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Soziale Bewegungen in Peru | Lateinamerika | bpb.de

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Soziale Bewegungen in Peru

Andreas Steinhauf

/ 10 Minuten zu lesen

Neuere soziale Bewegungen stellen die bisherigen politischen und ethnischen Hierarchien Perus in Frage. Zugleich experimentieren sie mit neuen Formen von demokratischer Repräsentanz – allerdings mithilfe von fragwürdigen Rekrutierungsmustern.

Frauen pflanzen eine Rose vor dem Justizministerium in Lima, Peru, sie erinnern damit an die Opfer der Kämpfe zwischen den Rebellen vom Leuchtenden Pfad und Regierungstruppen. (© AP)

Zumeist sind neue politische Ausdrucksformen in Lateinamerika, so auch in Peru, aus neuen sozialen Bewegungen hervorgegangen. Im Verlauf der 1980er-Jahre sind eine Vielzahl solcher Bewegungen entstanden, deren Handlungsrahmen und Zielsetzungen sich von ihren klassenbedingten Vorläufern grundsätzlich unterscheiden: Arbeitervereinigungen, die sich unabhängig oder sogar im Gegensatz zu traditionellen gewerkschaftlichen Strukturen und politischen Parteien organisieren; Siedlungs- und Nachbarschaftskomitees, die sich vor allem in den großen Städten bilden und teils auf nationaler Ebene mitein-ander in Verbindung stehen; ethnische Verbände und Organisationen, die sich eigenständig in die politische Szenerie integrieren; Menschenrechtskomitees, Umweltbewegungen, Bauernverbände, Organisationen informeller Unternehmer, regionalistische Bewegungen und nicht zuletzt ein unüberschaubares Netz von Selbsthilfegruppen unter den armen Schichten. Das Mosaik der Identitäten war und ist reichhaltig und repräsentiert den sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Wandel auf dem Subkontinent im Lauf der 1980er-Jahre.

Das Besondere an diesen sozialen Bewegungen ist vor allem ihre heterogene soziale Zusammensetzung, ihr breiter Aktionsradius und ihre Autonomie gegenüber dem Staat und den politischen Parteien. Im Zuge der neoliberalen Entwicklung einer Reduktion des Staates sind diese verstärkten Initiativen aus der Zivilgesellschaft nicht verwunderlich. Die Zivilgesellschaft muss immer mehr politische Verantwortung übernehmen, in dem Maße, in dem sich der Staat seiner Verantwortung entzieht und als politische Sphäre auf ein Minimum reduziert wird.

Der Wandel der sozialen Bewegungen geht einher mit einer sich verändernden Komposition der gesellschaftlichen Strukturen während der neoliberalen Ära. Die Stagnation des formellen Arbeitsmarktes sowie des staatlichen Sektors haben in den meisten Ländern zu einer Reihe von Adaptationsstrategien der mittleren und unteren sozialen Schichten geführt. Als solche können sowohl die enorme Zunahme der informellen Selbständigkeit und des Mikro-Unternehmertums in der gesamten Region, als auch der Zuwachs der Kriminalität in den Städten sowie die internationale Migration interpretiert werden. Der soziale Wandel hatte indes auch Auswirkungen auf die politischen Szenarien Lateinamerikas. Allenthalben haben alternative Formen der politischen Mobilisierung und des öffentlichen Protests Gestalt angenommen. Die Organisatoren solcher Protestaktionen sind immer weniger Partei-Aktivisten, sondern NGOs oder Community-Leaders.

In den 1990er-Jahren wurde die Diskussion um die sozialen Bewegungen mit der Debatte über die "unabhängigen Politiker" überlagert und stand in Zusammenhang mit dem Phänomen der so genannten politischen Outsider und der Diskussion um die "Antipolitik" als dem pragmatisch geprägten Politik- und Politikerstil und dem vorläufigen Ende jeglicher ideologischer Diskurse. Der größte Teil der politischen Auseinandersetzungen in Lateinamerika rankt sich auch gegenwärtig um alternative demokratische Projekte. Innerhalb dieser Auseinandersetzung und im Zusammenhang mit der Minimierung des Staates und der deutlich zunehmenden sozialen Verantwortung der Zivilgesellschaft spielen die sozialen Bewegungen wiederum eine kritische Rolle. Auch die rigiden sozialen und ethnischen Hierarchien wurden durch die Besetzung öffentlicher Räume der sozialen Bewegungen in Frage gestellt.

Die Erwartungen an die neuen sozialen Bewegungen seitens der Zivilbevölkerung sind daher oftmals hoch: Generell wird erhofft, dass daraus wichtige politische Akteure erwachsen, die bislang marginalisierte Sektoren der Gesellschaft politisch repräsentieren.

Soziale Bewegungen und neue politische Akteure in Peru

Insbesondere in Peru wurde, während der vergangenen beiden Jahrzehnte, die Diskussion um die sozialen Bewegungen mit der Debatte um die "Antipolitik" als dem pragmatisch geprägten Politik- und Politikerstil und dem vorläufigen Ende jeglicher ideologischer Diskurse bestimmt. Angesichts des Niedergangs der etablierten Parteien im Verlaufe der 1980er- und 1990er-Jahre wird das politische Szenarium von neuen politischen Bewegungen und Gruppierungen geprägt, deren Markenzeichen in erster Linie Kurzlebigkeit und Volatilität sowie die geringe Loyalität ihrer führenden politischen Vertreter sind.

Auf der Ebene der Zivilgesellschaft hingegen konnten in den Neunzigerjahren wichtige Elemente einer neuen Entwicklung ausgemacht werden. Eines dieser Elemente ist die wachsende Bedeutung unabhängiger politischer Gruppierungen, auch über die Grenzen des Fujimorismo hinaus. Obwohl derlei Gruppierungen in Peru auch vorher schon existierten, so hatten sie doch nie die Bedeutung, die sie in den Neunzigerjahren erlangen konnten. Dies ist sicherlich in erheblichem Maße auf die Diskreditierung der traditionellen Parteien und das Misstrauen breiter Schichten der Bevölkerung gegenüber jeglichem politischen Diskurs zurückzuführen. Gleichzeitig zeigt es aber auch, in welchem Maße Fujimori der Dekade der Neunziger seinen Stempel aufdrücken und die politische Landschaft sowie das politische Meinungsbild in der Zivilgesellschaft prägen konnte. In breiten Teilen der Bevölkerung war offenbar die Botschaft angekommen, dass politische Parteien in einem demokratischen System nicht notwendig und eigentlich sogar hinderlich seien.

Auch auf einer anderen Ebene zeichnete sich ein Wandel ab. So entwickelte die peruanische Gesellschaft der Neunzigerjahre nicht etwa den anderenorts für den Modernisierungsprozess charakteristischen Individualismus. Vielmehr entwickelten sich Formen kollektiven Handelns, die vorher partiell von politischen Parteien, Gewerkschaften oder Verbänden kanalisiert wurden, zunehmend im Rahmen sozialer Beziehungsnetzwerke zwischen Verwandten, Familienangehörigen, Personen gleicher ethnischer Herkunft sowie zwischen Freunden und Nachbarn. Diese Netzwerke verkörpern informelle Organisationsformen, die durch die Verbindungen der Individuen untereinander im Laufe ihrer verschiedenen Lebensabschnitte geschaffen werden. Über die Netzwerkgeflechte und die Loyalitäten, Rechte und Verpflichtungen, die sie häufig beinhalten, erlangen die Individuen Zugang zu materiellen Ressourcen, Informationen sowie Arbeit und Dienstleistungen. Die Netzwerke besitzen deshalb heute eine enorme gesellschaftliche Bedeutung in Peru.

Doch neben ihrer Funktion als Überlebensstrategie sind die sozialen Netzwerke auch zu einem Raum geworden, in dem die Individuen ihre Wahrnehmungen von Politik und Politikern artikulieren. Politische Meinung wird deshalb nicht mehr oder kaum noch durch Parteien, politische Veranstaltungen oder Gewerkschaften gebildet, sondern im Rahmen sozialer Interaktionen in Nachbarschaftskomitees, Migrantenverbänden sowie in Stadtteilen und auf Märkten. In diesen sozialen Räumen tauchen neue Leitfiguren auf, die den "Gemeinsinn" von Politik vermitteln, mit dem dann die nationalen politischen Geschehnisse interpretiert werden. Politik erhält hier ein sehr pragmatisches Gewand und ist dauernden Neubewertungen unterworfen. Der Kontinuität des Populismus auf der politischen Ebene steht somit ein Transformationsprozess der Zivilgesellschaft gegenüber, der sich in den Neunzigerjahren mit Nachdruck entwickelt hat, jedoch erst vor der historischen Entwicklung Perus verständlich wird.

Historischer Hintergrund und indigene Bewegungen in Peru

Peru hat im Lauf des 20. Jahrhunderts komplexe Transformationsprozesse durchlaufen, deren historischer Ausgangspunkt in der Kolonialzeit zu suchen ist. Die durch die spanische Eroberung geschaffene politische Ordnung, in der sich die Konquistadoren als Herrschaftsgruppe gegenüber der indigenen Bevölkerung etabliert hatten, institutionalisiert durch eine Art Kastensystem, in dem jeder ethnischen Gruppe eine spezifische gesellschaftliche Position zugewiesen wurde, bildete das Fundament für die kulturelle, soziale und wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Gruppen. Dank ihrer vielfältigen Möglichkeiten, an die Arbeitskraft der untergeordneten Kasten zu gelangen, waren Spanier und Kreolen strikt vom produktiven Bereich der Gesellschaft getrennt. Zu den untergeordneten Kasten der Kolonialgesellschaft zählte neben den Sklaven afrikanischen Ursprungs insbesondere die indigene, bäuerliche Bevölkerung. Diese beiden untergeordneten und unfreien Gruppen waren ihrerseits voneinander getrennt.

Ausgehend vom kolonialen System entwickelte so jede dieser ethnischen Gruppen eine eigene Kultur. Kreolen und Spanier gingen in einer urbanen Kultur auf und gruppierten sich um den kolonialen Herrschafts- und Verwaltungsapparat. In Peru etwa lebten sie ausschließlich in den Küstenstädten, vor allem im kolonialen Zentrum Lima. Die Indígenas hingegen waren vorwiegend in den ländlichen Gebieten anzutreffen, so dass die unterschiedliche Entwicklung von Kreolen und Indígenas zusätzlich durch eine geografische Trennung untermauert wurde. Obwohl man nach der Ausrufung der Republik Peru (1821) formal von einer Gleichheit aller Bürger ausging, bestand die aus der Kolonialzeit übernommene soziale und wirtschaftliche Hierarchie weiter fort. Der Staat selbst, als Erbe des kolonialen Verwaltungssystems, war eines der wichtigsten Werkzeuge für die Aufrechterhaltung der kolonialen Ordnung auch nach dem Ende der Kolonialzeit. So etwa sah die peruanische Verfassung bis 1980 kein Wahlrecht für Analphabeten vor, was zur Folge hatte, dass nahezu die gesamte indianische Landbevölkerung von den Wahlen und damit von jeglicher politischer Einflussnahme ausgeschlossen war.

Erst die massive Migration der andinen Landbevölkerung in die Küstenstädte, allen voran nach Lima, trug dazu bei, die ethnischen Grenzen zu verwischen. Die sozialen Bewegungen insbesondere im andinen Hochland Perus, die mit der Wirtschaftskrise ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre immer massiver aufkamen, hatten freilich vor allem einen regionalen Bezug und waren eher an die radikalen linken Parteien und Gruppierungen gekoppelt, so dass sich ein überregionaler ethnischer Bezugsrahmen nicht entwickeln konnte. Eine Ausnahme bildet sicherlich die Entwicklung in der peruanischen Amazonasregion. Die gesellschaftliche Marginalisierung der ethnischen Minderheiten des peruanischen Tieflands, verstärkt durch ihre territoriale Isolation, führte zur Stärkung ihrer ethnischen Identität und bildete die Grundlage für die Entstehung spezifischer indigener Bewegungen, die jedoch letztlich keinen Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse nahmen. Was Peru von anderen Fällen unterscheidet, ist das spezifische Verhältnis der verschiedenen ethnischen Komponenten zueinander. Das aus der spanischen Eroberung hervorgegangene Gesellschaftssystem gestattete der indigenen Bevölkerung einerseits eine weitgehende Unabhängigkeit in ihrer sozialen Organisation, führte jedoch andererseits zu einer Fragmentierung der Gesellschaft, die keine national übergreifende Identität der indianischen Bevölkerung zuließ und sich stattdessen in einer Vielzahl von lokalen Identitäten äußerte. Beide Aspekte haben sich sowohl entscheidend auf den Entwicklungsprozess der indigenen Organisationen als auch auf die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen ausgewirkt, wobei, vor allem in jüngster Zeit, eher unerwartete Akteure in Erscheinung getreten sind.

Sozialer Protestbewegungen in der Gegenwart: Die Jugendbewegung als neuer gesellschaftspolitischer Akteur

In Peru hat sich die Jugend als neue soziale und politische Bewegung, vor allem im Zuge der Proteste gegen die Fujimori-Diktatur, herauskristallisiert. Dies schloss auch die Studenten mit ein, deren einstmals starkes politisches Engagement scheinbar völlig verschwunden zu sein schien. Politik wurde und wird weniger als Szenarium für Diskussionen und das Suchen nach Konsens begriffen, sondern vor allem als Ursache von Problemen. Politik gilt unter den Jugendlichen schlicht als Synomym für Korruption. Es kam daher völlig überraschend, als im Juni 1997 plötzlich wieder Studentendemonstrationen zunehmend das Tagesgeschehen bestimmten. Auslöser waren die unter der damaligen Regierung Fujimori üblichen Machenschaften. Vor allem die Studenten erregten dabei die Aufmerksamkeit der Medien und hinterließen einen beträchtlichen Eindruck in der Öffentlichkeit. Was sie mobilisierte war jedoch nicht ein politisch oder ideologisch geprägter Diskurs, sondern die Empörung über eine total korrupte Regierung und die ihr hörigen Parlamentarier. Die Demonstrationen waren freilich nicht Ausdruck einer politisch und ideologisch strukturierten Opposition. Mit der ideologisch geschulten und in Parteien organisierten (Studenten-) Bewegung der Sechziger- und Siebzigerjahre haben diese Jugendlichen kaum etwas gemein. Auch ihre politischen Ziele und die Formen, sie durchzusetzen, sind neu und zuweilen recht diffus.

Besonders charakteristisch für die sozialen Bewegungen Perus in der Gegenwart ist die Abwesenheit sichtbarer Führungsgestalten. So ist auch die (studentische) Jugendbewegung keinesfalls straff organisiert, sondern besteht vielmehr aus kleinen Gruppen und Diskussionszirkeln, die kaum miteinander in Verbindung stehen. "Kavilando" in der peruanischen Provinzstadt Ayacucho ist ein typisches Beispiel einer solchen sozialen Jugendbewegung. Es handelt sich um ein rundes Duzend von Studenten der Sozial-, Erziehungs- und Rechtswissenschaften, die sich zunächst zusammengetan hatten, um über Politik und Generationsfragen zu debattieren, um dann, nach dem ersten skandalösen Wahlgang im Jahr 2000, mit einer Reihe von Aktionen an die Öffentlichkeit zu gehen. Nach dem Ende der Ära Fujimori machen sich freilich eine gewisse Orientierungslosigkeit sowie das Fehlen von ideologisch-politischen Referenzen bemerkbar. Mehr als die Hälfte der peruanischen Bevölkerung ist jünger als 24 Jahre. Schon aus arithmetischen Erwägungen wäre somit eine starke Jugendbewegung ein entscheidender politischer Faktor.

Indes war auch nach der Rükkehr zur Demokratie der auffälligste Aspekt, vor allem während des ersten Regierungsjahres Alejandro Toledos (2001-2006), die exponentielle Zunahme sozialer Proteste. Praktisch von Beginn an sah sich die Regierung der aufgestauten Unzufriedenheit im Land gegenübergestellt, die sich in einer Unzahl im Lauf der Jahre akkumulierter Forderungen entlud. Die Spannweite der Protestaktionen reichte vom Streik der Lehrer aus Puno, über den Konflikt der Transportunternehmer aus Huarochirí mit der Gemeinde Lima, über verschiedene Blockaden auf der so wichtigen Verbindungsroute zwischen Lima und seinem Hinterland, der Carretera Central durch Taxifahrer, einem Protestmarsch der Bauern aus der Provinzstadt Ica, über die Besetzung eines Gemeinderathauses in La Rioja, bis hin zu einem Streik der Justizangestellten, die höhere Löhne forderten. Neben der beachtlichen Diversität der Proteste nahm freilich auch deren Radikalität beträchtlich zu. Die Vielzahl der Protestaktionen lässt sich in unterschiedliche Gruppierungen einordnen: Streiks und Arbeitskämpfe, Proteste im Landesinneren im Zusammenhang mit regionalspezifischen Forderungen, regionale Protestaktionen gegen geplante Privatisierungen und schließlich die von den Überresten des Fujimorismo gesteuerten Aktionen.

In jüngster Zeit sind, darüberhinaus, eine Reihe von Umweltbewegungen sowie die Kokabauern als Protestbewegungen öffentlich in Erscheinung getreten. Auf der Seite der "drivers of change" sind dabei neu entstandene Organisationen zu finden, die regionale bzw. lokale Interessen repräsentieren, vorwiegend allerdings noch schwach entwickelte Organisationsstrukturen aufweisen. Einige dieser neuen Organisationen sind im Zuge eines staatlichen Reformprogramms entstanden, welches das Ziel hat, langfristig und nachhaltig verbesserte Lebensbedingungen in den lange von den Entwicklungsprojektionen des Landes ausgeschlossenen ländlichen Gebieten zu schaffen. Sie vertreten somit die Interessen der in ihnen organisierten kleinen und mittleren Agrarproduzenten. Auch die erwähnten Umweltbewegungen sind zu den Reformbefürwortern zu zählen. Die organisierten Kokabauern hingegen gehören zu den Reformblockieren im ländlichen Raum. Ihr Interesse liegt zweifelsohne in der ungehinderten Fortsetzung des für sie relativ lukrativen Kokaanbaus, wozu das Ende der von den USA gesteuerten und mitfinanzierten Antidrogenpolitik gehört. Hinter den zumeist radikal agierenden Verbänden der Kokabauern werden die Interessen der in Peru operierenden mexikanischen Drogenkartelle vermutet.

Die demokratische Schwäche in Peru ist durchaus als historisches Problem zu sehen. Phasen demokratischer Erneuerung wurden immer wieder von antidemokratischen Rückschlägen abgelöst. Auch gegenwärtig sind die Militärs im politischen Leben Perus präsent, wenngleich ihre unmittelbare Einflussnahme längst nicht mehr die Bedeutung früherer Jahre hat. Eine Krise der traditionellen Parteien sowie eine Skepsis der Bevölkerung gegenüber den Parteien und demokratischen Institutionen ist zu konstatieren. Immer mehr herrscht die Sichtweise vor, dass Demokratie die bestehenden konjunkturellen Probleme nicht zu lösen vermag. Diese Tendenz hat dazu geführt, dass vermehrt autoritäre Führer und "caudillos" die Szene erschließen und die Bevölkerung zunehmend Führer aus ehemals politikfernen Bereichen der Gesellschaft und autoritäre Systeme unterstützt.

Die Hoffnungen in der zivilen Gesellschaft liegen daher aber auch vermehrt auf neuen Formen politischer Repräsentanz in Gestalt sozialer Bewegungen. Auch hier gelten freilich zuweilen eher klientelistische, ethnische und verwandtschaftlich begründete Rekrutierungsmuster als "basisdemokratische" Regeln. Dennoch belegen diese Bewegungen eindeutig das Bestreben, die bisherigen sozialen, ethnischen und politischen Hierarchien in Frage zu stellen und mit neuen Formen demokratischer Repräsentanz zu experimentieren.

Literatur

Escobar, Arturo 1999: "Lo cultural y lo político en los movimientos sociales de América Latina." In: Arturo Escobar, El final del salvaje. Naturaleza, cultura y política en la antropología contemporánea. CEREC, Bogotá, S. 133-167.

Huber, Ludwig 2001: "Gesucht: politische Akteure in Peru". In: Lateinamerika. Analysen-Daten-Dokumentation, Hamburg, Nr. 45, 17. Jg. (Sept. 2001), S. 17-23.

Montoya, Rodrigo 2002: "Cultura y poder." Externer Link: In: Ciberayllu

Portés, Alejandro/Hoffmann, Kelly 2003: "Latin American Class Structures: Their Composition and Change during the Neoliberal Era." Latin American Research Review, Vol. 38, No. 1 (February 2003): 41-82.

Weitere Inhalte

Dr. phil. Andreas Steinhauf, Ethnologe. Seit August 2003 Berater in der Planungsabteilung des peruanischen Agrarministeriums zum Thema ländliche Entwicklung im Dezentralisierungskontext des Agrarsektors, im Rahmen des CIM-Programms "Integrierte Fachkräfte". Davor von 1999 bis 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent für die Andenländer am Institut für Iberoamerika-Kunde (IIK), Hamburg; diverse Veröffentlichungen zu Politik und Gesellschaft im Andenraum.