Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Mehr als Kunst. Was macht französisches Theater so anders? | Frankreich | bpb.de

Frankreich Wahlen in Frankreich 2022 Knapp davongekommen? Macrons Präsidentschaft Ein Klimapräsident? Der französische Präsident Parteiensystem im Umbruch Wahlkampfthemen Immigration und Identität Kaufkraft und soziale Gerechtigkeit Innere Sicherheit Die Europäische Union Keine Diskussion der Klimafrage Wer stand zur Wahl? Emmanuel Macron Marine Le Pen Jean-Luc Mélenchon Éric Zemmour Valérie Pécresse Yannick Jadot Anne Hidalgo Deutsch-französische Beziehungen Außen- und Sicherheitspolitik Symmetrie Wirtschaftsbeziehungen Zivilgesellschaft Deutschlandbild Interview mit Jörn Bousselmi Porträt Julien Chiappone Porträt Flavie Labendzki Macht und Einfluss Der französische Präsident Parteiensystem im Umbruch Die Intellektuellen in Frankreich Medien Bildung und Struktur der politischen Elite in Frankreich Interview mit Pierre-Yves Le Borgn’ Porträt Lenaig Bredoux Land und Gesellschaft Terrorismus und innere Sicherheit Paris Dezentralisierung "Ehe für alle" Freimaurer Problemgebiet Banlieue Demografie Französisches Bildungssystem Laizität Im Interview mit Pascale Hugues Porträt Hawa Coulibaly Porträt Lionel Petit Geschichte und Erinnerung Königtum und Revolutionsmythos Die Wunden des Weltkrieges Interpretationen des Ersten Weltkriegs Der Erste Weltkrieg und die deutsch-französische Aussöhnung Kollaboration und Widerstand Das Erbe de Gaulles Der Algerienkrieg Der französische Mai '68 Interview mit Alfred Grosser Porträt Karfa Diallo Porträt Jean-Pierre Laparra Wirtschaft und Soziales Wirtschaftsmodell Standort Frankreich Luxusindustrie Sozialsystem Streiken Haushaltspolitik Interview mit Ulrike Steinhorst Porträt Olivier Issaly Porträt Sophie Pinon-Mestelan Frankreich in einer globalisierten Welt Ambitionen auf der Weltbühne Globalisierung Nachbarschaftspolitik Abschied von der "Françafrique" Frankreichs Europapolitik Im Interview mit Sylvie Goulard Porträt Fawzia Baba-Aissa Porträt Pierre Bourgeois Kultur und Identität Theater Sprache Fußball Literaturpreise Kino Interview mit Ulrich Fuchs Porträt Jean-Paul Jeunet Porträt Céline Lebovitch Wahlen in Frankreich 2017 Kein Selbstläufer François Fillon Jean-Luc Mélenchon Marine Le Pen Emmanuel Macron Benoît Hamon Die Präsidentschaftswahl und die Eurozone Die Angst vor Verarmung lastet auf den französischen Wahlen Bildungspolitik Erste, Zweite, Dritte, … Sechste Republik? Ein Wahlkampf ohne Jugendarbeitslosigkeit Frankreichs Grüne: Zwischen Aktivismus und Politik Wie sich die Rolle des französischen Präsidenten entwickelt hat Landkarten Physische Übersicht Verwaltungsgliederung Außengebiete Bevölkerungsdichte Kolonien Zahlen und Fakten BIP-Entwicklung und Arbeitslosenquote Wertschöpfung Staatsverschuldung Energiemix Entwicklungszusammenarbeit Auslandseinsätze Handelspartner Hochschulkooperation Bevölkerungsstruktur Frankreich und Deutschland in der EU Freizeit- und Kulturausgaben Die größten Luxusunternehmen nach Umsatz Die wertvollsten Luxusmarken weltweit 2012 Öffentlicher Schuldenstand in Frankreich 1995-2014 Staatsdefizit in Frankreich und der Eurozone 1995-2011 Quiz Redaktion

Mehr als Kunst. Was macht französisches Theater so anders?

Beate Heine

/ 6 Minuten zu lesen

Zwischen dem französischen und deutschen Theater gibt es einen lebhaften Austausch. Trotzdem scheint diese Theateraffäre oft einseitig. Das französische Publikum steht den vielfältigen Formen des deutschen Regietheaters sehr aufgeschlossen gegenüber. Umgekehrt hat es das französische Theater in Deutschland häufig schwer. Die Liebe der Franzosen zum Theater ist nicht zuletzt auf politische Entscheidungen vor über 50 Jahren zurückzuführen.

Das weltberühmte Pariser Theatre de l'Odeon. Lizenz: cc by-sa/3.0/de

Es wuchs sich zu einer europäischen Affäre aus, als der Vertrag von Olivier Py, Direktor des Pariser Odéon-Theaters, 2011 überraschend nicht verlängert wurde. Kulturstaatsminister Frédéric Mitterand warf dem 45-järigen vor, sein Theater sei "nicht europäisch“ genug. Nach Protesten prominenter Künstler, darunter Isabelle Huppert, Daniel Auteuil, Patrice Chéreau, Thomas Ostermeier und Jean-Pierre Vincent, bekam Py schließlich als Kompromiss die Leitung des berühmten Festivals von Avignon ab 2014 angeboten. Wobei: sicher war dies mehr als nur ein Trostpreis für das umtriebige Multitalent, wie das deutsche Feuilleton zunächst mutmaßte. Denn bereits vor seiner Berufung in die französische Hauptstadt im Jahr 2007 wäre Py ohnehin lieber nach Avignon gegangen, hatte damals aber das Nachsehen. Für Kulturjournalisten in Deutschland verkörpert Py eine herausragende, prägende Künstlerpersönlichkeit, die europäischer nicht sein könnte und die es im eigenen Land so nicht gibt: Er ist Dramatiker, Schauspieler, Theaterleiter sowie Schauspiel- und Opernregisseur. Er hat in den Metropolen Europas gearbeitet: in Antwerpen, Brüssel, Wien, Köln und London. In Berlin fiel sein Stück "Die Sonne“ bei der deutschen Kritik allerdings durch, das er persönlich an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz inszeniert hatte.

Die Theateraffäre zwischen Frankreich und Deutschland ist kompliziert

Das französische Theater hat es schwer in Deutschland. Ganz anders verhält es sich umgekehrt: Das französische Publikum ist offen für das deutsche Regietheater. Es hat sich geradezu durchgesetzt. Der Regisseur und künstlerische Leiter der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier, wird mit seinen Inszenierungen seit vielen Jahren zum jährlichen Festival nach Avignon eingeladen. Der Chefzertrümmerer des deutschsprachigen Theaters Frank Castorf oder der Entschleuniger Christoph Marthaler arbeiten regelmäßig in Paris oder kommen mit Gastspielen dorthin. Ähnliche Tendenzen gelten auch für die zeitgenössische deutschsprachige und französische Dramatik: Autoren wie Falk Richter, Marius von Mayenburg, David Gieselmann oder Ewald Palmetshofer, deren Texte sozialen und politischen Anspruch haben und vor allem Geschichten erzählen, werden in Frankreich immer wieder gern gezeigt.

Etablierte französische Dramatiker wie Jean-Luc Lagarce, Valère Novarina oder Xavier Durringer wurden zwar in den 90er Jahren auf deutschen Bühnen gelegentlich gespielt, heute allerdings kaum noch. Und die nachfolgende Generation mit Christophe Pellet, Marie N’diaye, Fabrice Melquiot und Rémi de Vos, die wichtige Stimmen im eigenen Land sind, findet auch nur selten ihren Weg ins deutsche Theater. Ausnahmen sind die Komödienschreiber Yasmina Reza und Eric-Emmanuel Schmitt mit ihren geschliffenen, pointierten und temporeichen Dialogen, die in Frankreich vor allem an Privattheatern gespielt werden. Für deutsche Stadttheater sind sie sichere Publikumsrenner, seit die Komödie "Kunst“ von Reza an der Berliner Schaubühne 1995 erstmals im deutschsprachigen Raum aufgeführt wurde. Der Triumphzug ihrer Stücke begründet sich auch darin, dass dieses dramatische Genre in einer literarischen Tradition steht, die es in Deutschland nicht gibt.

Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass sich die zeitgenössischen französischen Autoren in ihren Texten auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Wirklichkeit ihres Landes und ihrer kulturellen Identität auseinandersetzen. So eröffnet Rémi de Vos, der es geschafft hat zu einem der erfolgreichsten zeitgenössischen Dramatiker Frankreichs zu avancieren, in dem Stück "Abendland“ seinen Figuren keinen Ausweg aus der tristen Absurdität des Alltags von Rassismus, Alkohol und Kälte. Nicht nur zwischen den Theatersystemen und der literarischen Tradition bestehen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich, auch der künstlerische Prozess ist verschieden. Das Theater in Frankreich erneuere sich durch den Text und nicht durch die Inszenierung, sagt Olivier Py. In Deutschland bestehe Respektlosigkeit dem Text gegenüber, in Frankreich hingegen sei der Respekt vor der Literatur ungebrochen. Py: "Deutsche Schauspieler setzen bei Proben gleich den Körper ein. Wenn ein französischer Schauspieler vor dem Schrank steht, hängt er ein Jackett hinein. Ein deutscher Schauspieler stellt sich auf den Schrank.“

Ein Theatersystem, das auf freien Theatertruppen basiert

Die Comédie-Française ist eine Stätte der Klassiker und der Antikentragödie und spielt vor allem französische Werke, wie die von Molière. (© ddp/AP)

Doch grundsätzlich haben es neue, ambitionierte Stücke in Frankreich ebenso schwer sich durchzusetzen wie in den europäischen Nachbarländern. Über Uraufführungen kommen sie meist nicht hinaus, selten werden die Stücke nachgespielt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Theater die jeweiligen Inszenierungen einige Wochen lang spielen und die Stücke in einem so kurzen Zeitraum kaum Chancen haben sich durchzusetzen. Ein subventioniertes dichtes Stadttheaternetz wie in Deutschland gibt es in Frankreich nicht. Durch den deutschen Repertoirebetrieb können die Risiken aufgefangen werden, die das Spielen neuer unbekannter Dramen birgt, so dass die Stücke bessere Aussichten haben. Das mag auch ein Grund sein, warum viele französische Autoren ihre Stücke häufig selbst inszenieren und eigene Kompanien gründen.

Hinzu kommt, dass freie Theatertruppen in Frankreich eher subventioniert werden als die Spielstätten. Ohnehin existiert keine so strikte Trennung zwischen den künstlerischen Bereichen Schreiben, Inszenierung und Schauspiel wie in Deutschland. Der Autor und Regisseur Joël Pommerat spielt und inszeniert mit seiner 1990 gegründeten "Compagnie Louis Brouillard“ ausschließlich eigene Texte. Eine Konsequenz, die zum Erfolg führte: Er wurde 2011 für sein Drama "Ma chambre froide“ mit dem nationalen Theaterpreis Frankreichs, dem "Molière“, für das beste Stück ausgezeichnet.

In Paris zählte der Verband "Association Opale“, der lokale kulturelle Initiativen unterstützt, in einer Umfrage mehr als 800 freie Theatergruppen. Außerdem gibt es dort über 40 Privattheater. Bis auf die Comédie-Française haben weder die fünf Nationaltheater noch die teilsubventionierten oder privaten Theater eine feste Ensemblestruktur. Viele dieser freien Gruppen sind sehr innovativ und verfolgen über Jahre konsequent ihre künstlerischen Visionen. Die Regisseure sind nicht nur Künstler, sondern auch Produzenten und Unternehmer, die die ökonomischen Risiken der Produktionen tragen. Sie müssen die Finanzierung ihrer Projekte auftreiben und Theaterhäuser von sich überzeugen. Dann werden die Inszenierungen meist in Paris uraufgeführt und ein paar Wochen gezeigt, bevor sie auf Tournee durchs Land gehen.

Als sich der berühmte Schauspieler Richard Bohringer drei Tage vor der Premiere von "Richard III“ das Bein brach und die Premiere sowie die Tournee abgesagt werden mussten, trug die Folgen des daraus erwachsenden finanziellen Desasters der Regisseur Hans Peter Cloos. Cloos stammt aus Deutschland, lebt und arbeitet seit über 30 Jahren in Paris und sieht durchaus die Vorteile dieses Systems, die für ihn vor allem künstlerischer Natur sind: "In Deutschland muss man mit dem jeweiligen Ensemble der Nationaltheater arbeiten, während die französische Produktionsweise mehr Freiraum lässt.“ Und als der international beachtete Regisseur Sylvain Creuzevault, der mit seiner Theatertruppe "D’ores et déjà“ eine eigene Spielweise entwickelte, die auf Improvisation und Stegreif-Theater basiert, Heiner Müllers "Der Auftrag“ im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg inszenierte, musste er erkennen, dass sich seine spezifische Arbeitsweise nicht ohne Weiteres auf das deutsche Theatersystem übertragen ließ.

Die Verankerung des Theaters in der Mitte der Gesellschaft

In Frankreich verfügt das Theater über einen politischen und kulturellen Stellenwert, den es in Deutschland nicht unbedingt hat. Die Berufung eines Intendanten (oder auch seine Absetzung wie im Fall von Olivier Py) ist in Frankreich ein Politikum und findet in den hohen Sphären der Politik statt. Der Staatspräsident entscheidet über die möglichen Kandidaten, die ihm vom Kulturminister vorgeschlagen werden.

Vor über 50 Jahren bekam der Romancier André Malraux den nationalen Auftrag, die Staatstheater zu reformieren. Das Theater sollte damit in der Mitte der Gesellschaft verankert werden. Neidisch schauten damals die deutschen Feuilletonisten nach Frankreich: "Welchen Rang muss im Bewusstsein der Franzosen eine Bühne genießen, wie wir sie als Institutionen nicht besitzen!“ schrieb 1959 die Wochenzeitung “Die Zeit“. Malraux verpflichtete die Comédie-Française, eine Stätte der Klassiker und der Antikentragödie zu sein und vor allem französische Werke zu spielen. Die nationale Bedeutung und den Rang der Comédie unterstrich er, indem er einen Diplomaten als Generaldirektor berief, den ehemaligen französischen Botschafter in Prag. Die Leitung des Odéon-Theaters übertrug er dem weltberühmten Schauspieler und Regisseur Jean-Louis Barrault, der die Spielstätte allerdings 1968 während der Maiunruhen für die Studenten öffnete, die sie mehrere Wochen besetzt hielten. Barrault fiel in Ungnade und durfte nie wieder die Leitung eines Staatstheaters übernehmen.

Malraux’ Absicht, dem Theater nationale Geltung zu verschaffen, war nachhaltig und spiegelt sich noch heute in der Theaterbegeisterung der französischen Gesellschaft wider. Oft gewinne man den Eindruck, das französische Publikum kenne die klassischen Dramentexte so gut wie Italiener ihre Opernpartituren, so die deutsche Bühnenverlegerin und Herausgeberin Ute Nyssen, die in der französischen Hauptstadt lebt. Die 40 Privattheater fänden in Paris ihr Publikum und über 500 Sprechtheater-Angebote gebe es pro Abend in der Stadt, sagt sie. In welcher europäischen Stadt wäre das sonst denkbar?

Weitere Inhalte

Beate Heine ist seit 2009 Geschäftsführende Dramaturgin am Thalia-Theater in Hamburg. Nach Stationen am Théâtre de Bobigny und am Théâtre de L’Odéon in Paris arbeitete sie an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz unter der Leitung von Frank Castorf und am Maxim-Gorki-Theater Berlin. 2002 holte Thomas Ostermeier sie an die Schaubühne am Lehniner Platz. 2005 ging sie ans Staatstheater Hannover unter der Intendanz von Wilfried Schulz.