif hatte jedoch weder exekutive noch legislative Funktionen, sondern diente dem König als "Stimmungspegel" für gesellschaftliche Strömungen. Es war jedoch insbesondere dieses Gremium, auf das der Vorgänger des jetzigen Monarchen, Hassan II. (Regierungszeit: 1961 bis 1999), Bezug nahm, wenn er von einer authentischen, marokkanischen Demokratie nach Vorbild der islamischen Schura (arabisch: Ratsversammlung) sprach. Dabei repräsentierte der Conseil National Consultatif nur einen Ausschnitt der marokkanischen Gesellschaft. Seine Schwächen lagen in der Ausgrenzung großer Teile der Bevölkerung.

Die erste marokkanische Verfassung wurde 1962 per Volksentscheid mit 99 Prozent der Stimmen angenommen. Mit ihr wurden ein Zweikammerparlament und ein Mehrparteiensystem errichtet. Beides darf allerdings nicht als Konzession an eine pluralistische Demokratie bewertet werden, sondern muss als Teil der erfolgreichen Politik des divide et impera (lateinisch: teile und herrsche) von Hassan II. gesehen werden. Hinter der liberal und demokratisch anmutenden Verfassung stand kein derartiges Staatsverständnis. Auch das moderne Staatswesen Marokkos war weiterhin auf zentralistischen und autoritären Strukturen aufgebaut.

Keine Möglichkeit zur Opposition

Die erste Kammer des Parlaments setzte sich bis 1997 nach folgendem Wahlmodus zusammen: Zwei Drittel der Abgeordneten wurden direkt gewählt. Die restlichen Mandatsträger wurden in indirekter Wahl von Vertretern der Gewerkschaften, Gemeinderäte und Berufskammern gewählt. Da diese aufgrund ihrer Stellung im politisch-administrativen System häufig konservativ und königstreu eingestellt waren, führte das immer dazu, dass das Wahlergebnis zugunsten der Königstreuen ausschlug. Erst durch eine Verfassungsänderung 1997 wurde die Direktwahl der ersten Kammer in ihrer Gesamtheit eingeführt. Der König entscheidet anschließend über die Regierungsbildung und beauftragt auch schon mal einen Verwandten, eine "Oppositionspartei" zu gründen. Politik in echter Opposition, gegen den Willen des Königs durchzusetzen, ist kaum möglich.

Desweiteren ist der König Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Hohe Militärs und zivile Beamte werden durch ihn ernannt. Auch die Judikative wird in der Praxis vom König dominiert: Er ernennt die Richter, die bevollmächtigt sind, in seinem Namen Recht zu sprechen. In Marokko herrscht ein duales Rechtssystem, dessen religiöser Teil Familien- und Erbrecht verhandelt, während die auf französischer Jurisprudenz aufbauende säkulare Rechtsprechung alle weiteren Rechtsgebiete bearbeitet.

Der Spielraum der konstitutionellen Organe ist höchst knapp bemessen. Unter Hassan II. wurden Innovationsimpulse zwar angenommen, aber über diese Funktion der Institutionen hinaus war sein Partizipationsverständnis sehr begrenzt. Vielmehr dienten die Beratungsgremien zur politischen Beschwichtigung und zur Bindung gesellschaftlicher Interessen. Politisch neuralgische Probleme wurden vom König und seinen Beratern entschieden. Oppositionelle Forderungen artikulierten sich daher eher in den zum Teil legal, zum Teil illegal operierenden Organisationen der Islamisten und in den vielen kleinen Nichtregierungsorganisationen als im Parlament. Auch die Bildung einer Regierung mit Beteiligung der Union Socialiste des Forces Populaires (USFP) im Auftrag Hassans II. 1998 hat daran nichts geändert. Der sozialistische Premierminister Abderahman Youssoufi ist ein ehemaliger Regimekritiker, der 1993 ins Exil ging, um gegen die damaligen Wahlfälschungen zu protestieren. Auch wenn er als integre Persönlichkeit geschätzt wird, ist die Bilanz seiner bisherigen Regierungszeit negativ. Die Schwäche der Sozialisten kommt vor allem den Islamisten zugute, denn sie können sich als wahre Vertreter des Volkes darstellen, die soziale Gerechtigkeit sowie eine Umverteilung des Reichtums einfordern.

QuellentextSchwieriger Kampf für die Menschenrechte

Experten streiten darüber, ob man von Zivilgesellschaften in Nordafrika sprechen kann oder ob die Menschen, die sich dort in Interessenverbänden engagieren, dafür eine zu kleine Minderheit darstellen. Tatsache ist jedoch, dass die reine Anzahl von Nichtregierungsorganisationen (NRO) seit Mitte der achtziger Jahre rapide zugenommen hat und dass eine Minderheit dieser Gruppierungen auch tatsächlich Druck auf die politischen Entscheidungen ihrer Länder ausübt. NRO sprechen Themen an, die die Regime lieber nicht erwähnen wollen: an erster Stelle Menschenrechtsverletzungen, aber beispielsweise auch AIDS, das islamische Ehe- und Familienrecht, Arbeitslosigkeit, Umgang mit Minderheiten oder Wohnungsnot. Begünstigend für ihre Arbeit erwies sich das internationale Umfeld insbesondere in den neunziger Jahren, da nach dem Ende des Kalten Krieges weniger die Blockzugehörigkeit eines Landes interessierte, sondern mehr seine Bemühungen, Menschenrechte einzuhalten und gesellschaftliche Partizipation zuzulassen.

Erste Ansätze zur Bildung von unabhängigen Menschenrechtsorganisationen reichen bis in die sechziger Jahre zurück. Zu einem spürbaren gesellschaftlichen Faktor entwickelten sie sich allerdings erst mit Beginn der achtziger Jahre. Auf einer Konferenz in Limasol, Zypern, zum Thema „Die Krise der Demokratie in der arabischen Welt“ wurde 1983 der Grundstein für die Entstehung der Arab Organization for Human Rights (AOHR) gelegt. Bezeichnenderweise konnte die Konferenz, an der mehr als hundert arabische Intellektuelle teilnahmen, damals in keinem arabischen Land stattfinden. Anschließend ließen jedoch immer mehr arabische Regierungen unabhängige Menschenrechtsvereine zu. Die Mitgliedsorganisationen der AOHR auf nationaler Ebene sind sowohl Neugründungen, wie zum Beispiel die Egyptian Organization for Human Rights (EOHR), als auch bereits bestehende Organisationen, wie in Marokko und Tunesien. Heute bestehen mit Ausnahme von Libyen in allen nordafrikanischen Staaten regierungsunabhängige Menschenrechtsorganisationen.

In den siebziger und achtziger Jahren gehörte Marokko zu den Ländern mit den schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen in der Region. Verschleppung, Inhaftierung ohne Anklage, Sippenhaft und Folter waren unter der Herrschaft König Hassans II. an der Tagesordnung. Erst mit dem Wunsch nach Annäherung an die EU wurde zunehmend auch von Regierungsseite auf die Einhaltung internationaler Menschenrechtsstandards geachtet und die erst lokalen, unabhängigen Menschenrechtsorganisationen konnten sich gründen. Seit 1992 konzentrierten sich viele Frauen- und Menschenrechtsvereine auf eine Reform des veralteten Ehe- und Familienrechts von 1957, die dann im September 1993 erfolgte. Seitdem kann ein Vormund sein Mündel nicht mehr zur Ehe zwingen, schließt aber nach ihrer Zustimmung weiterhin den Ehevertrag für sie ab. Neu ist, dass Waisen die Ehe selbst schließen oder ihren Vormund selbst bestimmen dürfen. Nach dem Tod des Vaters erhält die Mutter nun automatisch die Vormundschaft für ihre Kinder und die rechtliche Vertretung für die Familie, während diese vorher an einen Richter fiel. Unter Berufung auf den Koran sind Polygamie und Verstoßung allerdings weiterhin erlaubt und die Vormundschaft des Vaters bzw. des Ehemannes wurde beibehalten. Durch die Reformen wird einer Frau nach der Verstoßung jedoch wenigstens eine Ausgleichszahlung zugesprochen.

In Ägypten nahm der Staat im Jahr 1999 durch neue Gesetzesregelungen das Vereinswesen unter verschärfte Kontrolle: Verfügt wurde unter anderem die Auflösung und Pflicht zur Neuanmeldung aller bestehenden Vereine. Ihre Zulassung kann jederzeit ohne gerichtliche Verfügung widerrufen werden und die Teilnahme an der Versammlung eines nicht zugelassenen Vereins kann strafrechtliche Folgen haben. Somit geriet die Egyptian Organization for Human Rights (EOHR) unter erheblichen Druck, als ihr im Jahr 2000 die offizielle Registrierung mit dem Hinweis auf „Sicherheitsbedenken“ verweigert wurde.

Die ägyptische Regierung hat in jüngster Zeit mehrmals Menschenrechtsaktivisten unter Berufung auf einen Militärerlass kriminalisiert, der eigentlich jede Organisation dazu verpflichtet, für die Entgegennahme von Spenden oder ausländischer Finanzierung eine Vorabgenehmigung einzuholen. Dieser Erlass wurde weitgehend ignoriert und findet bezeichnenderweise lediglich gegenüber Menschenrechtsaktivisten Anwendung. So wurde dem Generalsekretär der EOHR, Hafez Abu Sa'ada, im Februar 2000 unter Berufung auf diesen Erlass mit einem Prozess vor einem Sondergericht gedroht.

Menschenrechtsaktivisten und Journalisten müssen in vielen Ländern in einem Klima der Bedrohung arbeiten, da der Staat willkürlich gegen sie vorgeht. In Ägypten droht durch das neue Pressegesetz von 1996 eine Gefängnisstrafe von bis zu zwei Jahren im Falle einer Verleumdungsklage. Aufgrund dieses Gesetzes fanden immer wieder Prozesse gegen Journalisten statt, insbesondere gegen solche, die sich mit korrupten Politikern beschäftigten. 1999 wurden drei Journalisten der islamistischen Zeitung al-Shacab wegen Verleumdung des Landwirtschaftsministers zu Gefängnisstrafen zwischen ein und zwei Jahren verurteilt.

Sonja Hegasy

Zielsetzungen Mohammed VI.

Eine Mauer trennt die Sahraouis von der Heimat (© Die Zeit)

70 Prozent der Marokkaner kannten nur die Herrschaft Hassans II. Sein Nachfolger, Mohammed VI. versucht seit seiner Thronbesteigung, 1999, Marokko ein moderneres Antlitz zu geben, in dem er die Hofetikette veränderte und einen neuen innenpolitischen Stil einführte. Offiziell sind Kniefall und Handkuss abgeschafft. Auch ernannte Mohammed VI. zum ersten Mal einen Sprecher des Hofes. Diese symbolischen Veränderungen sind kleine, aber wichtige Schritte auf dem Weg zu einem modernen Staatswesen, insbesondere in Staaten, in denen der Symbolik von Politik ein hoher Stellenwert zukommt.

Drei Ziele hat sich Mohammed VI. gesetzt: Armutsbekämpfung, Emanzipation der Frau und Durchsetzung eines Rechtsstaates. Über wohltätige Gesten und erste Ansätze sind diese Reformideen allerdings bisher nicht hinaus gekommen. Zwar entließ er zur allgemeinen Überraschung den langjährigen Innenminister und Vertrauten Hassans II., Driss Basri, der in zahlreiche Unrechtstaten des Regimes verstrickt war, und kündigte einen gesellschaftlichen Versöhnungsprozess zwischen den Opfern der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und den Tätern an. Aber diese Maßnahmen verbessern nicht den Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit. Auf dem Land sind noch immer 85 Prozent der Dörfer ohne Stromanschluss und 70 Prozent ohne Trinkwasserversorgung. Wichtiger als die Hofetikette sind daher eine effektive Armutsbekämpfung sowie Programme gegen die Arbeitslosigkeit und zur Reduzierung der hohen Analphabetenzahl.

Die Armen und die Analphabeten sind die Klientel der Islamisten. Der Gründer der anhängerstärksten Organisation "Gerechtigkeit und Wohlfahrt", Abdessalam Yassine, war nach seiner Zwangseinweisung in die Psychiatrie in den siebziger Jahren und einer Verurteilung zu zwei Jahren Haft 1990 unter Hausarrest gestellt worden, nachdem er Hassan II. den Titel "Führer der Gläubigen" streitig gemacht hatte. In einem offenen Brief hatte er ihn respektlos mit den Worten "Lieber Neffe des Propheten" angesprochen.

Diese Art der Opposition scheint Mohammed VI. nun weniger zu fürchten. Im Mai 2000 hob er den Hausarrest für Yassine auf. Schwieriger ist für ihn der Umgang mit dem Heer der unzufriedenen Jugendlichen, die Arbeit suchen und sich mehr individuelle Freiheiten wünschen. Ihre Unzufriedenheit kann an den Pfeilern der Monarchie rütteln, wenn der neue Hoffnungsträger nur schöne Worte anzubieten hat. Der Chefredakteur der marokkanischen Wochenzeitung Le Journal, Abu Bakr Jamaï, spricht inzwischen sogar von einer "heiligen Allianz" zwischen dem höfischen Machtapparat und demokratiefeindlichen Kräften innerhalb der USFP, die eine Erstarrung des gesamten öffentlichen Lebens betreiben und den König isolieren. Er fordert, dass die Monarchie zu einer neuen Rolle finde, die eine junge Elite an die Macht bringt, um sich dann auf repräsentative Aufgaben zu beschränken. Viele Marokkaner denken hierbei an die spanische Monarchie, die eine entscheidende Rolle beim Übergang vom Faschismus zur Demokratie gespielt hat. Aber außer Freundschaftsbekundungen zwischen Mohammed VI. und König Juan Carlos deutet nichts auf einen solchen Prozess in absehbarer Zeit hin.

Mauretanien - Brücke nach Schwarzafrika

Britta Frede

Arabische Mauren und Berber im Norden und schwarzafrikanische Wolof, Soninké und Peul im Süden: Die islamische Republik Mauretanien stellt ein Brückenland zwischen dem nordafrikanisch und dem subsaharisch geprägten Raum Afrikas dar.

Das in den letzten Jahren vor der Unabhängigkeit von Frankreich 1960 entstandene Mehrparteiensystem wurde unter der Präsidentschaft von Mokhtar Ould Daddah (1960–78) abgeschafft. Anfänglich versuchte das schwache Regime Rückhalt bei den schwarzafrikanischen Organisationen zu finden. In den siebziger Jahren folgte ein Orientierungswechsel zum arabisch-islamischen Maghreb. Der Krieg um die Westsahara führte zu einem starken Ausbau der Armee und zum politischen und wirtschaftlichen Ruin des Regimes.

Im Juli 1978 löste das Militär die Zivilregierung ab und institutionalisierte sich ab 1979 als Comité Militaire du Salut National (CMSN). Mouawiya Ould Sid' Ahmed Taya übernahm nach mehreren Wechseln 1984 die Präsidentschaft. Der Kampf zwischen den maurischen und schwarzafrikanischen Eliten um politische und wirtschaftliche Macht nahm in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft zu. Nach dem umstrittenen Landreformgesetz 1983 und einem schwarzafrikanischen Putschversuch 1987, den nach allgemeiner Ansicht eine Gruppe von Peul geplant hatte, kam es 1989 zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Mauren und Schwarzafrikanern. Die darauf folgenden Massenausweisungen und die blutigen Unruhen in der südlichen Grenzregion verursachten starke Spannungen mit den Nachbarländern, insbesondere mit dem Senegal.

Da sich Mauretanien im zweiten Golfkrieg auf die Seite Saddam Husseins begeben hatte, stellten die Golfstaaten ihre finanzielle Unterstützung ein. Dies verstärkte die sich 1990 abzeichnende Wirtschaftskrise und das Militärregime verlor seine Legitimation. Schon 1986 hatte der CMSN mit der Einführung einer Demokratisierung begonnen, indem er Kommunalwahlen abhielt. 1991 gründete Ould Taya die Parti Républicain Démocratique et Social (PRDS) und eine demokratische Verfassung wurde erarbeitet.

Ein Zweikammernparlament, Parteienpluralismus und eine starke Präsidentenposition wurden mit der neuen Verfassung vom Juli 1991 verabschiedet. Die Scharia ist die Grundlage des Rechts.

1992 fanden die ersten Wahlen statt. Die PRDS gewann die Wahlen mit absoluter Mehrheit. Die Opposition hatte sich unter der Leitung von Ahmed Ould Daddah, einem Bruder des früheren Präsidenten, zu einem Bündnis zusammengeschlossen. Sie warfen Ould Taya und seiner PRDS Wahlbetrug vor. Die Regierung wurde mit Angehörigen der verschiedenen Ethnien besetzt. Insgesamt handelte es sich um Leute aus dem Lager Ould Tayas. In allen wichtigen politischen Gremien – dem Parlament, dem Senat und dem Verfassungsrat – nahm die PRDS eine Monopolstellung ein.

Brennpunkte

Mauretanien hat in den letzten Jahrzehnten einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel erfahren: 1965 lebten 73 Prozent der Bevölkerung als Nomaden, 1988 nur noch zwölf Prozent. Einhergehend mit der Sesshaftwerdung der Nomaden wuchsen die Städte, insbesondere die Hauptstadt Nouakchott. 1960 betrug der Anteil der städtischen Bevölkerung sechs Prozent, 1999 56 Prozent.

Die Versorgung der Städte mit Wasser und Elektrizität war angesichts des schnellen Wachstums nicht möglich. Erst in den letzten Jahren sind die Zeltsiedlungen zu Gunsten fester Bebauungen in Nouakchott verschwunden. Die Infrastruktur des Landes ist unterentwickelt. Es gibt nur zwei ausgebaute Straßen. Eine führt von der Hauptstadt Richtung Osten, die andere nach Norden. Jetzt soll die Hafenstadt Nouadhibou an Marokko angebunden werden. Die Wirtschaft ist strukturell anfällig, da die Deviseneinnahmen sich fast ausschließlich aus dem Bergbau (Eisenerz) und der nicht ausreichend modernisierten Fischerei zusammensetzen. Die Einnahmen und Ausgaben des Landes hielten sich 1999 die Waage. Der größte Teil der Devisen fließt immer noch in die Einfuhr von Nahrungsmitteln. Die Einkommensverteilung ist extrem ungleich: 1998 lebte über die Hälfte der Bevölkerung in absoluter Armut mit einem Einkommen von unter einem US-Dollar am Tag.

Schwierige Lebensbedingungen und ungleiche Einkommensverteilung schüren die sozialen Konflikte. Das tribalistische Klientelsystem und die inzwischen wieder eingestellte Arabisierungspolitik förderten die Polarisierung zwischen Mauren und Schwarzafrikanern. Sie gipfelte 1989 in bürgerkriegsähnlichen Unruhen, die sich vor allem gegen die Peul richteten. Bis heute ist der Konflikt trotz Beruhigung nicht aufgehoben.

Auch innerhalb der maurischen Gesellschaft selbst gibt es Spannungen. Es wurden zwar seit der Unabhängigkeit mehrfach Gesetze erlassen, die Sklavenhaltung untersagten, doch bis heute ist sowohl die Diskriminierung ehemaliger Sklaven, der Haratin, als auch die fortdauernde Existenz von Sklaverei ein Tabuthema. So wurde Boubacar Ould Messaoud, der Vorsitzende der mauretanischen Nichtregierungsorganisation SOS Esclave, die sich für die Rechte der Sklaven und Haratin einsetzt, nach einem Interview im französischen Fernsehen zum Thema Sklaverei in Mauretanien 1998 festgenommen.

Zensur und Inhaftierung von politischen Oppositionellen sind in Mauretanien zehn Jahre nach Einführung der Demokratie immer noch Alltag. Menschenrechte, Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung sind zwar von der Verfassung garantiert, werden aber von der Regierung immer wieder außer Kraft gesetzt. Die wirtschaftliche Stabilisierung des Landes wird der politischen Freiheit untergeordnet. Dennoch bildet sich eine Zivilgesellschaft heraus, in der eine vielfältige Presse, Nichtregierungsorganisationen und Parteien entstanden sind. Die Wirtschaft stabilisiert sich, staatliche Betriebe werden privatisiert. Seit Jahren gibt es eine eigene Mobilfunkgesellschaft, der Bereich der neuen Technologien entwickelt sich.

Ould Taya und seine PRDS regieren weiterhin mit großer Mehrheit das Land. Ihm wurde von der radikalen Opposition, geführt von Ahmed Ould Daddah und seiner Union des Forces Démocratiques – Era Nouvelle (UFD-EN) vorgeworfen, keine freien Wahlen abzuhalten. Deshalb hatte die Opposition immer wieder erfolgreich zum Wahlboykott aufgerufen. Derzeit verhandeln Opposition und Regierung über die Einsetzung einer unabhängigen Wahlkommission. Sollte die zustande kommen, gäbe es eine Chance, der Demokratisierung einen Schritt näher zu kommen.

Tunesien - Autoritarismus versus Modernität

Steffen Erdle

Wie viele arabische Staaten geriet auch die tunesische Republik in den achtziger Jahren in eine schwere Krise. Ursache bzw. Auslöser war ein Bündel sowohl struktureller als auch konjunktureller Faktoren, die zeitlich zusammenflossen, sich gegenseitig verstärkten und schließlich alle Pfeiler des politischen, ökonomischen und sozialen Systems erschütterten.

Die staatliche Ordnung, wie sie ab 1956 vom damaligen Staatspräsidenten Habib Bourguiba (Staatspräsident 1957–1987) geschaffen wurde, beruhte auf mehreren, sich ergänzenden Säulen: An erster Stelle stand ein starker, charismatischer Präsident, der (nach dem Vorbild des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle) zugleich eine Art nationales Symbol und republikanischer Monarch war. An zweiter Stelle kam mit der Parti Socialiste Déstourien (PSD, Sozialistische Déstour-Partei [Déstour (arab.): Verfassung]) eine allgegenwärtige und übermächtige Staats- und Einheitspartei, die alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens monopolisierte. An dritter Stelle ist schließlich eine moderne staatliche Verwaltung zu nennen, die unter den osmanischen Beys geschaffen, von der französischen Kolonialmacht ausgebaut und von den neuen Herrschern übernommen worden war.

Untermauert wurde diese zentralistische und hierarchische Ordnung durch zwei Pfeiler: ein korporatistisches Gesellschaftssystem, in dem spezielle Verbände – für Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Bauern, Frauen etc. – alle sozialen Gruppen erfassten und einbanden, sowie ein binnenorientiertes Wirtschaftssystem. Dieses beruhte – nach einer desaströsen "sozialistischen Phase" in den sechziger Jahren – zwar auf marktwirtschaftlichen Prinzipien, wurde dabei aber vor äußerer Konkurrenz abgeschirmt und vom öffentlichen Sektor beherrscht.

Sowohl außen- als auch gesellschaftspolitisch orientierte sich Habib Bourguiba an der westlichen Welt. Enge diplomatische Beziehungen zu den USA und Europa sollten das kleine Tunesien vor seinen viel stärkeren und bisweilen unberechenbaren Nachbarn schützen und zugleich den lebensnotwendigen Zugang zu den europäischen Märkten sichern. Zugleich garantierte ein für islamische Länder revolutionäres Zivilrecht den tunesischen Frauen rechtliche Gleichstellung. Dies gehört auch heute noch zu den wichtigsten Errungenschaften der Politik Bourguibas.

Instabilität der Wirtschaftsstruktur

Gesellschaftlicher "Fortschritt", verstanden als ökonomische Entwicklung und materieller Wohlstand, sollte (und musste) den politischen Herrschafts- und Alleinvertretungsanspruch des Regimes rechtfertigen. Dieser Anspruch war jedoch zugleich seine Achillesferse, da die tunesische Wirtschaft unter einer strukturellen Instabilität sowie einem chronischen Leistungsdefizit litt. Der schwächste Punkt blieb die nach wie vor dominante, aber insgesamt ineffiziente Landwirtschaft. Regelmäßig auftretende Missernten erstreckten sich wellenartig auf die gesamte Volkswirtschaft und verursachten unmittelbar schwere Konjunktureinbrüche.

Industrie (vor allem Textilien, Leder und Bekleidung) und Dienstleistungen (vor allem Tourismus) hatten zwar eindeutig an Bedeutung gewonnen, waren dabei aber von einem stark fluktuierenden Weltmarkt abhängig sowie einem scharfen internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Die Folge war eine zunehmende Abhängigkeit der tunesischen Wirtschaft von ausländischen Märkten, die jedoch nur durch einige wenige Exportgüter (Landwirtschaft, Textilindustrie, Bodenschätze, vor allem Brennstoffe und Phosphate) gedeckt und nur mit einigen wenigen Handelspartnern (Europa, vor allem Frankreich) abgewickelt wurde. Diese Schwachpunkte korrespondierten mit anderen Ungleichgewichten, wie einem zunehmenden Entwicklungsgefälle zwischen dem Landesinneren und den Küstengebieten, einem exponentiellen Bevölkerungswachstum von 2,5 Prozent sowie einer strukturellen Arbeitslosigkeit von offiziell 15 Prozent, tatsächlich aber eher 20 bis 25 Prozent.

Die Spannungen, die sich aus dem Auseinanderdriften der einzelnen Landesteile sowie der Verelendung immer breiterer Bevölkerungsschichten ergaben, wurden dabei von zwei politischen Kräften aufgegriffen: Zunächst von den Gewerkschaften, die jedoch nach dem Generalstreik von 1978 nachhaltig unterdrückt wurden, sowie anschließend von den Islamisten, die sich 1981 unter der Führung Rachid Ghannouchis als Mouvement de la Tendance Islamique (MTI, Bewegung der islamischen Richtung) zu organisieren begannen. Diese schleichende Krise eskalierte, als Mitte der achtziger Jahre zwei aufeinanderfolgende Missernten mit kollabierenden Ölpreisen und explodierenden Auslandsschulden zusammentrafen. Bald zeigte sich, dass das Regime weder die ökonomische noch die politische Situation meistern konnte: Während die Regierung 1986 den Internationalen Währungsfonds (IWF) um finanziellen Beistand bat, suchte Bourguiba – im Alleingang – durch Betreiben eines Todesurteils gegen Ghannouchi eine Kraftprobe mit den Islamisten – selbst auf die Gefahr eines Bürgerkrieges.

Putsch Ben Alis

Als schließlich am 7. November 1987 Habib Bourguiba von einer Gruppe von Verschwörern um Ministerpräsident Zine El Abidine Ben Ali (geb. 1937), einem General des Staatssicherheitsdienstes, in einem unblutigen Putsch wegen "gesundheitsbedingter Regierungsunfähigkeit" abgesetzt wurde, wankte die alte Ordnung. Das "Neue Regime", wie sich die neuen Machthaber nannten, stand dabei jedoch vor einem doppelten Dilemma. Auf der einen Seite mussten sie die notwendige Unterstützung der einfachen Bevölkerung zurückgewinnen, wobei sie sich jedoch weder auf historische Leistungen noch auf eine demokratische Legitimierung berufen konnten. Andererseits mussten sie die dringendsten Defizite des politischen und ökonomischen Systems beseitigen, konnten dabei (sowohl wegen der Auflagen des IWF als auch wegen der Auswirkungen der Wirtschaftskrise) aber nur sehr beschränkt auf frühere Finanzquellen und bewährte Politikinstrumente zurückgreifen.

Da sie zugleich die aktive Mitwirkung oder zumindest die passive Unterstützung sowohl des "bourguibistischen Establishments" als auch der politischen Opposition benötigten, verfolgten die neuen Machthaber eine mehrgleisige Vorgehensweise: Sie versuchten, die Situation zu entspannen, indem zahlreiche prominente Oppositionelle wie Rachid Ghannouchi und Ahmed Ben Salah freigelassen wurden bzw. heimkehren durften, während andere, besonders sichtbare und verhasste Figuren und Symbole des "Alten Regimes" abgedrängt bzw. abgeschafft wurden. Zudem bemühten sie sich, die Opposition einzubinden, indem demonstrativ der Dialog mit Oppositionellen, Gewerkschaftlern und Menschenrechtlern gesucht wurde. Zusätzlich reformierten die neuen Machthaber Programm und Strukturen der herrschenden Partei und verjüngten ihre Führung.

Mehrere wichtige Initiativen folgten: Im Februar 1988 beschloss das Zentralkomitee der Parti Socialiste Déstourien (PSD), sich in Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD, Konstitutionelle und Demokratische Vereinigung) umzubenennen und neue Forderungen und Strömungen zuzulassen. Mit dem Parteiengesetz vom April 1988 wurden erstmals die Grundlagen für ein Mehrparteiensystem geschaffen. Verboten blieben jedoch Parteien, die "auf religiösen, sprachlichen, rassischen und/oder regionalen Kriterien" beruhten bzw. die "allgemeinen Menschenrechte" sowie die "nationalen Errungenschaften" ablehnten. Durch die Verfassungsänderung vom Juli 1988 wurde die Präsidentschaft auf Lebenszeit abgeschafft. Fortan sollte das Staatsoberhaupt nach den Regeln des allgemeinen Wahlrechts und für die Dauer von jeweils fünf Jahren bestimmt werden. Dies sollte jedoch nur bis zu einer Altersgrenze von 70 Jahren sowie für maximal drei Regierungsperioden möglich sein.

Am 7. November 1988, also genau ein Jahr nach dem Putsch, unterzeichnete Ben Ali mit Vertretern der Oppositionsparteien, der Gewerkschaften, der Wirtschaftsverbände sowie der Islamisten einen "Nationalpakt". Als eine Art Grundgesetz definierte er fortan die Regeln und Grenzen der Politik sowie die Ausgangs- und Bezugspunkte des gesellschaftlichen Lebens. Als "conditio sine qua non" fungierte er generell sowohl für die Anerkennung von Parteien als auch für die Beteiligung an der Politik.

Die Legitimität und die Akzeptanz des Systems sollten erhöht werden, ohne jedoch politische Macht in substanziellem Maße an konkurrierende Gruppen (wie die islamistische Opposition) bzw. rivalisierende Konzepte (wie den politischen Islam) abzutreten. Die "neuen" Machthaber waren somit letzten Endes entschlossen, ihr bisheriges Monopol im politischen Entscheidungs- und Verteilungsprozess festzuschreiben.

Anfang der neunziger Jahre wurde jedoch klar, dass die Strategie einer "kontrollierten" Öffnung gescheitert war. Verdeutlicht wurde das durch den Aufstieg des Islamismus in der Region, der in einem Überraschungserfolg des MTI in den tunesischen Kommunalwahlen vom April 1989 (mit fast 20 Prozent der Stimmen und teilweise über 25 Prozent in den Städten). Dies zeigte, dass die Gesellschaft stärker gespalten war, als die Machthaber dies zugeben (oder wahrhaben) wollten, und dass die Islamisten fortan zu stark waren, um sich noch mit der Rolle des "Feigenblatts" bzw. Juniorpartners abzugeben.

Im Jahre 1992 zog das Regime die politische "Notbremse". Ein tödlicher Überfall auf ein RCD-Büro sowie ein angeblich geplantes Attentat auf Ben Ali Anfang/Mitte 1991 dienten als Vorwand, um gegen den MTI vorzugehen. Tausende wirklicher oder angeblicher Islamisten wurden festgenommen und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Mitte 1992 war das Kräftemessen entschieden, die islamistische Opposition zerschlagen, der politische Islam ausgeschaltet. Rachid Ghannouchi, der bereits seit 1989 im Exil lebte, wurde in Abwesenheit zu "lebenslänglicher Haft" verurteilt.

Regierungssystem

Die Folge dieses Richtungs- bzw. Machtkampfes war eine grundlegende Neuorientierung der herrschenden Eliten sowie eine ebenso tiefgreifende Neuformierung des politischen Feldes. Gegenüber oppositionellen Gruppen verfolgte man fortan eine zweigleisige Strategie von "Zuckerbrot und Peitsche": Auf der einen Seite wurden alle "konkurrenzfähigen" bzw. nicht "kooperationswilligen" Kräfte (allen voran der MTI, aber auch die tunesische Menschenrechtsliga) ausgeschaltet, indem man ihre Führung und ihre Mitglieder inhaftierte oder auswies, ihre Einrichtungen schloss und ihre Publikationen verbot. Auf der anderen Seite wurden "loyale", "konstruktive" Kräfte (vor allem linke und liberale Parteien) neutralisiert, indem sie entweder als Neuzugänge in die herrschende Partei aufgenommen oder als "Blockparteien" in politische Reservate abgedrängt wurden.

So wurden in den Parlamentswahlen 1994 erstmals 19 von 144 Sitzen für die legalen "Oppositionsparteien" reserviert, während die restlichen Sitze weiterhin nach dem Mehrheitsprinzip verteilt wurden und somit dem RCD sicher waren. 1999 erfolgten zwei weitere, allerdings rein kosmetische Maßnahmen, die eine funktionierende Demokratie vorspiegeln sollten. So wurde in den Parlamentswahlen das Kontingent der Opposition auf nunmehr 20 Prozent (34 von 182 Sitzen) erhöht, während in den Präsidentschaftswahlen neben Ben Ali zwei weitere, allerdings völlig chancenlose Mitbewerber antreten durften. Obwohl diese Neuerungen zwar de jure pluralistische Elemente in das politische System einfügen, ändern sie de facto an der realen Situation nichts.

Das "System Ben Ali", so wie es sich im Jahre 2001 darstellt, unterscheidet sich in mehreren Punkten sowohl von dem seiner Vorgänger als auch von dem seiner Nachbarn. Zunächst hat der RCD sowohl programm- als auch machtpolitisch ein geringeres Gewicht als noch die Vorgängerpartei PSD. Weitgehend entpolitisiert dient er heute zum einen als Keilriemen zur Umsetzung der Regierungspolitik und zum anderen als Kaderschmiede zur Anwerbung und Ausbildung des Führungsnachwuchses. Hatte die PSD noch drei Hauptfunktionen – die Integration der Bevölkerung, die Legitimierung des Regimes sowie die Transformation der Gesellschaft –, so bleibt dem RCD nur noch die dritte.

Ben Ali stützt sich in erster Linie auf zwei Pfeiler: die Sicherheitskräfte, das heißt vor allem Polizei und Geheimdienste, sowie den "Palast", das heißt seinen Apparat in Karthago. Hier laufen letztendlich alle politischen Fäden zusammen und werden alle strategischen Entscheidungen getroffen. Eine zentrale Rolle spielt hierbei – neben Ben Ali natürlich – ein innerer Zirkel von persönlichen Beratern, die oftmals in politischen Führungspositionen gedient haben oder aber bestimmte Bevölkerungsgruppen (Regionen, Familien etc.) strategisch einbinden sollen. Während somit "Karthago" das eigentliche, entscheidende Machtzentrum darstellt, ist die Regierung, ähnlich wie der RCD, wenig mehr als ein untergeordnetes, weisungsgebundenes Ausführungsorgan.

Begleitet und abgesichert wurde das "System Ben Ali" durch zwei Schritte: Der erste war der Aufbau einer neuen Herrschaftselite, in der fortan junge "Technokraten", oft mit langjähriger, internationaler Wirtschafts- und Verwaltungserfahrung, eine wichtige Rolle spielen sollten. Der zweite war ein Bündnis mit der einheimischen Wirtschaft, vor allem den großen, branchenübergreifenden bzw. exportorientierten Unternehmen, das durch westliche Hilfe, vor allem von der EU und der Weltbank, ergänzt wurde. Sie alle sollten die notwendige politische Unterstützung, die finanziellen Mittel und das technische Wissen liefern, um die Durchführung der anstehenden Reformen zu ermöglichen und so die Leistungsfähigkeit des bestehenden Systems zu erhöhen, ohne jedoch das politische Monopol Ben Alis zu gefährden.

Liberalisierung und Öffnung

Außen- und wirtschaftspolitische Priorität hatten Ende der achtziger Jahre die Stabilisierung und Sanierung der makroökonomischen Rahmenbedingungen, die Einleitung einer (vorsichtigen) wirtschaftspolitischen Liberalisierung sowie die Verbreiterung der (unterentwickelten) regionalen Märkte (Gründung der UMA, 1989 – siehe Seite 34). Infolge des Abschlusses der "Uruguay-Runde" (achte Verhandlungsrunde des General Agreement on Tariffs and Trade, GATT II, von 1987 bis 1993 mit dem Ziel, den internationalen Agrar- und Dienstleistungsprotektionismus abzubauen) sowie der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO als Nachfolgeorganisation des GATT, 1995) drohten die südlichen Mittelmeeranrainer ihren gesicherten Zugang zu den europäischen Märkten zu verlieren. Da die WTO einseitige Handelsprivilegien zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten verbot, verblieben nur zwei Optionen: entweder Aufgabe der Zollfreiheit für Industrieprodukte oder Aufbau einer Freihandelszone mit der EU.

In dieser Phase entschied sich Tunesien endgültig für den Übergang von einer letztendlich staatswirtschaftlichen und binnenorientierten zu einer im wesentlichen marktwirtschaftlichen und exportorientierten Entwicklungsstrategie. Im Jahre 1995 erfolgten die beiden entscheidenden Schritte: Im Juli unterzeichnete Tunesien als erstes Mittelmeerdrittland ein so genanntes "Euro-mediterranes" Assoziierungsabkommen, das, neben der Einrichtung eines politischen Dialogs mit der EU, den Aufbau einer bilateralen Freihandelszone bis spätestens zum Jahre 2010 vorsieht; im November wiederum unterzeichnete es – gemeinsam mit den 15 EU-Mitgliedsstaaten sowie elf Mittelmeerdrittstaaten – die "Euro-Mediterrane Partnerschaft" (EMP, siehe auch Seite 61ff.).

Für Länder wie Tunesien birgt dieser Prozess der Marktöffnung beträchtliche Chancen, aber auch schwerwiegende Risiken. Die Vorteile sind eindeutig: Das Assoziierungsabkommen hilft, sich über den Mittelmeerraum bzw. die Mittelmeerpartnerschaft (wieder) in den Weltmarkt einzuklinken und zugleich den Übergang von einer Staats- zu einer Marktwirtschaft irreversibel festzuschreiben. Die Gefahren sind jedoch ebenfalls unübersehbar: Zahlreiche einheimische Unternehmen werden dem freien Wettbewerb nicht standhalten, während zugleich substanzielle staatliche Einnahmen durch die tarifäre Liberalisierung entfallen werden. Zu einem Zeitpunkt, in dem die Leistungs- und Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft und Gesellschaft unter extreme Belastung geraten, werden die Handlungsfähigkeit und der Gestaltungsspielraum des Staates ebenso extrem begrenzt.

Gleichzeitig stimmen jedoch Regierung und Unternehmer darin überein, dass Tunesien als Markt allein schlicht nicht wettbewerbs- und überlebensfähig ist. Deshalb vereinbarte 1998 die tunesische Regierung mit 13 weiteren Staaten, bis 2008 einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu schaffen. Diese pan-arabische Freihandelszone wird ergänzt von bilateralen Freihandelsabkommen, die man bisher mit Marokko, Ägypten und Jordanien geschlossen hat. Während jedoch das multilaterale Abkommen bereits jetzt durch seine zahlreichen Ausnahmeregelungen ("Negativlisten") praktisch jeden Sinn verloren hat, werden die bilateralen Initiativen ohne die unmittelbaren Nachbarn, Algerien und Libyen, weitgehend wirkungslos bleiben.

Ausblick

Mit dem Putsch vom 7. November 1987 reagierte ein Teil der politischen Eliten auf die Krise der bourguibistischen Ordnung und die Erosion ihrer traditionellen Position. Ihr Ziel war jedoch nur, das System zu reformieren, um es zu stabilisieren – nicht, es wesentlich zu verändern, geschweige denn vollständig aufzugeben. Tunesien wurde damit zu einem Prototyp "autoritärer Reform".

Auf den ersten Blick scheint diese selektive Umgestaltung der Gesellschaft – also Liberalisierung der Wirtschaft ohne Demokratisierung der Politik – sowie restriktive Öffnung der Politik – also Erneuerung der Eliten ohne Veränderung des Systems – zu gelingen.

Gleichzeitig sind in jüngster Zeit wachsende Spannungen zu beobachten. Politisch gibt es zunehmend Risse zwischen "Liberalen" und "Hardlinern" sowohl innerhalb des Regimes als auch unter seinen Alliierten. Die "Über-Repression" der letzten Jahre wird von Teilen der tunesischen Eliten, vor allem angesichts der internationalen Kritik und der wirtschaftlichen Lage, als übertrieben, wenn nicht kontraproduktiv empfunden. Darüber hinaus gibt es erste, wenn auch schwache Signale, dass die städtischen Mittelschichten, angesichts ihres wachsenden Wohlstandes, aber auch angesichts ihrer wachsenden beruflichen und wirtschaftlichen Unsicherheit, immer weniger bereit sind, die politische Gängelung durch das Regime hinzunehmen.

QuellentextDer Fall Sihem Ben Sedrine

Man hat sie krankenhausreif geprügelt, ihr Pornofotos geschickt, ihre Kinder auf der Straße bedroht, ihren Verlag geschlossen, ihren Reisepass konfisziert: Die Verlegerin und Journalistin Sihem Ben Sedrine kennt die ganze Palette der Methoden, mit denen in Tunesien unliebsame Oppositionelle bekämpft werden. Doch bislang konnte sich die linke Regimegegnerin zumindest in Tunis einigermaßen frei bewegen. Jetzt sitzt Sihem Ben Sedrine seit mehr als einem Monat im Gefängnis, und alle bisherigen Versuche, ihre Freilassung zu erwirken, waren erfolglos. [...]

Ben Sedrine teilt sich im Frauengefängnis von Manouba eine 40-Quadratmeter-Zelle mit 24 anderen weiblichen Gefangenen. [...]

Der Vorwurf gegen sie lautet „Verleumdung“ und „Verbreitung falscher Tatsachen zur Störung der öffentlichen Ordnung“. [...] Am 17. Juni hatte die Dissidentin in einer Sendung des in London ansässigen tunesischen Auslandsfernsehsenders Al-Mustaqilla die Korruption in Tunesien angeprangert und dabei Namen genannt: unter anderem einen Schwager des Präsidenten, Moncef Trabelsi. Damit hatte die Journalistin offenbar eine rote Linie überschritten.

Sihem Ben Sedrine und zwei andere prominente tunesische Oppositionelle hatten sich kürzlich auch gegen eine erneute Kandidatur des Staatspräsidenten Ben Ali im Jahr 2004 ausgesprochen. Es wäre die vierte Amtszeit, nach der tunesischen Verfassung darf der Präsident aber nur dreimal nacheinander amtieren.

Das Regime sieht sich offenbar in Zugzwang, zumal vor wenigen Wochen auch noch ein hochrangiger tunesischer Richter, Moktar Yahyaoui, in einem offenen Brief an den Staatspräsidenten Ben Ali die mangelnde Unabhängigkeit der tunesischen Justiz angeklagt hatte.

Sihem Ben Sedrine ist Besitzerin des Verlages Aloès, eines Forums der linken Opposition, und Herausgeberin der online-Zeitschrift Kalima (www.Kalima.com), außerdem Sprecherin des Rates CNLT sowie Generalsekretärin des „Observatoriums für die Verteidigung der Freiheit von Presse, Verlagswesen und schöpferischer Freiheit“, das der französischen Sektion von Reporter ohne Grenzen angegliedert ist. [...]

Der Fall Ben Sedrine wirft erneut ein Schlaglicht auf die desolate Situtation der Meinungsfreiheit und der Medien in Tunesien. 14 Jahre nach dem Machtantritt von Staatspräsident Ben Ali gibt es in Tunesien praktisch keine öffentliche Meinung mehr. [...]

Kyra Wolff, „Der Fall Ben Sedrine“ in: Frankfurter Rundschau vom 1. August 2001.

Regionale Kooperation und Integration

Steffen Wippel

Die Forderung nach einer politischen und wirtschaftlichen Einheit der fünf Maghrebländer war erstmals während der Kolonialzeit erhoben worden. Nach der Unabhängigkeit von Mauretanien, Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen sahen einheimische Politiker und Ökonomen die regionale Zusammenarbeit zunächst als Alternative zur Abhängigkeit von internationalen bzw. europäischen Märkten an. Wichtiger war ihnen jedoch in erster Linie die Sicherung der eigenen Herrschaft im nationalen Rahmen. Die politischen Beziehungen untereinander waren in dieser Phase daher stärker geprägt von territorialen Ansprüchen und Grenzkonflikten als von Kooperation. Marokkanische Gebietsforderungen gegenüber Algerien führten 1963 sogar zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Staaten.

1964 gründeten Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen das "Comité Permanent Consultatif du Maghreb" (CPCM, Ständiges Konsultativkomitee). Die Zusammenarbeit sollte hierbei auf wirtschaftliche Fragen beschränkt bleiben. Doch die zahlreichen Kooperationsvorhaben wurden bis auf wenige Ausnahmen nicht realisiert.

Nach 1975 verhinderte der Konflikt um die Westsahara, dass die Idee eines vereinten Maghreb vorangetrieben werden konnte. König Hassan II. hatte das Gebiet, auf das Marokko historische Ansprüche erhob, nach dem Rückzug der Kolonialmacht Spanien annektiert; der von der Befreiungsfront Polisario gegründeten Sahararepublik gewährte Algerien Exil im Südwesten seines Landes, von wo aus sie einen langjährigen Abnutzungskrieg gegen die marokkanische Armee führte. Die Folgezeit war geprägt von wenig erfolgreichen Versuchen, bilaterale Allianzen zu schmieden, wie die "Arabisch-Afrikanische Union" (1984–86) zwischen Marokko und Libyen.

Nach 1986 bedrohte die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft (Beitritt Spaniens, Portugals; Errichtung eines Gemeinsamen Marktes) die Absatzmöglichkeiten der Maghrebländer auf ihrem wichtigsten Markt. Mit einem Zusammenschluss hofften sie erneut, ihr wirtschaftliches Potenzial und ihre Verhandlungsmacht gegenüber Europa zu stärken. Im Innern der Staaten erleichterten Wirtschaftsreformen, Machtwechsel sowie politische Öffnung die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit. Zugleich suchten die Beteiligten einen Ausweg aus dem verfahrenen Westsaharakonflikt. Schließlich nahmen Marokko und Algerien 1988 nach zehnjähriger Unterbrechung ihre diplomatischen Beziehungen wieder auf.

Ein Jahr später gründeten die fünf Maghrebstaaten die "Union du Maghreb Arabe" (UMA). Neben der wirtschaftlichen Kooperation sollte nun auch die außen-, innen- und kulturpolitische Zusammenarbeit ausgebaut werden. Zahlreiche regionale Vorhaben, die teilweise schon lange geplant waren, wie der Ausbau transmaghrebinischer Bahn-, Straßen- und Pipelineverbindungen, konnten vorangetrieben werden. 1991 wurde ein Fahrplan zur wirtschaftlichen Integration der Region, der bis zu einer Wirtschaftsunion führen sollte, von allen Mitgliedsstaaten angenommen.

Die Golfkrise 1990/91 führte unter den maghrebinischen Regierungen jedoch zu grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten über die Haltung zum Irak. Seitdem geriet der Integrationsprozess ins Stocken. Nicht einmal die für Ende 1992 geplante Freihandelszone konnte bislang umgesetzt werden. Dazu trugen auch das Wiederaufleben zwischenstaatlicher Spannungen in der Region, die UN-Sanktionen gegen Libyen (wegen des durch libysche Attentäter verursachten Flugzeugabsturzes über dem schottischen Lockerbie, 1988) und nicht zuletzt innenpolitische Entwicklungen, wie der Bürgerkrieg in Algerien, bei. Nach einem Attentat von marokkanisch- und algerischstämmigen Islamisten in Marrakech führte Marokko 1994 die Visumpflicht für algerische Staatsbürger wieder ein, worauf Algerien mit der Schließung der Landesgrenzen reagierte. Wegen des großen wirtschaftlichen Interesses beider Seiten wurde jedoch der 1992 begonnene Bau der grenzüberschreitenden Gaspipeline von Algerien über Marokko nach Spanien fortgeführt und 1996 abgeschlossen.

Erst seit Mitte 1998 keimten erneut Hoffnungen auf eine Fortführung des regionalen Integrationsvorhabens auf. Eine Initiative des Unterstaatssekretärs im amerikanischen Außenministerium, Stuart E. Eizenstat, zielte auf die Bildung eines gemeinsamen Marktes von Marokko, Algerien und Tunesien. Mit der Vertiefung der euro-mediterranen Partnerschaft wuchs auch auf Seiten der Maghrebstaaten die Erkenntnis, dass es im eigenen Interesse sei, ihre Kooperation wieder zu verstärken. Die weitgehende Aufhebung der Sanktionen gegen Libyen seit 2000 wurde dafür als günstige Voraussetzung angesehen. Marokko und Tunesien vereinbarten als Zwischenschritt zu einer größeren maghrebinischen Freihandelszone, bis 2008 alle bilateralen Handelsbarrieren abzuschaffen. Zugleich intensivierten die Maghrebstaaten ihre Kooperation im Bereich der inneren Sicherheit. Inzwischen kandidiert auch Ägypten für den Beitritt zur UMA. Vor allem verzeichnete das Verhältnis zwischen Marokko und Algerien schon in den Monaten vor dem Ableben von Hassan II. (gest. 1999) eine gewisse Entspannung. Doch die Folgezeit blieb geprägt vom mehrfachen Wechsel zwischen Beruhigung und Anspannung der beiderseitigen Beziehungen.

Die Wiederbelebung der Maghrebunion droht daran zu scheitern, dass eine dauerhafte Normalisierung des marokkanisch-algerischen Verhältnisses weiter auf sich warten lässt. Das ungelöste Westsaharaproblem – inzwischen scheiterte auch die unter UN-Aufsicht geplante Volksabstimmung über die Zukunft des Gebietes – bleibt der Kernpunkt der Auseinandersetzungen. Der Handelsaustausch zwischen den einzelnen Maghrebstaaten blieb gering: Algerien betreibt lediglich 1,5 Prozent seines Außenhandels mit der UMA (über 60 Prozent mit der EU), Tunesien als das am stärksten auf den Maghreb orientierte Land auch nur sechs Prozent (75 Prozent mit der EU). Dennoch stellt die Maghrebeinheit bis heute eine wichtige Vision für die Region dar. Aber selbst wenn sie realisiert werden würde, könnte sie in der politischen und wirtschaftlichen Praxis kaum je dieselbe Bedeutung erlangen wie die Ausrichtung auf die europäischen Staaten.

Fussnoten