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Stadt im Ausnahmezustand | Brasilien | bpb.de

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Stadt im Ausnahmezustand

Greta Hamann

/ 11 Minuten zu lesen

Rio de Janeiro ist die erste Stadt Südamerikas, die die Olympischen Spiele austrägt. Dass die Sommerspiele im brasilianischen Winter ausgetragen werden, ist dabei nur einer von vielen Widersprüchen, die sich in der "cidade maravilhosa" (Deutsch: wunderbare Stadt) im Zuge der Olympiavorbereitungen zeigen.

Streifenwagen der Militärpolizei sichern das Olympische Dorf in Rio de Janeiro. Mehr als 85.000 Sicherheitskräfte sollen während der Olympischen Spiele in Rio im Einsatz sein. (© dpa)

Rund 15.000 olympische und paralympische Athleten aus 204 Nationen, über 75.000 Freiwillige und mindestens eine halbe Million Zuschauer aus dem In- und Ausland erwartet Rio de Janeiro während der Olympischen Spiele. Allein am ersten Tag der Wettkämpfe werden mehr Menschen in der Großstadt am Zuckerhut unterwegs sein, als an den sieben Spieltagen der Fußball-WM 2014, die in Rio ausgetragen wurden.

Doch damit sich die sportlichen Betätigungen der Olympioniken nicht in einem Spaziergang an der berühmten Copacabana erschöpfen, musste viel passieren in Rio de Janeiro. Sportstätten wurden gebaut oder entsprechend der Olympiaanforderungen modernisiert, der öffentliche Personennahverkehr wurde erweitert und Hotels bauten ihre Kapazitäten aus.

Zudem wurde Sponsoren der Spiele ein strenger Markenschutz zugesichert und sie erhielten Exklusivrechte für Werbeflächen. Akkreditierte Mitarbeiter des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) reisen visafrei ins Land ein. All dies wurde mit dem "Olympischen Gesetz", dem "Ato Olimpico", in eine rechtliche Form gegossen. Das Gesetz wurde 2009 verfasst – noch bevor feststand, ob die Spiele überhaupt nach Rio de Janeiro kommen würden – und von allen gesetzgebenden Ebenen Brasiliens bewilligt. Es legt den Grundstein für die zahlreichen Ausnahmeregelungen, die der brasilianische Staat im Zuge der Olympiavorbereitungen bewilligte. Das Gesetz ist damit auch die rechtliche Basis für öffentliche Ausgaben von mindestens sechs Milliarden Euro, für die Umsiedelung von mindestens 4.000 Menschen – meist niedriger Einkommensklassen – und für den Umbau ganzer Stadtteile in lukrative Spekulationsobjekte des Immobilienmarktes.

Rio-Sicherheitschef: "Ich muss dem IOC gehorchen"

Im Gesetz werden alle Wünsche des Internationalen Olympischen Komitees für die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele erfüllt. Dafür wurden zum Teil auch geltende Regelungen und Gesetze temporär außer Kraft gesetzt. "Das IOC will einige Sachen, die etwas kompliziert sind", sagte der Sicherheitschef der Stadt Rio de Janeiro José Beltrame im Juli 2016 beim Besuch einer Delegation europäischer Journalisten, "aber das Komitee darf verlangen, was es will, denen muss ich gehorchen." Für viele Brasilianierinnen und Brasilianer gleicht das dem Ausverkauf des Landes an das IOC.

Das Gesetzesvorhaben war dem damaligen Präsidenten Luiz "Lula" da Silva so wichtig, dass er eigens nach Kopenhagen reiste, um es dem Olympischen Komitee persönlich zu übergeben. Am 1. Oktober 2009, einen Tag vor Bekanntgabe der Gastgeberstadt für die Spiele 2016 betonte Lula noch einmal, wie wichtig ihm die Austragung der Spiele sei. Man werde mit "Zähnen und Fingernägeln" an der Gelegenheit festhalten, so der Staatspräsident vor über 150 versammelten Journalisten kurz nach der Übergabe des Gesetzes. Olympische Spiele in Rio, das sollte das ganze Land mit einem Mal in die Elite der Weltmächte befördern.

Nur einen Tag später bekam Rio de Janeiro den Zuschlag – und hatte sich damit sogar gegen die Heimatstadt des US-Präsidenten Barack Obama Chicago durchgesetzt. Unter Tränen bedankte Lula sich für die Entscheidung der IOC-Funktionäre und sagte, "wenn ich heute sterben würde, wüsste ich, dass es sich gelohnt hat". Währenddessen tanzte seine Delegation durch das Foyer und an der Copacabana jubelten tausende Menschen.

"Olympia, für wen?"

Seitdem sind immer wieder viele Menschen an die Copacabana gekommen – jedoch seltener, um ihre Stadt zu feiern, und öfter, um gegen Olympia, gegen die WM und gegen Korruption zu protestieren. Ein Jahr vor der Fußballweltmeisterschaft 2014 fragten Millionen Menschen in ganz Brasilien "Copa, para quém?", mittlerweile wollen sie wissen, für wen die Olympischen Spiele ausgerichtet werden ("Olimpíadas, para quem?", Deutsch: Olympische Spiele, für wen?). "Für alle Brasilianer", sagte vor über sechs Jahren Präsident Lula, "für alle Menschen in Rio de Janeiro", sagt heute der Bürgermeister Rios Eduardo Paes, der so begeistert ist von den Spielen in Rio, dass er in seinem Büro sogar eine kleine Plastikfigur seiner selbst in einem Glaskubus ausstellt – in der Hand die olympische Fackel.

Dass sich seit dem Zuschlag für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro einiges verändert hat, ist unübersehbar. Über Jahre lebten die Bewohner Rios mit zahlreichen Großbaustellen. Kurz vor der Übergabe des olympischen Feuers im legendären Maracanã -Stadion sind so gut wie alle Baustellen – entgegen der Erwartungen zahlreicher Kritiker – allerdings auch fertig gestellt geworden. Allein im öffentlichen Personennahverkehr verfügt Rio de Janeiro nun über eine 155 Kilometer lange neue Schnellbus-Trasse, eine 28 Kilometer lange Straßenbahnstrecke und 450 Kilometer neue Radwege. Hinzu kommen die Megaprojekte im Stadtteil Barra da Tijuca, dem Standort des "Barra Olympic Parks", wo neben dem 20.000 Betten umfassenden olympischen Dorf unter anderem auch ein neuer Golfplatz (der dritte in Rio de Janeiro) errichtet wurde, und die Komplettsanierung des Hafenviertels "Porto Maravilha" (Deutsch: wunderbarer Hafen) im Zentrum der Stadt. Dreihundert Millionen Euro öffentlicher Gelder wurden allein für diesen Ausbau der zuvor heruntergekommenen Hafengegend in eine luxuriöse Wohngegend ausgegeben.

Insgesamt kosten die Olympischen Spiele umgerechnet rund zehn Milliarden Euro. Das sind Ausgaben auf einem ähnlichen Niveau wie sie 2004 beispielsweise von Griechenland für die Spiele in Athen getätigt wurden, und sie sind geringer als die mindestens 13 Milliarden Euro Ausgaben für London 2012.

Doch darf man bei diesem Vergleich nicht außer Acht lassen, dass sich die Lebensbedingungen der Großteile der Bevölkerungen dieser Länder auch trotz des wirtschaftlichen und sozialen Aufschwungs Brasiliens der letzten Jahrzehnte noch immer stark unterscheiden. "In Rio fallen die Ziegeln von den Dächern der öffentlichen Schulen, Lehrer erhalten ein miserables Gehalt – sofern es überhaupt ausgezahlt wird. Seit über vier Monaten streiken die Lehrer." Das sagt Carlos Vainer. Er ist Professor am Institut für regionale und urbane Forschung und Planung an der Universidade Federal do Rio de Janeiro (UFRJ), der größten bundesstaatlichen Universität Brasiliens. Er ist gebürtiger "Carioca", wie die Einwohner Rio de Janeiros sich nennen. Und wie die meisten Cariocas kann Carlos Vainer ziemlich emotional werden, wenn man ihn auf seine Heimatstadt und die Spiele anspricht: "Rio de Janeiro ist eine Stadt, in der die Ärzte keine Medikamente haben. Rio ist eine Stadt, in der die öffentlichen Krankenhäuser auseinanderfallen. In einer Stadt wie dieser, ist es einfach nur absurd, dass 40 bis 60 Milliarden Real für Olympische Spiele ausgegeben werden."

Genauso unübersehbar wie die zahlreichen für das Großevent angefertigten Bauprojekte, wie jenes futuristisch anmutende im Hafenviertel Rios, sind die Probleme der Stadt: lange Schlangen vor den öffentlichen Krankenhäusern, bettelnde Jugendliche an den Ampeln, Staus, die heruntergekommenen Räume der staatlichen Universität, von Schülern besetzte Schulen oder die streikenden Polizisten, die im Juni Touristen in der Ankunftshalle des internationalen Flughafens begrüßten. In der Hand hielten sie ein Banner: "Willkommen in der Hölle". Auch sie erhalten derzeit ihr Gehalt stets mit großer Verzögerung – und dann nur in Raten.

50 Tage vor Beginn der Spiele rief der Bundesstaat Rio de Janeiro den Finanznotstand aus – und erhielt rund drei Milliarden Real (rund 780 Millionen Euro) Nothilfe vom Bund. Grund für die wirtschaftliche Krise des Bundesstaates ist unter anderem der starke Ölpreisverfall und die damit einhergehenden sinkenden Einnahmen. Doch in einem im Zusammenhang mit der Notüberweisung veröffentlichten Dekret hieß es auch, die Organisation des Sportereignisses habe zu ernsthaften Schwierigkeiten bei den grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen geführt und könne zu einem Zusammenbruch der öffentlichen Sicherheit, der Gesundheit, der Bildung, der Mobilität und des Umweltmanagements führen. Nur dank der Direktüberweisung des Bundes konnte die Durchführung der Olympischen und Paralympischen Spiele gewährleistet und der Betrieb der öffentlichen Dienste in der Stadt sichergestellt werden.

Das Rundum-Paket für den IOC: Geringe Kostenbeteiligung und exklusive Werberechte

Sicherheit, Gesundheit, Mobilität – all diese Dinge sind Bedingungen für ein Gelingen der Olympischen Spiele. An diesen Kosten beteiligt sich das Internationale Olympische Komitee jedoch nicht. Im Gegenteil: Der Staat hat sich verpflichtet, die Kosten für die Bereitstellung dieser Dienste selbst zu tragen, also mit Steuergeldern zu decken. Bis zum August 2015 beinhaltete das Olympische Gesetz sogar einen Passus, nach dem Brasilien pauschal "die Vergabe von Mitteln zur Deckung eventuell anfallender operationeller Defizite des Organisationskomitees der Olympischen Spiele 2016" genehmigte. Dieser ist seit einer Gesetzesänderung nicht mehr gültig.

Doch das IOC hat sich andere Einkommensquellen gesetzlich zusichern lassen. So besteht die Garantie für die Gewährung von Exklusivrechten zur Nutzung und vor allem zum Verkauf von Werbeflächen nach wie vor. Für den Zeitraum der Spiele gehören Werbeflächen in und um brasilianische Flughäfen des über 200 Millionen Einwohner umfassenden Landes sowie Werbeflächen in "Bundesgebieten, die von Interesse für die Olympischen Spiele Rio 2016" sind, dem IOC.

"Das Olympische Gesetz ist der komplette Verkauf Brasiliens an ein Privatunternehmen – das IOC. Es erhält aufgrund des Gesetzes große Macht über öffentliche Mittel, wurde jedoch von keinem Brasilianer jemals in einem demokratischen Prozess gewählt", sagt Martim Sampaio. Der Anwalt aus São Paulo ist Menschenrechtsbeauftragter der lokalen Anwaltskammer und beschäftigt sich seit Langem mit den Auswirkungen von Großevents auf Stadt und Menschen. Zudem war der 57-jährige aktiv im Widerstand zu Zeiten der Militärdiktatur. Die Art der Gesetze, die im Zuge von Großveranstaltungen wie WM und Olympischen Spielen in Brasilien verabschiedet werden, lässt ihn immer öfter an die Zeiten der Diktatur zurückdenken. Dabei sind Ausnahmegesetze wie das WM- oder das Olympiagesetz seiner Meinung nach nicht einmal die besorgniserregendsten.

Antiterrorgesetz ruft zahlreiche Kritiker auf die Bühne

"Das WM-Gesetz war nur der Anfang. Durch die WM und die darauffolgenden Olympischen Spiele wurden viele andere Gesetze und Regelungen verabschiedet, oft unbemerkt." Vor allem ein Gesetz macht dem Menschenrechtsbeauftragten Kopfschmerzen. Das im Februar 2016 verabschiedete Antiterrorgesetz. "Es ist extrem autoritär", sagt Sampaio. Auch das Hohe Komitee für Menschenrechte der Vereinten Nationen (UNO) kritisierte es. "Das Gesetz beinhaltet Bestimmungen und Definitionen, die zu vage und unpräzise sind und somit aus unserer Sicht nicht mit den Standards der Internationalen Menschenrechtskonvention einhergehen", schrieb die UNO in einer Mitteilung. "Das Antiterrorgesetz schafft einen Ausnahmezustand in Brasilien, der beispielsweise die Kriminalisierung von sozialen Bewegungen sehr vereinfacht", sagt Martim Sampaio. Zudem benutze die Regierung das Gesetz, um Opposition und ärmere Bevölkerungsteile zu kontrollieren. "Die Olympischen Spiele sind ein extrem lukratives Geschäft für bestimmte Teile der Gesellschaft sowie für die politischen Parteien". Dank des Antiterrorgesetzes wären Massenproteste wie die vor der WM im Jahr 2013 nicht mehr möglich oder nur sehr schwer umsetzbar, glaubt Sampaio.

Die ersten Festnahmen auf Basis des neuen Antiterrorgesetzes hat es bereits gegeben, zehn mutmaßliche Anhänger des sogenannten Islamischen Staates wurden nur zwei Wochen vor Beginn der Spiele verhaftet. Dass das in Brasilien eher geringe Terrorrisiko aufgrund des internationalen Sportfestes gestiegen ist, bestreitet niemand. Doch neue Gesetze brauche es im Land deswegen nicht, findet Sampaio: "Wir haben ausreichend Tatbestände. Neue Straftatbestände senken weder die Kriminalität noch das Terrorrisiko. In Brasilien sitzen 200.000 Menschen im Gefängnis. Wir sind weltweit auf Platz 4 der Länder mit den meisten Insassen. Nur in den USA, Russland und China sind es mehr."

An einem einfachen Beispiel macht Sampaio deutlich, dass das Gesetz bis auf den untersten Ebenen greifen kann. "Brasilianer essen gerne auf der Straße das sogenannte ‚Churrasquinho de Gato‘, kleiner Katzenspieß". So nennen die Menschen in Rio de Janeiro die gegrillten Fleischspieße der Straßenverkäufer, die man vor allem in belebten Partyvierteln in der Nacht oft sieht. Doch in Gegenden wie dem Olympiapark wird man wohl lange nach solchen suchen müssen, glaubt Sampaio: "Schon jetzt werden zahlreiche Hürden für den Zugang zum Olympiapark errichtet. Am Ende wird eine Brandschutzmaßnahme oder irgendein anderer Grund vorgeschoben, um solche Menschen nicht auf das Gelände zu lassen."

Barra da Tijuca – Sinnbild einer geteilten Stadt

In Barra da Tijuca findet in neun Stadien ein Großteil der Wettkämpfe statt, hier steht das riesige Medienzentrum für tausende Journalisten aus der ganzen Welt, zudem werden hier auch die rund 15.000 Athleten und ihre Teams im olympischen Dorf leben. "Barra da Tijuca ist ein einziger urbaner Großgrundbesitz, kontrolliert von einer kleinen Zahl von Eigentümern, die enge Verbindungen zur Politik pflegen", sagt der Professor für urbane Stadtentwicklung Carlos Vainer. Durch einen kleinen Berg ist Barra da Tijuca vom Rest der Stadt bereits natürlich abgetrennt. "Barra da Tijuca ist ein Ghetto des Mittelstands und der Oberschicht. Dieser Stadtteil ist die Versinnbildlichung der großen Ungleichheiten, die in Rio de Janeiro bestehen und Ausdruck für den Prozess der Zerstörung des öffentlichen Raumes, der Stadtteil ist ein kleines Anti-Rio de Janeiro", sagt Vainer.

In Barra da Tijuca leben rund 300.000 Menschen. Zum Vergleich: In der gesamten Metropolregion sind es knapp zwölf Millionen, die meisten von ihnen leben im verkehrstechnisch schlecht erschlossenen Norden der Stadt. Trotzdem wurden die meisten Olympia-Investitionen in Barra da Tijuca getätigt. Aufgrund der erweiterten U-Bahn-Linie, die den Stadtteil dann mit Ipanema und Copacabana verbinden wird, und der direkten Busverbindung zum internationalen Flughafen profitieren die Bewohner des Stadtteils auch in Fragen der Verkehrsanbindung enorm. Zudem verdienen die Baufirmen hier nach den Spielen weiter – und das nicht nur dank der Aufwertung des Viertels durch öffentliche Gelder. Ein Beispiel: Der Baukonzern des als "Besitzer von Barra da Tijuca" bekannten Mannes Carlos Carvalho wird nach den Spielen das Olympiadorf in Luxusapartments umwandeln, ähnliche Vorhaben hat er für den Olympiapark angemeldet. Der Mann, dem jetzt schon über 10 Millionen Quadratmeter in Barra da Tijuca gehören, bezeichnete die Olympischen Spiele als "Segen". Dass es auch anders geht, zeigt London, wo das olympische Dorf günstigen Wohnraum hinterließ.

Die Nutzungsrechte haben sich Baukonzerne und Firmen in den meisten Fällen (auch im Falle von Olympiapark und Olympiadorf) dank sogenannter öffentlich-privater Partnerschaften gesichert. Die Firmen geben für den Bau einen Teil des Geldes dazu, dürfen im Anschluss an die Spiele aber die Gewinne einnehmen. Dass viele dieser für Olympia beauftragten Firmen beim Wahlkampf des olympiabegeisterten Bürgermeisters Eduardo Paes wichtige Geldgeber waren, überrascht da nicht. Laut UFRJ-Professor Carlos Vainer haben diese "Prozesse der Privatisierung des gesamten urbanen Raums in Rio de Janeiro schon vor diesen Sportereignissen angefangen." WM und Olympische Spiele hätten diese Entwicklung noch um einiges intensiviert.

"Megaevents wie WM und Olympia in Rio de Janeiro funktionieren wie Robin Hood, nur umgekehrt. Man nimmt den Armen und gibt es den Reichen", sagt Carlos Vainer.

Mit Großveranstaltungen kennt sich Rio de Janeiro aus – in den letzten zehn Jahren war die Stadt bereits Gastgeber für die Panamerikanischen Spiele 2007, die Militärweltspiele 2011, den Klimagipfel "Rio plus 20" im Jahr 2012 und den Confederations-Cup sowie den Weltjugendtag (inklusive Papstbesuch) 2013 – hinzu kommen die alljährlichen Karnevals- und Silvesterfeierlichkeiten, die Millionen Touristen aus der ganzen Welt anziehen.

Doch nicht die Großevents an sich seien das Problem, erklärt Vainer: "Wir sehen jedes Jahr bei Karneval und Silvester, dass es Events gibt, die aus dem Leben und der Tradition der Cariocas kommen und auch gut funktionieren. Das sind keine Veranstaltungen, die eine schöne Sache wie den Sport in ein Geschäft verwandeln und die auch nicht von außen aufgestülpt werden."

Kurz vor Beginn der Spiele wünscht sich die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung, die Olympischen Spiele würden nicht stattfinden und über 60 Prozent glauben, dass Olympia mehr Schaden als Nutzen bringen wird.

Olympische Spiele und WM sowie die dafür verabschiedeten Ausnahmegesetze sind nicht der Grund für die Probleme, die es in Brasilien noch anzugehen gibt. Auch wird die Frage, ob es dem Land heute ohne diese beiden Sportgroßereignisse besser gehen würde, wohl nie geklärt. Doch WM und Rio 2016 haben die Widersprüche, die im Land herrschen, wie auf einem Präsentierteller zur Schau gestellt. Schon vor Jahrzehnten sagte der weltweit renommierte Brasilienexperte Kenneth Maxwell von der Harvard University über Brasilien: "Seit die Eroberer in Brasilien an Land gingen, hat der Staat nur eine Funktion, Mechanismen zu entwickeln, damit sich diejenigen, die an der Macht sind, persönlich bereichern können."

Die Cariocas sind stolz auf ihre Fähigkeit zu improvisieren. Und nur wenige zweifeln daran, dass die Olympischen Spiele reibungslos stattfinden werden. Doch den Preis für diese kurze Party wird die Mehrheit der Brasilianer wohl noch lange bezahlen.

Weiterführende Literatur:

Dawid Danilo Bartelt: Kehrseite der Medaille Sportgroßereignisse in Brasilien zwischen Fehlplanung, Spekulation und dem Recht auf Stadt, Schriften zur Demokratie Band 39, Herausgegeben von Heinrich Böll Stiftung - Externer Link: Online verfügbar als PDF

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ist Journalistin und arbeitet für die Deutsche Welle.