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Die EU ohne Großbritannien: Politische Folgefragen | Der Brexit und die britische Sonderrolle in der EU | bpb.de

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Die EU ohne Großbritannien: Politische Folgefragen

Almut Möller

/ 6 Minuten zu lesen

Das politische Gefüge der Europäischen Union hat sich über die Jahrzehnte entwickelt. Doch was passiert, wenn ein Mitglied es wieder verlässt? Und welche Folgen hat das für das Land selbst? Fragen aus der Brexit-Debatte.

Ein Brexit hätte auch Folgen für die diplomatischen Beziehungen. Auf dem Bild: der britische Premier David Cameron und Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker im Vorfeld eines Treffens in Brüssel am 15. Februar 2016 (© picture-alliance/dpa)

Großbritannien gilt gemeinhin als "schwieriger Partner" in der Europäischen Union. Der Beitritt des Vereinigten Königreichs zur damaligen Interner Link: Europäischen Gemeinschaft (EG) erfolgte vergleichsweise spät (1973) und war kontrovers, so dass die Briten bereits 1975 unter der Nachfolgeregierung Gelegenheit bekamen, in einem Referendum über die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft abzustimmen. 67 Prozent der Wählerinnen und Wähler – 64 Prozent der Wahlberechtigten nutzten damals ihr Stimmrecht – sprachen sich für einen Verbleib in der Gemeinschaft aus. Im Kern sehen die Briten seitdem in der europäischen Zusammenarbeit vor allem einen wirtschaftlichen Mehrwert im Binnenmarkt, während das Ziel einer politischen Union den meisten Briten fremd geblieben ist.

Insgesamt war und ist der britische Blick auf die EG und spätere Europäische Union (EU) vor allem instrumentell ("Was nutzt uns die Mitgliedschaft?") und weniger normativ wie etwa in Deutschland oder Frankreich. Britische Regierungen haben traditionell weniger das 'große Ganze', das heißt die Entwicklung und den Zusammenhalt der EU insgesamt, im Blick. Die Entwicklung der EG hin zu einer Europäischen Union haben die Briten auch nur zum Teil mitvollzogen. Das Vereinigte Königreich ist kein Mitglied der Interner Link: Eurozone und will es auch auf absehbare Zeit nicht werden. Dasselbe gilt für die Mitgliedschaft im Schengen-Raum. Innerhalb des Vereinigten Königreichs gibt es jedoch Unterschiede im Blick auf Europa: Waliser und vor allem Schotten sind deutlich "europafreundlicher", da sie im Zuge der Europäisierung nicht nur wirtschaftliche Aufholprozesse durchlaufen haben, sondern mit der EU-Mitgliedschaft auch eine Emanzipation von London verbinden.

Die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens war und ist innenpolitisch immer wieder mit Spannungen verbunden, die über die Jahrzehnte nie ganz aufgelöst wurden und nun seit einigen Jahren auf einen Höhepunkt zugesteuert sind. Unter dem Druck der europafeindlichen Kräfte vor allem der United Kingdom Independence Party (UKIP), aber auch aus den eigenen Reihen der Interner Link: Conservative Party und einer Mehrzahl der Medien im Land, hat Premierminister David Cameron Anfang 2013 angekündigt, mit der EU einen Reformvertrag auszuhandeln, um die Beziehungen zur EU auf eine neue Basis zu stellen. Das Reformpaket, das Großbritannien nach intensiven Verhandlungen eine Reihe weiterer Sonderregelungen für seine Mitgliedschaft eröffnet, wurde im Februar 2016 im Interner Link: Europäischen Rat beschlossen. Für die britische Regierung bildet es die Grundlage für das Referendum am 23. Juni 2016 – auch wenn es in der Kampagne selbst kaum eine Rolle spielt.

Politische Folgen des britischen EU-Referendums

Schon die Ankündigung Camerons im Jahr 2013, ein Referendum abzuhalten, hat unter den Regierungen der EU eine Debatte ausgelöst, die weiter reicht als die Frage der Zukunft Großbritanniens in der EU. Nicht nur haben die britischen Reformforderungen in Teilen der EU Resonanz gefunden, sondern mit einem möglichen Austritt der Briten wird nun auch der Zusammenhalt der EU insgesamt zum Thema. Was als innenpolitisch motivierte Debatte in Großbritannien begann, ist inzwischen – parallel zu den Krisenerfahrungen der EU der vergangenen Jahre – zu einer Debatte über die Gesamtordnung auf dem europäischen Kontinent geworden.

Folgen für Großbritannien

Für das Vereinigte Königreich stellt sich im Falle eines Votums für den Verbleib in der EU vor allem die Frage, inwieweit dies der aktuellen und künftigen Regierungen mehr Spielraum in der Europapolitik gibt. Den meisten Umfragen zufolge ist derzeit ein knappes Ergebnis im Referendum zu erwarten. Innenpolitisch gesehen wird damit die britische Europapolitik auch in Zukunft mit einer polarisierten Debatte arbeiten müssen – vor allem angesichts der Fortsetzung der EU-Debatten über eine Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) oder die Fragen im Zusammenhang der Interner Link: Flüchtlingspolitik, die in Großbritannien erwartbare Kontroversen befeuern werden, selbst wenn das Land sich nicht oder nur teilweise an den politischen Entscheidungen der EU beteiligt. Für den Rest der EU wird deshalb Großbritannien auch bei einem Verbleib nicht zum einfachen Partner, da es seine inneren Spannungen auch in Zukunft auf die EU-Ebene tragen wird. Dort ist die Politik allerdings inzwischen insgesamt deutlich kontroverser geworden, da auch in einer Reihe von anderen EU-Ländern europakritische oder europafeindliche Parteien und Bewegungen an Boden gewonnen haben.

Ein Votum für den Austritt des Landes hätte deutlich gravierendere Folgen für das Land: Wirtschaftlich sind diese nur schwer zu bemessen und die Interner Link: unterschiedlichen Lager liefern sich in ihren Referendumskampagnen dazu derzeit einen heftigen Schlagabtausch. Unbestritten ist, dass Großbritannien mit einem Austritt aus der EU vor einer Phase der Unsicherheit steht, die sich über Jahre hinziehen kann. Die wirtschaftlichen, aber auch politischen Kosten einer solchen Periode sind nicht zu unterschätzen. Die rechtlichen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU müssten auf eine komplett neue Grundlage gestellt werden, für die unterschiedliche Optionen diskutiert werden. Welches Interner Link: Modell würde die Regierung in London, die diese neuen Beziehungen verhandeln müsste, ins Feld führen? Und wie würden die verbleibenden EU-Mitglieder auf die britischen Forderungen reagieren? Außerhalb der EU-Entscheidungsprozesse würde es für Großbritannien deutlich schwerer sein, seine eigenen Interessen einfließen zu lassen. Es bestünde selbst für ein Land der Größe und des Einflusses von Großbritannien das Risiko, dass man zwar in EU-Politiken als Drittstaat eingebunden ist, über diese aber nicht mitbestimmen kann. Politisch ist die entscheidende Frage, mit welchen Mitteln die Briten ihre Gestaltungsmacht in Europa und auch weltweit erhalten könnten, wenn sie in entscheidenden Verhandlungen über Politiken außen vor bleiben.

Ein Austritt hätte aber auch innenpolitische Folgen für die Zukunft des Vereinigten Königreichs: Schottland würde sich auf absehbare Zeit nicht mit einem solchen Votum abfinden und die eigene Unabhängigkeit (und EU-Mitgliedschaft) wieder auf die Tagesordnung setzen. Auch in Nordirland drohen im Falle des "Brexit" Spannungen neu aufzubrechen. Mit dem Austritt aus der EU könnte dem Vereinigten Königreich damit auch ein Auseinanderbrechen im Inneren drohen.

Folgen für die EU

Die politischen Folgen eines Votums der Briten für einen EU-Austritt wären aber auch für die EU erheblich. Ganz grundsätzlich stünde die Frage im Raum, inwieweit die EU angesichts der ohnehin starken Fliehkräfte bei einem Austritt des drittgrößten Mitglieds noch daran festhalten kann, das unumstrittene politische Ordnungsmodell für die Zukunft des europäischen Kontinents zu sein. Einerseits könnte auch innerhalb der verbleibenden EU-27 ein Dominoeffekt entstehen. Länder, in denen Europakritiker gleichermaßen auf dem Vormarsch sind, könnten sich dem britischen Beispiel anschließen in der Hoffnung, im Zuge eines Austritts ihrerseits "bessere" Konditionen für das eigene Land auszuhandeln. In der Phase der Neuaushandlung der Beziehungen zwischen der EU-27 und Großbritannien würde diese Sorge eine Rolle spielen und voraussichtlich eher eine EU-Position befördern, die den Austritt für andere als nicht attraktiv erscheinen lässt. Doch selbst wenn man den Briten vergleichsweise wenige Zugeständnisse machen würde, hätte auch der Rest der EU kein Interesse daran, Politik in Europa künftig ohne die Briten zu machen. In wirtschaftlicher Hinsicht, aber auch in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, würde es auch in Zukunft auf beiden Seiten starke Anreize für eine Zusammenarbeit geben. Dabei bestünde jedoch das Risiko, dass der einheitliche institutionelle EU-Rahmen letztlich weiter unterlaufen wird.

Auch aus globaler Perspektive würde man vermutlich noch weniger an eine Zukunft der EU glauben, wenn ein Land des Kalibers des Vereinigten Königreichs sich zurückziehen würde. Wenn die weltweit renommierte BBC am Morgen des 24. Juni mit der Nachricht aufmacht, dass die Briten die EU verlassen werden, werden viele Menschen und Regierungen um den Globus herum fragen: Was kann man von dieser EU in Zukunft überhaupt noch erwarten? Ist sie nicht längst in Auflösung begriffen? Somit ist die "britische Frage" längst zu einer Angelegenheit für die Zukunft der EU insgesamt geworden. Dies hat allerdings nicht nur mit der Entscheidung Londons zu tun, das Referendum abzuhalten, sondern mit der Lage der EU als solcher. Jahre der Krisen haben ihre Spuren hinterlassen. In Berlin ist man sich dieser Perspektive sehr bewusst und wird wohl bei einem Votum für den Austritt alles daran setzen, dem Eindruck einer EU im freien Fall entgegenzuwirken, um auch in anderen Bereichen der Europapolitik mittel- bis langfristig wieder an Boden gewinnen zu können. Europa braucht derzeit Erfolgserlebnisse – und angesichts der insgesamt angespannten Lage wäre ein Verbleib der Briten in der EU eine ziemlich gute Nachricht.

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Almut Möller ist Senior Policy Fellow und Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR).