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Analyse: Eurasische Union – Alte Integrationsidee mit neuem Namen | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Eurasische Union – Alte Integrationsidee mit neuem Namen

Katharina Hoffmann

/ 8 Minuten zu lesen

Auf Initiative von Wladimir Putin kündigten Russland, Belarus und Kasachstan im Oktober 2011 die Gründung der "Eurasischen Union" als neues Integrationsformat für den postsowjetischen Raum an. Die Union soll auf der Zollunion aufbauen und einen substantiellen Schritt in Richtung Integration des postsowjetischen Raums darstellen. Ein verändertes Verständnis von Integration lässt sich jedoch nicht erkennen – verändert hat sich nur die Rhetorik.

Der russische Präsident Dimitri (m.), mit seinen kasachischen und belarussischen Amtskollegen Nursultan Nasarbajew (r.) und Alexander Lukaschenko (l.) verständigen sich auf die Gründung der Eurasischen Union bis 2015. (© AP)

Putins "Eurasische Union"

Die Stärkung regionaler Integration war bereits während Wladimir Putins erster Präsidentschaft ein zentrales Thema. Von Anfang an betrieb er die Reorganisation vorhandener Integrationsforen in vollwertige Regionalorganisationen. Die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EurAsEC), die Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS bzw. englisch: CSTO), die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ, englisch: SCO) sind heute relativ stabile Foren für Kooperation – freilich nicht für Integration. In Vorbereitung seiner dritten Amtszeit als Präsident lancierte Putin nun im Oktober 2011 mit den Präsidenten von Belarus und Kasachstan im Schlepptau ein neues Integrationsprojekt: die Eurasische Union. Seither rollt die PR-Maschinerie: Im russischen Fernsehen wird für die Eurasische Union geworben, Entwürfe für das Logo der neuen Union kursieren. Die bisherigen Ausführungen von russischer, belarussischer und kasachischer Seite zur Eurasischen Union vermitteln allerdings nur eine vage Vorstellung von dieser Organisation. Hervorgehen soll sie aus einer Erweiterung der Eurasischen Wirtschaftsunion, deren Etablierung die Trojka – Russland, Kasachstan und Belarus – bis Januar 2016 plant. Deutlich wird aus Putins Äußerungen eins: Die Eurasische Union soll anders sein als bisherige Organisationen im postsowjetischen Raum und ein ähnliches Konzept haben wie die EU. Im Vergleich zu vorherigen Anläufen passt Putin die Rhetorik in der Tat dem EU-Konzept an. Das Versprechen freiwilliger politischer und wirtschaftlicher Integration gleichrangiger souveräner Partner in eine supranationale Organisation begleitete auch frühere Projekte, neu ist hingegen der Fokus auf die Gesellschaft, deren Wohlfahrt und die Einbindung nicht-staatlicher Akteure in den Integrationsprozess. Auch wertegeleitet soll die Eurasische Union sein. Die Betonung von Demokratie und Freiheit und Marktwirtschaftlichkeit klingt aus dem Munde dreier autoritärer Politiker indessen nicht sehr überzeugend. Integration wird von Putin im Übrigen erstmalig nicht in Abgrenzung, sondern in Einklang mit der EU beschrieben. Dies soll vorrangig den Integrationswillen der EU-orientierten Staaten, v. a. der Ukraine, stärken und den Weg für eine Integration im gesamten russischen Nachbarschaftsraum ebnen – ein lang gehegter Wunsch.

Lukaschenkos Eurasische Union: Wenig Alternativen

Putins Vorlage wurde von den Partnern unterschied interpretiert. Der seit 2011 wieder zum artigen Unterstützer postsowjetischer Integration avancierte belarussische Präsident Alexander Lukaschenko stützt Putins Vorstellungen und geht sogar über diese hinaus. Er proklamierte die Umsetzung der Eurasischen (Wirtschafts-)Union vor 2015 und rief zur Diskussion über eine gemeinsame Währung auf. In seinen Bemerkungen verweist Lukaschenko häufig auf eine angebliche Unterlegenheit der EU gegenüber der Eurasischen Union : Die Eurasische Union werde stabiler sein und habe bereits gezeigt, dass sie ungleich der EU nur wenige Jahre, nicht Jahrzehnte für die Integration brauche. Lukaschenko folgt damit einem bekannten Muster. Postsowjetische Integration steht ganz oben auf der Agenda, wenn außenpolitische Alternativen fehlen und Russland im Rahmen der Integrationsprojekte lukrative Anreize schafft, – wie z. B. Vergünstigungen bei Gas und Erdöl aus Russland im Rahmen der Mitgliedschaft in der Zollunion. Ein Auslöser für Lukaschenkos neuerliche Begeisterung für Integration ist wohl auch die wachsende westliche Kritik an seinem Regime und die Sanktionen der EU. Bisher zeigte sich im Fall von Belarus jedoch immer, dass man von Rhetorik und Mitgliedschaft nicht auf unbedingte Integrationsbereitschaft schließen kann.

Nasarbajews Eurasische Union: Widerwillige Akzeptanz

Auch der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew bleibt sich treu, wenn er auf die Eurasischen Union zu sprechen kommt. Er ist bereit, eine substantielle Integration zu unterstützen. Diese Integration soll aber vorrangig wirtschaftlich sein, die eigene Souveränität möglichst wenig einschränken und von Kasachstan gleichrangig mitbestimmt werden. Sie soll das eigene Land vor der chinesischen Wirtschaftskraft schützen, nicht aber die eigenen Unternehmen unter russische Kontrolle bringen. Entsprechend betont Nasarbajew die Funktionalität der existierenden Integrationsformate und sieht die Eurasische Union als fernes Ziel. Putins Versprechen der Gleichrangigkeit unter Partnern ist in seinen Augen schon verletzt. Als Putin wenige Wochen nach dem in der Zollunion gemeinsam gestellten Antrag auf Prüfung einer Eurasischen Wirtschaftsunion im Alleingang die Eurasische Union präsentierte, reagierte Nasarbajew bewusst erst mit mehreren Wochen Verspätung. Auch dass Moskau den Sitz der Eurasischen Kommission für sich beanspruchte und Astana nicht als Standort der zentralen Behörde ins Auge fasste, zeigt den geringen Kooperationswillen. Den Übergang von der Zoll- zu einer Wirtschaftsunion begrüßt Nasarbajew, versucht aber diesen hinauszuzögern.

Zollunion und Einheitlicher Wirtschaftsraum

Verkörpern die Integrationsschritte der Trojka tatsächlich den Beginn einer neuartigen verbindlichen Integration im postsowjetischen Raum, wie sie von Russland angestrebt wird? In der Tat ist die Schaffung der Zollunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan 2010 bisher einzigartig im postsowjetischen Raum. Wie weit die Bereitschaft zu verbindlicher Integration geht, ist aber ebenso fraglich wie die Neuartigkeit des Integrationsansatzes. Mit der Zollunion wurde 2010 ein Projekt umgesetzt, welches seit 1996 im Raum stand, als dieselben drei Staaten mit der Gründung einer Zollunion über die Zollverhandlungen innerhalb der GUS hinausgehen wollten. Diese Zollunion von 1996 wurde aber auch nach dem Beitritt von Tadschikistan und Kirgistan im Jahre 1999 nicht realisiert. Auf Initiative Russlands wurden 2006 die Verhandlungen innerhalb der Trojka reaktiviert. 2009 konnte endlich der 1999 vorbereitete Zollkodex verabschiedet werden, doch 2010 gelang es Russland nur noch knapp, Belarus durch wirtschaftlichen Druck und gesonderte Anreize zur gemeinsamen Inkraftsetzung der Zollunion zu bewegen. Seit Juli 2010 werden Zollfragen über den gemeinsamen Kodex geregelt, wobei bisher nur 48 von 90 Abkommen ratifiziert wurden. Praktiker beschreiben die Wirkung der Zollunion in erster Linie als Erleichterung der Zollbürokratie und weniger als substantielle Veränderungen der vorherigen Zollregulierungen. Wie hoch die Bereitschaft der drei Partnerländer ist, Abkommen zu ratifizieren, die mittelfristig Konsequenzen für ihre Wirtschaft haben, bleibt abzuwarten. Dies wäre tatsächlich eine signifikante Neuerung in den Integrationsprozessen im postsowjetischen Raum. Bisher nutzt Belarus die Union nicht zuletzt, um die eigene Position im internationalen Handel zu stärken: Auf Grundlage der Zollunion will Belarus im GUS-Raum die gleichen Handelserleichterungen für sich durchsetzen wie sie den attraktiveren Wirtschaftskräften Russland und Kasachstan zugestanden werden. Auf belarussische Initiative warnte Russland die EU und die USA vor wirtschaftlichen Sanktionen gegen Belarus – mit Verweis auf die Zollunion. Nachdem diese bedingt konsolidiert war, wurde 2012 mit dem „Einheitlichen Wirtschaftsraum“der nächste Integrationsschritt in Angriff genommen. Vorgesehen sind die Harmonisierung der Energie- und Transportpolitik sowie die Etablierung umfassender Freizügigkeit von Kapital und Arbeitnehmern. Eine vollständige Implementierung des Einheitlichen Wirtschaftsraumes wurde von 2012 auf 2016 verschoben. Dazu wurde die Kommission der Zollunion, bestehend aus den stellvertretenden Ministerpräsidenten der drei Länder, um ein „Kollegium“aus Delegierten relevanter Ministerien erweitert. Diese Kommission soll als eurasisches Pendant zur Europäischen Kommission den Kern der zukünftigen Eurasischen Union bilden. Bisher bleibt sie jedoch, was Entscheidungsbefugnisse und Besetzung mit unabhängigen Delegierten angeht, weit hinter dem Vorbild zurück. Das Kollegium ist ein intergouvernementales Organ ohne selbständige Befugnisse. Mit vollständigem Inkrafttreten des Einheitlichen Wirtschaftsraumes soll 2016 die Eurasische Wirtschaftsunion entstehen. Angesichts der bisherigen Integrationsschritte beurteilen Experten Zeitplan und Projekt allerdings als überambitioniert. Vorerst lassen sich in der Eurasischen (Wirtschafts-)Union bezüglich Integrationsambitionen, Struktur und dem Verhältnis von Deklaration und Umsetzung vor allem die Charakteristika bisheriger Integrationsprojekte erkennen: Während der Beitritt durch kurzfristige politische und materielle Gewinnhoffnungen angeregt ist, fehlt für konsequente Integration die Bereitschaft zur Abgabe von Souveränität.

Vergleichbare Regionalorganisationen

Die Initiative der Trojka für eine integrierte Zollunion als Vorläufer einer Wirtschaftsunion im postsowjetischen Raum hat Vorbilder. Den ersten Vorstoß in diese Richtung unternahm die Trojka im Rahmen der GUS, als sie 1994 die Gründung einer Wirtschaftsunion anregte und 1997 das Zwischenstaatliche Wirtschaftskomitee ins Leben rief. Die Union sollte zu einem integrierten Wirtschaftssystem mit gemeinsamer Währung führen. Das Komitee war als supranationales Organ geplant, wurde jedoch allein mit verwaltenden Aufgaben betraut. Das GUS-Wirtschaftsgericht zur Förderung der Umsetzung von Abkommen erhielt nur empfehlende Kompetenz. Das Ziel eines gemeinsamen Zollraumes wurde nicht erreicht. Der signifikanteste Integrationsschritt war das Freihandelsabkommen, das 1994 verabschiedet wurde. Russland entzog sich als einziger Staat der Ratifizierung, wodurch das Abkommen bisher nur wenig Anwendung findet. 2010 regte Russland vor dem Hintergrund des anstehenden WTO-Beitritts und der Zollunion ein neues Freihandelsabkommen an, das 2011 unterzeichnet wurde. Die Ratifizierung gestaltet sich jedoch problematisch 1996 bildete die Trojka daher einen neuen Rahmen für das Integrationsprojekt: die Zollunion, die 1999 um Kirgisien und Tadschikistan erweitert und 2000 in die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EurAsWG, englisch: EurAsEC) überführt wurde. 2006 trat Usbekistan bei. Ziele und Struktur entsprechen weitgehend denen der geplanten Eurasischen Wirtschaftsunion. Auch die EurAsEC orientiert sich im Aufbau an der EU und besitzt ein supranationales Organ. Sie kann aber angesichts der Verteilung der Entscheidungskompetenzen nicht als de facto supranationale Organisation gelten. Das EurAsEC-Wirtschaftsgericht wurde erst 2012 aktiviert – es ist auch für die Zollunion von 2010 zuständig. Die Verbindlichkeit der Entscheidungen dieser Instanz ist umstritten. Die Mitglieder der EurAsEC, welche nicht Teil der Zollunion sind, werden von den Entscheidungen des Gerichts kaum betroffen sein, auch wenn sie Richter dafür stellen, da sie nur wenige Abkommen der EurAsEC unterzeichnet haben. Anreize für die Teilnahme an der EurAsEC erwachsen für Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan vor allem die wirtschaftlichen Vergünstigungen. Dazu zählen ein 2010 geschaffener Stabilisierungsfond über 10 Mrd. US Dollar (7,5 Mrd. aus Russland, 1 Mrd. aus Kasachstan) sowie für EurAsEC-Staaten günstige Kreditbedingung bei der Eurasischen Entwicklungsbank. Dies führt jedoch nicht zu einer stärkeren Beteiligung dieser zentralasiatischen Staaten an EurAsEC-Abkommen. Die Zollunion von 2010 mit der Perspektive auf eine Eurasische Union im Jahre 2016 sind nun der dritte Anlauf. Eigentlich würde die EurAsEC von ihren Strukturen her ein angemessenes Format für die Idee der Eurasischen(Wirtschafts-)Union bieten. Die Gründung einer separaten Eurasischen Union folgt wohl dem Motto „Neues Spiel, neues Glück". Mit ihr ist die Hoffnung auf regionale und internationale Aufmerksamkeit sowie verstärkte Integrationsdynamiken verbunden. Letztere werden sich ohne substantielle Änderung des Integrationskonzeptes allerdings kaum einstellen.

Aussichten der Eurasischen Union

Im Vergleich zu den bisherigen Regionalorganisationen zeigt das neue Modell mit der begrenzten Implementierung der Zollunion immerhin bei der praktischen Umsetzungen der geschlossenen Abkommen erste konkrete Ergebnisse. Auch international stößt die Zollunion zum ersten Mal auf Interesse. Die Organisation verhandelt mit Serbien und Vietnam über Freihandel. Wie weit die effektive Integration reichen wird, hängt von der Bereitschaft der Mitglieder ab, negative Implikationen multilateraler Integrationsvorhaben für ihre Staaten hinzunehmen und Souveränität abzugeben. Dabei ist die Bereitschaft Russlands zentral, Modalitäten zu akzeptieren, welche die langfristigen Interessen Kasachstans und Belarus berücksichtigen. Auch muss Abstand genommen werden von der in allen drei Staaten verankerten Gewohnheit, geltende Abkommen zu suspendieren, wenn es den eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen nicht zuträglich ist. Zudem wird das wirtschaftliche Übergewicht Russlands in der Zollunion immer wieder Spannungen erzeugen. Die Erfolgschancen von Zollunion und Eurasischer Wirtschaftsunion erscheinen durch die Beschränkung auf die drei Staaten Russland, Kasachstan und Belarus etwas besser. Eine volle Umsetzung der Abkommen nach der angestrebten Erweiterung um Tadschikistan, Kirgistan und Usbekistan ist dagegen eher unwahrscheinlich. Auch von seiten der Ukraine, Moldaus, Aserbaidschans und Armeniens ist nur begrenztes Interesse an der Eurasischen (Wirtschafts-)Union zu erwarten. Ihnen geht es vorrangig darum, die Entwicklungen in den postsowjetischen Absatzmärkten zu verfolgen, zu beeinflussen und individuell darauf zu reagieren. Ukraine, Moldau und Armenien sind Beobachter der EurAsEC und dies ist wohl auch für die Eurasische (Wirtschafts-)Union denkbar. Kaum vorstellbar ist dagegen ein Konsens zum Beitritt in der Ukraine, in Moldau und Aserbaidschan. Sollte in einer Eurasischen Union die überkommene Praxis verfolgt werden, dass es vornehmlich um die Aufnahme von Mitgliedern, zur Erweiterung des Einflussbereiches, und erst zweitrangig um deren Integrationswillen geht, wird eine Umsetzung der Integrationsziele auch in diesem Format problematisch sein. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass die Eurasische Union unter den Neuen Unabhängigen Staaten kaum Beitrittsbewerber findet, sollte sie die Erfüllung einer road map zur Übernahme von Abkommen zur Bedingung machen, wie Lukaschenko vorschlug.

Literaturtipp:

  • Wilson Rowe, Elana; Torjesen, Stina (Hrsg.): The Multilateral Dimension in Russian Foreign Policy. New York 2008.

  • Kembayev, Zhenis: Legal Aspects of the Regional Integration Processes in the Post-Soviet Area. Berlin 2009.

Fussnoten

Katharina Hoffmann promoviert am Centre for Russian and East European Studies an der Universität Birmingham zu Dynamiken regionaler Kooperation im postsowjetischen Raum.