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Wo geht's hier raus? | Der Brexit und die britische Sonderrolle in der EU | bpb.de

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Wo geht's hier raus? Interview über den langen Weg zum Brexit

Nicolai von Ondarza

/ 5 Minuten zu lesen

Was macht eigentlich der Brexit? Europaexperte Nicolai von Ondarza sagt es uns – Interview über eine lange planlose britische Regierung, fehlende Austrittsregeln und eine EU, die ihre Krise dringend ernster nehmen sollte.

Wo geht's hier raus? Im Juni haben die Briten beschlossen, die EU zu verlassen. Wie sich der Austritt genau gestalten wird, ist aber noch unklar. Symbolbild: Zu sehen ist der Ausgang der Metrolinie Jubilee Line in London. (© picture alliance / Photoshot)

Bis nächsten März wollen die Briten den Brexit einleiten. Was dauert da so lange?

Im Grunde müssen die Briten erstmal eine Strategie für den Austritt aus der Europäischen Union entwickeln. Großbritannien Interner Link: war über 40 Jahre Mitglied. Nun muss man sich in fast allen Politikbereichen – im Handel, in der Außen- und Sicherheitspolitik – genau überlegen, wie diese Trennung vollzogen werden soll. Was man der britischen Regierung vorwerfen kann, ist, dass sie vor dem Referendum keinen Plan hatte, wie sie damit umgehen würde, wenn die Briten sagen: Wir wollen austreten. Die Regierung musste bei Null anfangen, und bei dieser Planentwicklung sind die Briten jetzt noch. Dazu kommt, dass niemand Großbritannien zwingen kann, den Antrag zum Austritt früher zu stellen, sie können das souverän entscheiden.

Der Beitritt in die EU ist klar geregelt, der Austritt in Artikel 50 des EU-Vertrags nur grob umrissen – warum hat die EU für den Austrittsfall keine klaren Regeln entwickelt?

Weil das bei der Konstruktion der EU nie vorgesehen war. Die EU selbst versteht sich ja als Union von Bürgern und Staaten, die immer enger zusammenwachsen sollen. Seit Beginn der Integration in den 1950er-Jahren kannte die EU immer nur eine Richtung: eine Interner Link: weitere Integration und mehr Souveränitätsabgabe nach Brüssel. Der Interner Link: Austrittsartikel im EU-Vertrag, dieser Artikel 50, war im Grunde ein rein symbolischer Artikel. Niemand hat damit gerechnet, dass er jemals angewendet werden würde. Deshalb gibt er nur einen sehr losen Rahmen für einen Austritt vor. Der muss nun mit Inhalt gefüllt werden.

Für welche Ziele werden Großbritannien und die EU jeweils bei den Verhandlungen kämpfen?

Das kann man bisher nur erahnen. Die EU 27, also die übrigen Mitgliedstaaten, haben bis dato die Position: Wenn Großbritannien weiter am Binnenmarkt teilnehmen will, muss es alle vier Freiheiten des Binnenmarkts akzeptieren, also nicht nur den freien Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr, sondern auch den freien Personenverkehr, der die Einwanderung nach Großbritannien ermöglicht. Auch müsste Großbritannien EU-Regeln weiter umsetzen, etwa in der Finanzmarktregulierung. Auf der Gegenseite schält sich jetzt die Strategie der britischen Regierung heraus, die genau das Gegenteil will. Die sagen: „Wir wollen weiter mit der EU Handel treiben und wirtschaftlich zusammenarbeiten, aber ohne Freizügigkeit, das heißt wir wollen die Einwanderung klar begrenzen. Wir wollen das unsere Regeln im britischen Parlament gemacht werden und uns nicht an Urteile des Europäischen Gerichtshof halten.“ Damit hat man zu Beginn der Verhandlungen einen ganz klaren Interessenkonflikt.

Mit welcher Folge?

Ich gehe davon aus, dass es einen „harten Brexit“ geben wird. Dann wäre Großbritannien nicht wie zum Beispiel Norwegen oder die Schweiz weiter in den Binnenmarkt integriert, sondern die Trennung zwischen der EU und Großbritannien würde sehr viel härter. Beispielsweise könnten zwischen der EU und Großbritannien wieder Handelshemmnisse aufgebaut werden.

Nicht alle Briten waren für den Austritt aus der EU, sondern nur 51 Prozent. Welche Rolle wird die Opposition in Großbritannien bei den künftigen Verhandlungen spielen?

Wie stark die Opposition die Regierung beim Brexit kontrollieren kann, ist noch offen. Nach jetzigem Stand sagt die neue Premierministerin May, dass es ein klares Mandat für den Brexit gibt, dass die Regierung entschlossen ist, den Brexit durchzuführen – und zwar ohne Parlamentsbeteiligung. Sie beruft sich dabei auf die sogenannten „königlichen Vorrechte“, die die britische Regierung im Namen der Krone ausübt. Damit könnte die Regierung alleine den Brexit aushandeln. Die Opposition und auch Teile der Regierungsparlamentarier hingegen wollen durchsetzen, dass das Parlament sehr viel stärker in die Verhandlungen eingebunden wird und die Strategie für den Brexit festlegt. Dann hätte die Opposition auch wesentlich mehr Möglichkeiten, den Austritt mitzugestalten. Dieser Kampf wird gerade im Parlament und vor britischen Gerichten ausgefochten.

Knapp die Hälfte der Wähler stimmten beim Referendum im Juni gegen den Brexit. Seitdem kommt es immer wieder zu Protesten von EU-Befürwortern und -Gegnern - so wie bei dieser Demonstration vor dem Royal Courts of Justice in London am 17. Oktober 2016. (© dpa)


Im Anschluss an das Referendum gab es viele Forderungen nach einem zweiten Referendum. Wird das Volk nochmal Ja oder Nein zum Brexit sagen können?

Ein zweites Referendum ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Der Punkt, an dem die Bevölkerung einen Richtungswandel durchsetzen könnte, wären die nächsten regulären Parlamentswahlen. Die sind in Großbritannien aber erst für Mai 2020 angesetzt und nach dem jetzigen Zeitplan wollen die Briten im März 2017 den Austritt beantragen. Aufgrund der Zweijahresfrist würde das bedeuten, dass sie Anfang 2019 vollständig austreten würden, noch deutlich vor der Parlamentswahl. Falls die Verhandlungen mit der EU aber verlängert werden, besteht natürlich die Möglichkeit, dass man das mit in den Wahlkampf nimmt. Oder wenn aus irgendeinem Grund die Parlamentswahlen vorgezogen werden. Danach sieht es aber aktuell nicht aus, denn nicht nur die konservative Partei, sondern auch die Interner Link: Labour-Partei, die größte Oppositionspartei, scheint das Votum der Bevölkerung akzeptieren zu wollen.

Viele haben nach der Entscheidung der Briten gefordert, man könne jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen, die EU müsse sich wandeln – hat sie damit begonnen?

Nur sehr zögerlich. Man kann es so zusammenfassen, dass das Brexit-Votum zu einem Nachdenken, aber noch nicht zu einem Umdenken in der EU geführt hat. Es gab im September ein erstes Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU-27, wo die nächsten Schritte besprochen werden sollten. Aber was da auf der Agenda stand, ist alles auch früher schon diskutiert worden: Wie kann man den Grenzschutz stärken? Wie sollen wir zukünftig mit der Migration umgehen? Und wie können wir in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik mehr zusammenarbeiten? Was sich aber geändert hat: Viele, auch Brüsseler Spitzenpolitiker, sehen ein, dass die EU tatsächlich in einer existenziellen Krise ist und dass sie, wenn sie nicht das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen kann, in ihrem Bestand bedroht ist. Aber einen radikalen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik oder in der Eurozonenpolitik sehe ich nicht.

Wie kann die EU das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen?

Die EU müsste den Bürgern zeigen, dass sie tatsächlich hilft, die großen Herausforderungen zu bewältigen. In zwei großen Integrationsprojekten, in der Interner Link: Eurozone und im Interner Link: Schengenraum mit den offenen Binnengrenzen und dem gemeinsamen Außengrenzen, ist die EU seit Jahren in Krisen gefangen. Und sie hat es nicht geschafft, dem Bürger zu zeigen, dass sie in der Lage ist, diese Probleme zu lösen. Was die EU jetzt nicht braucht, ist eine neue Debatte, was noch an Kompetenzen nach Brüssel verlagert werden soll oder was die Europäer mehr gemeinsam machen müssen. Stattdessen sind kleine Schritte nötig, mit denen die EU klar zeigt, wie sie etwa bei der Grenzsicherung so helfen kann, dass die Sorgen der Bürger bei der Migration ernst genommen werden und sie trotzdem ihrer humanitären Verantwortung gerecht wird. Solche praktischen Lösungen sind in Brüssel aus meiner Sicht in den letzten Jahren nicht gelungen.

Das Interview ist zuerst bei Externer Link: fluter.de erschienen. Interviewerin: Sinah Grotefels.

Fussnoten

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Nicolai von Ondarza (© privat)

Dr. Nicolai von Ondarza ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Schwerpunkte seiner Forschung sind unter anderem die Themen Großbritannien, EU-Institutionen und Grundsatzfragen europäischer Integration.