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„Ein Meilenstein in der Geschichte der Europäischen Union“ | Democracy - Im Rausch der Daten | bpb.de

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„Ein Meilenstein in der Geschichte der Europäischen Union“

/ 6 Minuten zu lesen

Die einstige Brüsseler Kommissarin Viviane Reding findet es immer noch unglaublich, dass die Datenschutzverordnung zustande gekommen ist. Ihr war es wichtig, den Bürgern das Vertrauen in die Datensicherheit zurückzugeben.

Viviane Reding in dem Film "Democracy" (© Indi Film - Marcus Winterbauer)

bpb.de: Frau Reding, Sie sind Konservative aus Luxemburg, Jan Philipp Albrecht ein deutscher Grüner. Dennoch nennen Sie ihn im Film „Democracy“ Ihren „Lieblingsberichterstatter“. Warum?

Viviane Reding: Jan Philipp Albrecht hat als Berichterstatter des EU-Parlaments bei der Datenschutzgrundverordnung eine hervorragende Arbeit geleistet. Da ging es nicht um Parteipolitik, da ging es um die Sache. Das hieß für uns beide, den Markt zu öffnen für kleine und mittlere Betriebe sowie für Start-Ups. Und das hieß, den Markt abzusichern, denn bislang agierte die Konkurrenz von außen auf dem europäischen Markt so, als gäbe es keine Gesetze. Und es ging uns darum, den Bürger abzusichern. Wir hatten also dieselben Ziele, deshalb war die Kooperation auch für zwei Menschen aus verschiedenen politischen Lagern und verschiedenen Parteien möglich.

Sie haben 2012 als die damals zuständige EU-Kommissarin eine Datenschutzreform auf EU-Ebene vorgeschlagen und auf den Weg gebracht. Sind Sie zufrieden damit, was heute daraus geworden ist?

Da muss ich ausholen. In den Neunzigerjahren wurde die Europäische Union vergrößert, viele der Menschen waren zudem von einer Kriegserfahrung oder von einem Leben unter einem totalitären Regime geprägt. Sie hatten ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Staat. Die EU-Datenschutzrichtlinie von 1995 war eine Antwort darauf. Nun ist aber 1995 für uns heute technische Steinzeit. 2011 hat mich eine Umfrage überrascht, nach der 70 Prozent der EU-Bürger glaubten, ihre persönlichen Daten werden von den Unternehmen missbraucht. Sie hatten kein Vertrauen darin, dass sie die Politik auf diesem Gebiet schützen kann. Da mussten wir handeln: Wir mussten die EU für den digitalen Binnenmarkt öffnen, wir mussten die EU-Firmen vor ausländischen Übernahmen schützen und wir mussten den Bürgern das Vertrauen in die Datensicherheit zurückgeben. Ohne Vertrauen nehmen die Bürger neue digitale Dienstleistungen nicht an.

Wie sind Sie das Problem angegangen?

Wir brauchten eine grundlegende Reform. Jeder EU-Staat hatte damals eigene Regeln. Für kleine und mittlere Betriebe war es unmöglich, für Start-Ups undenkbar, jenseits der Grenzen Fuß zu fassen. Sie benötigen ja fast einen juristischen Dienst, wenn sie in der gesamten EU agieren wollten. Also wollten wir 28 nationale Gesetze abschaffen - und durch eines für den gesamten Kontinent ersetzen. Außerdem wollten wir die Menschen so absichern, dass sie Vertrauen bekommen in den Schutz, den ihnen das Gesetz gewährt und in die Art und Weise, wie die Dienstleister sie behandeln. Das war wirklich nicht einfach. Jetzt aber haben wir die Grundverordnung, ein Meilenstein in der Geschichte der EU-Politik, weltweit die weitreichendste Datenschutzregelung überhaupt.

"Start-Ups benötigen ja fast einen juristischen Dienst, wenn sie in der gesamten EU agieren wollen."

Weltweit sagen Sie?

Kein anderes Land hat solch eine solide Datenschutzgesetzgebung. Das ist wichtig für die digitale Souveränität der EU. Und wichtig, wenn wir mit anderen Teilen der Welt verhandeln: Wir wollen doch die Regeln weltweit mitbestimmen, um das Potenzial neuer Technologien aus der EU voll ausschöpfen zu können. Auch deshalb müssen sich nun die großen US-amerikanischen Unternehmen an unsere Regeln halten. Falls nicht, drohen Strafen bis zu vier Prozent des weltweiten Umsatzes.

Was ist für Sie die wichtigste Regel in der Datenschutzgrundverordnung?

Dass es empfindliche Geldbußen gibt, ist auf jeden Fall ein Riesenfortschritt. Auch der beste Gesetzestext nützt wenig, wenn er nicht durch Strafen durchgesetzt werden kann. Gegen diese richtete sich ja auch der größte Teil der Lobbyarbeit bei der Verordnung.

Gibt es auch etwas, das Sie bis heute an der Verordnung stört?

Es wäre falsch, sich einen Punkt herauszupicken. Jedes Gesetz ist ein Kompromiss. Dass dieser Kompromiss Wirklichkeit wurde, ist allerdings fast unglaublich. Stellen Sie sich mal vor, EU-Kommissare und -Berichterstatter kämen nach Berlin und wollten hier ein deutsches Gesetz durch ein europäisches ersetzen. Der Aufruhr wäre riesengroß! Aber dann gab es die Snowden-Affäre. Da sind die Minister der Mitgliedsstaaten endlich aufgewacht. Da verstanden sie, dass etwas getan werden muss.

Im Mai 2018 soll die Verordnung sechs Jahre nach Ihrem ersten Vorstoß in den Staaten der EU in nationales Recht umgesetzt sein – dauert das nicht viel zu lange?

Die Unternehmen brauchen ja auch Zeit, um sich auf die Neuerungen einzustellen. Bis jetzt haben sich viele Firmen überhaupt nicht um Datenschutz gekümmert. Nun müssen sie möglicherweise sogar einen Datenschutzbeauftragten einstellen.

Viviane Reding stellt Vorschlag für Datenschutzreform vor

Ausschnitt aus Democracy - Im Rausch der Daten

Viviane Reding stellt Vorschlag für Datenschutzreform vor

Ausschnitt aus dem Film Dokumentarfilm "Democracy - Im Rausch der Daten". Eine fesselnde Geschichte über die Entstehung der Europäischen Datenschutzrichtlinie. Gleichzeitig ein spannender Einblick in den Gesetzgebungsprozess der Europäischen Union. Ab dem 1. Juli 2018 auf bpb.de/democracy

Ist die Komplexität der Gesetzgebung, die ja im Film gezeigt wird, nicht ein Riesenproblem für die EU?

Verglichen mit der Entstehung zum Beispiel eines deutschen Gesetzes ist das nicht lang. Auf europäischer Ebene mit dieser großen politischen und kulturellen Vielfalt ist es ja noch viel schwieriger, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Nationales durch europäisches Recht zu ersetzen ist wirklich keine kleine Sache. Aber Europa kann in einer globalisierten Welt nur stark werden, wenn wir aus dem Klein-Klein herausfinden und uns als Einheit präsentieren.

Die IT-Industrie klagt über zu viel Bürokratie und Dokumentationspflichten in der Datenschutzgrundverordnung. Vor allem für Start-ups sei die Regulierung in Europa viel zu strikt. Stimmt das?

Ein Unternehmen, das immer ignoriert hat, dass es überhaupt nationale Datenschutz-Gesetze gibt, wird natürlich nicht zufrieden sein, wenn es sich jetzt an europäisches Recht halten muss. Selbst die großen Riesen aus den USA agierten bislang in einer Art gesetzlosem Raum: Sie haben vielfach die Regeln der EU-Mitgliedsstaaten schlicht ignoriert. Jetzt haben wir ein starkes paneuropäisches Gesetz, das alle gleich stark betrifft. Wenn in Berlin ein Start-up eine interessante Dienstleistung in der gesamten EU anbieten wollte, musste es dieses Produkt vorher an 28 verschiedene Gesetze anpassen. Jetzt muss es nur noch an ein Gesetz angepasst sein. Das halte ich für weniger, nicht für mehr Bürokratie.

„Selbst die Riesen aus den USA agierten bislang in einer Art gesetzlosem Raum“

Datenschutzexperten monieren, die Grundverordnung sei zu großen Teilen wirkungslos, weil sie Themen wie Soziale Netzwerke und Cloud Computing ignoriere, also die Bereitstellung von Speicherplatz oder Rechnerleistung über das Internet. Was sagen Sie dazu?

Die digitale Entwicklung ist zehn Mal schneller als die Gesetzgebung. Natürlich brauchen wir deshalb regelmäßig einen regulatorischen Fortschritt. Aber die Datenschutzgrundverordnung kann an alle künftigen technologischen Entwicklungen angepasst werden. Tatsächlich sind einzelne Bereiche wie die Sozialen Netzwerke ausgespart worden. Die Probleme, die es hier gibt, sind bekannt. Zum Beispiel, wer die Verantwortung für dort publizierte Inhalte hat: Sind das nur Weiterleitungsmaschinen oder tragen sie auch Verantwortung für den Inhalt? Das Parlament arbeitet gerade an einer Copyright-Regelung, die diese Fragen berührt. Meiner Meinung nach gehören solche Probleme nicht zur Grundverordnung, sie haben mit Datenschutz direkt nichts zu tun. Um den digitalen Binnenmarkt zu vervollständigen, brauchen wir bestimmt noch dutzende weitere neue Regelungen.

Wichtiges Thema im Film ist auch der Lobbyismus: 4000 Änderungsanträge zum Vorschlag des EU-Parlaments hat es gegeben. Haben Lobbyisten nicht zu viel Einfluss auf die Gesetzgebung in Europa?

Lobbyismus ist eine Tatsache. In den Hauptstädten der EU-Mitgliedsstaaten ist er aber viel stärker als in Brüssel. Hier herrscht weitgehende Transparenz, hier sind die Lobbyisten bekannt und registriert, es wird veröffentlicht, mit wem sie wo Kontakt aufnehmen und was sie fordern. Hinter verschlossenen Türen bleibt, welche Abmachungen getroffen wurden. Europa hat weitgehende Transparenzregeln eingeführt. Diejenigen, die sich gegen strengere Standards wehren, sind die Mitgliedsstaaten. Meiner Meinung nach ist das ein Fehler, aber so ist Realpolitik. Und Sie sehen es ja: Die Lobbyisten haben es nicht fertig gebracht, das Europaparlament beim Datenschutz in die Knie zu zwingen.

Die EU erodiert gerade an vielen Fronten, erfrischend anders dagegen verbraucherfreundliche Regelungen wie beim Datenschutz oder beim Ende der Roaming-Gebühren. Was ist Ihrer Meinung das nächste große Ding der EU?

Der digitale Binnenmarkt. Die Technologie galoppiert hier, die Politik hinkt hinterher. Aber die Erfahrungen, die wir mit dem gemeinsamen Telekommunikationsmarkt, siehe Roaming, als auch mit dem gemeinsamen Datenschutz, siehe Verordnung, gemacht haben, kann auch auf andere Themen angewandt werden. Die Verordnung zeigt doch, dass man sowohl Marktöffnung als auch den Schutz des Einzelnen verbinden kann. Das weist in die Zukunft. Wenn die EU künftig den Markt gleich welcher Branche weiterentwickeln will, muss sie immer den Kunden mit einbeziehen.

Das Interview führte Kai Schöneberg