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Aus russischen Blogs: Phantom des Imperiums | Russland-Analysen | bpb.de

Russland-Analysen Propaganda / Nawalnyj (19.02.2024) Analyse: It’s fake! Wie der Kreml durch Desinformationsvorwürfe die Diskreditierung von Informationen in ein Propagandainstrument verwandelt Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Von der Redaktion: dekoder-Special "Propaganda entschlüsseln" Kommentar: Erste Gedanken zum Tod und zum Leben Alexej Nawalnys Statistik: Politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung in Russland Chronik: 23. Januar – 09. Februar 2024 Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen und Übergangsjustiz (16.12.2023) Analyse: Russland vor Gericht bringen: Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen Dokumentation: Die Brüsseler Erklärung Analyse: Optionen der Übergangsjustiz für Russland dekoder: "Das unbestrafte Böse wächst" dekoder: "Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?" Chronik: 01. November – 14. Dezember 2023 Getreidehandel in Kriegszeiten / Wasserwege (06.12.2023) Analyse: Russlands Getreideexporte und Angebotsrisiken während des Krieges gegen die Ukraine Analyse: Russland setzt den Getreidehandel als Waffe gegen die Ukraine ein Analyse: Die strategische Bedeutung des russischen Wolga-Flusssystems Chronik: 23. – 29. Oktober 2023 Hat das Putin-Regime eine Ideologie? (15.11.2023) Von der Redaktion: 20 Jahre Russland-Analysen Analyse: Macht und Angst Die politische Entwicklung in Russland 2009–2023 Kommentar: Russlands neuer Konservatismus und der Krieg Kommentar: Chauvinismus als Grundlage der aggressiven Politik des Putin-Regimes Analyse: Verschwörungstheorien und Russlands Einmarsch in die Ukraine Kommentar: Die konzentrischen Kreise der Repression dekoder: Ist Russland totalitär? Chronik: 03. – 20. Oktober 2023 LGBTQ und Repression (30.09.2023) Analyse: Russlands autoritärer Konservativismus und LGBT+-Rechte Analyse: Russlands Gesetz gegen „Propaganda für Homosexualität“ und die Gewalt gegen LGBTQ-Personen Statistik: Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen und Vertrauen in Polizei und Gerichte unter LGBTQ+-Menschen in Russland Dokumentation: Diskriminierung von und Repressionen gegen LGBTQ+-Menschen in Russland Kommentar: Wie sehr geht es bei der strafrechtlichen Verfolgung von "Rehabilitierung des Nazismus" um politische Repressionen? Von der Redaktion: Ausstellung: "Nein zum Karpfen" Chronik: 31. Juli – 04. August 2023 Chronik: 07. – 27. August 2023 Chronik: 28. August – 11. September 2023 Technologische Souveränität / Atomschlagdebatte (20.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause, на дачу – und eine Ankündigung Analyse: Die Sanktionen machen sich bemerkbar: Trübe Aussichten für die russische Chipindustrie Analyse: Kann Russlands SORM den Sanktionssturm überstehen? Kommentar: Russisches Nuklearroulette? Die Atomschlagdebatte in der russischen Think-Tank-Fachöffentlichkeit Dokumentation: Die russische Debatte über Sergej Karaganows Artikel vom 13. Juni 2023 "Eine schwerwiegende, aber notwendige Entscheidung. Der Einsatz von Atomwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren" Umfragen: Die Einstellung der russischen Bevölkerung zu einem möglichen Einsatz von Atomwaffen Chronik: 13. Juni – 16. Juli 2023 Chronik: 17. – 21. Juli 2023 Wissenschaft in Krisenzeiten / Prigoshins Aufstand (26.06.2023) Kommentar: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – Ein "Virolog:innen-Moment" für die deutsche Osteuropaforschung? Kommentar: Osteuropaforschung im Rampenlicht: ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus Kommentar: Ein Moment der Selbstreflexion für Russlandstudien Kommentar: Wissenschaft im Krieg: Die Verantwortung der Regionalstudien und was daraus folgt Kommentar: Verträgt sich politisches Engagement und Wissenschaft? Zur öffentlichen Position des Fachs Osteuropäische Geschichte dekoder: Mediamasterskaja: Wissenschaftsjournalismus – seine Bedeutung und seine Herausforderungen dekoder: Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das? dekoder: Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse Chronik: 15. Mai – 12. Juni 2023 Deutschland und der Krieg II / Niederlage und Verantwortung (26.05.2023) Kommentar: Ostpolitik Zeitenwende? Deutschland und Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Deutsche Wirtschaft und der Krieg Kommentar: Deutschland, der Krieg und die Zeit Kommentar: Nach einem Jahr Krieg: Deutschland im Spiegel der russischen Medien Kommentar: Der Ukrainekrieg: Kriegsängste, die Akzeptanz von Waffenlieferungen und Autokratieakzeptanz in Deutschland Umfragen: Die Haltung der deutschen Bevölkerung zum Krieg gegen die Ukraine: Waffen, Sanktionen, Diplomatie Statistik: Bilaterale Hilfe für die Ukraine seit Kriegsbeginn: Deutschland im internationalen Vergleich Notizen aus Moskau: Niederlage Chronik: 24. April – 14. Mai 2023 Auswanderung und Diaspora (10.05.2023) Analyse: Politisches und soziales Engagement von Migrant:innen aus Russland im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Ukraine-Krieg: Bislang nur wenig humanitäre Visa für gefährdete Russen Statistik: Asylanträge russischer Bürger:innen in Deutschland Analyse: Emigration von Wissenschaftler:innen aus Russland: Kollektive und individuelle Strategien Dokumentation: Schätzungen zur Anzahl russischer Emigrant:innen nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Chronik: 01. März – 23. April 2023 Sanktionen (27.03.2023) Analyse: Die Wirkung von Krieg und Sanktionen auf Russlands Volkswirtschaft im Jahr 2022 Statistik: Russlands Wirtschaft Analyse: Russische wirtschaftliche Anomalie 2022: Ein Blick aus Unternehmensperspektive Umfragen: Wahrnehmung von Sanktionen durch die russische Bevölkerung Chronik: 01. – 28. Februar 2023 Feminismus / Kriegswahrnehmung / Gekränktes Imperium (13.03.2023) Analyse: Feminist_innen machen in Russland Politik auf eine andere Weise Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Analyse: Nicht Befürworter:innen und nicht Gegner:innen: Wie verändert sich bei der Bevölkerung in Russland mit der Zeit die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine? dekoder: Die imperiale Formel ist: Russland hat keine Grenzen Repression und stiller Protest / Die Botschaft des Präsidenten (06.03.2023) Analyse: "Nein zum Karpfen": Stiller Protest im heutigen Russland Dokumentation: Repressionen wegen Antikriegs-Akten in Russland seit 2022 dekoder: Die Schrecken des Kreml Analyse: Ein langer Krieg und die "Alleinschuld des Westens". Präsident Putins Botschaft an die Föderalversammlung am 23. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Kirchen im Ukrainekrieg (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Eliten (16.02.2023) Analyse: Ansichten der russischen Eliten zu militärischen Interventionen im Ausland Analyse: Zusammengeschweißt und gefesselt durch Illegitimität Ranking: Die politische Elite im Jahr 2022 Meinungsumfragen im Krieg (02.02.2023) Kommentar: Sind Meinungsumfragen im heutigen Russland sinnvoll? Kommentar: Diese vier Fragen sollten Sie sich stellen, bevor Sie Meinungsumfragen darüber lesen, was Russ:innen über den Krieg denken Kommentar: Es gibt noch immer keine öffentliche Meinung – der Krieg in der Ukraine und die Diktatur in Russland lassen uns das besser erkennen Kommentar: Die Meinungsumfragen des Lewada-Zentrums auf der Discuss Data Online-Plattform. Zur Diskussion um die Aussagekraft der Daten Kommentar: Telefonische Umfragen im autoritären Russland: der Ansatz von Nawalnyjs Stiftung für Korruptionsbekämpfung Kommentar: Annäherungen an eine Soziologie des Krieges Kommentar: Methodologische Probleme von russischen Meinungsumfragen zum Krieg Kommentar: Befragungen von Emigrant:innen: Herausforderungen und Möglichkeiten dekoder: "Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen" Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: 01. – 31. Januar 2023

Aus russischen Blogs: Phantom des Imperiums

Sergey Medvedev

/ 8 Minuten zu lesen

Die Ukraine-Krise wird immer häufiger zum Ausgangspunkt bei innerrussischen Debatten über Innenpolitik, den Wandel in der Gesellschaft und die Transformation des eigenen Wertesystems. Fragen zur russischen Gesellschaft und zu einem Wertewandel diskutieren auch die russischen Blogs.

Nach Gefechten steigt schwarzer Rauch aus der ostukrainischen Stadt Luhansk auf. Die Ukraine-Krise wird immer häufiger zum Ausgangspunkt bei innerrussischen Debatten über Innenpolitik, den Wandel in der Gesellschaft und die Transformation des eigenen Wertesystems. (© picture-alliance/AP)

Dmitrij Olschankij: Moralisches Verbrechen des Kreml

»Der Donbass ist ein riesiges moralisches Verbrechen unserer Regierung, das muss man ehrlich sagen. Da ging und geht es – trotz patriotischer Propaganda – nicht um irgendeinen ethnischen, rassistischen oder religiösen Genozid, nicht um so etwas wie die Vernichtung der Juden oder Indianer.[…] Da gab es schlicht ein Gefühl der Erbitterung, den Unwillen ein fremdes nationales und politisches Projekt zu leben, ein Gefühl der Ungerechtigkeit und einer aufgenötigten Zweitrangigkeit. Aber alle auszurotten und wegzujagen, die Russisch sprechen, das hat kein Ukrainer vorgehabt. […]

Was hat aber unsere Macht getan?

Sie gab ihnen durch die Krim-Geschichte Hoffnung, sie gab ihnen zum zweiten Mal die Hoffnung in Gestalt von Putin, der von einer ›Verteidigung der russischen Welt‹ und von einer ›roten Linie bei der Gewalt gegenüber den eigenen Bürgern‹ sprach, sie sendete noch viele Signale über das Fernsehen, über Politiker und Sicherheitskräfte, und sah dann weg, als ob sie hier nur Blümchen gießt und auf Timtschenkos Gelder aufpasst. Das wären also Andeutungen eines gerissenen Plan Putins, und die Streitkräfte, die kommen dann irgendwann später.

Die Menschen aber sind allein unter den Bomben geblieben. Sie haben gedacht: die ›Opoltschenzy‹, die Volksmilizen würden die Checkpoints übernehmen, ein Referendum würde stattfinden, und dann käme die Anerkennung durch Russland, die Armee, Zahlungen an diejenigen, die aus dem Haushalt entlohnt und versorgt werden. Sie hatten eine zweite Krim gebucht und nicht die ›Hütte im Flammen‹.

Putin hat aber anders entschieden. Aus diesem Grund kann ich Strelkow keinen Vorwurf machen. Ich habe aufmerksam gelesen, was er geschrieben hat, als er im März noch auf der Krim war. Strelkow hatte offensichtlich an eine Unterstützung durch Moskaus geglaubt. Hätte er gewusst, in welche Bedingungen er in Wirklichkeit geraten würde, hätte er niemanden reingeritten, umso mehr, als seine Mission ohne das Mitgefühl der Bevölkerung völlig sinnlos wäre.

Putin hat aber, das sei nochmal gesagt, anders entschieden. Die Entscheidung bedeutete: Blut und Albtraum für einen obskuren Deal mit den Europäern, für politischen Druck auf Kiew, und Gott weiß wofür noch einzusetzen; es bedeutete die Entscheidung, den Donbass nicht zu befreien, sondern es in einen Gazastreifen zu verwandeln, das ist ein Verbrechen. Die Strafe wird noch kommen.«

Dmitrij Olschankij in Facebook, 5 Juli 2014 Externer Link: https://www.facebook.com/spandaryan/posts/782661515088002

Ljudmila Petranowskaja: Der Abschied des Imperiums als Verlust

»Es ist interessant zu beobachten, wie das imperiale Bewusstsein der Russen all jene Stadien durchlebt, die für Verlusterfahrungen beschrieben werden.

Als die Sowjetunion zerfiel, ›hat keiner was kapiert‹. Es gab ja genug andere Probleme. Das heißt, der Schock durch den Zusammenbruch des Imperiums war mit dem Schock durch den Zusammenbruch von so vielen anderen Dingen verbunden, dass es schwierig war, diesen als gesonderten Zusammenbruch zu begreifen.

Vermutlich deshalb blieb man im nächsten Stadium stecken, in dem der Verleugnung. 23 Jahre lang.

Verleugnung ist all das: ›ja, wir sind in Wahrheit ein Volk‹, ›wir sind doch Brüder, was sollen wir da trennen?‹, ›Grenzen, das sind nur Festlegungen, die sich Politiker ausgedacht haben‹, ›Ihr seid ja verrückt: UNSERE Ukraine ein anderer Staat – wie kann das denn sein, wir haben doch zusammen im Krieg gekämpft!‹, ›Wie denn, spricht man dort nicht Russisch? WAS DENN SONST?‹ und so weiter.

[…]

Der erste Weckruf, der einen Teil der Russländer aus der Verleugnung gerissen hat, das war der Maidan 2004, als die Ukrainer sich zum ersten Mal als eine Bürgernation gemeldet haben. ›Mann, diese Ukrainer, die sind ja verrückt!‹: das war die Reaktion aus dem Norden. Beispiele einer unfreundlichen Haltung zum ›älteren Bruder‹ und dessen Einmischung in das politische Leben des Landes wurden von einem besorgten und misstrauischen: ›Warum denn? Sind die etwa von den Westerlingen bearbeitet worden? Sind die von Amerika gekauft?‹ begleitet. Ganz wie Eltern, die festgestellt haben, dass sie ihren pubertierenden Nachwuchs nicht mehr kontrollieren können, und dann üblicherweise mit einer Version von ›schlechter Gesellschaft‹ und ›Einfluss des Internets‹ ansetzen. Damals hat sich übrigens alles ziemlich schnell wieder gelegt. […]

Die Verleugnungsphase endete plötzlich, und wie das so ist, mit dem Maidan. Die Schutzmechanismen bebten in allen Nähten und brachen unter dem Andrang der Ereignisse zusammen. Was auch immer das Fernsehen verkünden mochte, man kam nicht umhin, die Fotos von Kundgebungen mit einer halben Million Teilnehmern zu sehen. Es ist nun unmöglich geworden, die Tatsache aus dem Bewusstsein zu verdrängen, dass die Menschen in den Kugelhagel gingen, etwas riskierten und starben – und wofür? Es wurde unmöglich, die Stimmen der eigenen ukrainischen Bekannten und Freunde zu ignorieren, die sagen: Ja, das ist UNSERE Wahl, ja, das ist UNSER Land.

Und hier wird die Verneinung von dem abgelöst, was normalerweise folgt, nämlich von Zorn, Wut, Protest, Hysterie. ›Wie könnt ihr es wagen? Ihr, die Unternation, das Unterland, dieser Missverständnis-Staat. Wir haben euch genährt, wir haben euch geliebt, wir haben euch für die UNSRIGEN gehalten, und ihr habt uns ins Gesicht gespuckt, Verräter‹. Wie ein Mantra wiederholt sich der Vorwurf: ›Ihr habt euer Land zerstört, auf euch warten Chaos und Bürgerkrieg‹, was in Wirklichkeit heißt: ›Ihr habt UNSERE Welt zerstört, auf UNS warten Desorientierung und Identitätskrise (denn was bedeutet Bürgerkrieg, wenn nicht ein äußerst akutes Auftreten einer Identitätskrise, eines inneren Konflikts einer Nation?)‹.

In dieser Zorn-Phase sind Menschen wenig angenehm und kaum zurechnungsfähig. Davon konnte sich in den letzten Monaten jeder, der es wollte (oder auch nicht), überzeugen. Sie sind ungerecht, ungeduldig, grausam, sie sehen die Fakten selektiv, sie haben Schmerz – und sie schleudern diesen Schmerz in die Welt zurück, ohne nachzudenken, wohin, und bei wem er ankommt.

[…]

Die nächste Phase, folgt man der Wissenschaft, ist die Depressions-Phase.

Hier dürften wirtschaftliche Faktoren im Einklang stehen, so leid es mir tut. Eine Depression in der Wirtschaft kann sich mit der Depression in der Bevölkerung überlagern. Es gibt eine Wahrscheinlichkeit, dass viele von denen, die sich zuvor in erregtem Zustand befunden hatten, zu trinken anfangen oder aus dem Leben scheiden wollen, oder einfach ihre Gesundheit aufgeben.

[…]

Auch die Bürger der Ukraine erleben in einem gewissen Maße einen Verlust. Das bisherige Weltbild war immerhin auf eigene Art bequem: Was sind wir denn, wir sind ein ruhiges Land am Rande, wir leben für uns und lassen andere leben, wir haben Häuschen, Mohn und Teigtaschen. Es waren bei weitem nicht alle Nationalisten, die Kampftänze lernen. Der Mehrheit fiel es schwer, das Zähnefletschen des »Großen Bruders« zu erleben und zu verarbeiten, einen neuen »Sammelpunkt« zu finden und zu begreifen, dass niemand kommt und für uns entscheidet, sondern dass wir selbst Zähne zusammenbeißen müssen, und dass es nicht mehr so weitergehen wird, ein stilles Land zwischen zwei Welten zu sein.

[…]

So oder so, wenn wir auf Russland zurückkommen, wird auch das vorbeigehen, nach der Depressions-Phase folgt endlich die Akzeptanz des Verlustes, die Annahme einer neuer Identität, eines neuen Lebensplans, was subjektiv als Wiedergeburt empfunden wird, als Gesundung nach einer schweren Krankheit, als Rückkehr von Interesse, Freude, des Glaubens an sich selbst, nun aber eines neuen Selbst, unter neuen Bedingungen.

Dann gibt es die Chance, dass sich Russland endlich vom Phantom des Imperiums verabschiedet und seinen eigenen Weg eines normalen, starken, gesunden Landes einschlagen wird. Eines jungen Landes, eines ganz jungen Landes.[…]«

Ljudmila Petranowskaja in Livejournal, 7. Juli 2014 Externer Link: http://ludmilapsyholog.livejournal.com/236689.html

Viktor Jerofejew: »Wir sind aller-aller-aller-«

»Wir sind aller-aller-aller-. Und weil wir aller-aller-aller- sind, ist unser Volk das allerzerteilteste Volk auf der Erde. In der Neueren Geschichte haben wir zwei Werte-Katastrophen erlebt. Zwei Mal in den letzten hundert Jahren sind unsere Vorstellungen über das Gute und das Böse in alle Richtungen auseinander geflogen. Das erste Mal, das war im November 1917. Der revolutionäre Umsturz sprengte unsere traditionelle Axiologie in die Luft. Die war zwar nicht vollkommen gewesen, aber höchst organisch.

Siebzig Jahre lang wurde dann ein neues Wertesystem errichtet, 1991 ist auch das zusammengebrochen. Die einen hatten es nicht angenommen, die anderen konnten ohne es nicht leben; nachdem es aber auseinandergeflogen war, stellte sich heraus, dass wir in einem Eismeer der zerbrochenen Werte schwimmen.

Wir mussten dann irgendwie überleben. Jeder überlebte auf eigene Art und Weise. Jeder schnappte irgendwelche Werte auf, zufällige, aufgetragene, durchdachte oder sinnlose; bei jedem so, wie es gerade ging. Manche Werte wurden der Familie entnommen, manche den Büchern, andere von der Straße, aus der Gasse. Werte aus dem Gefängnis, aus der Schule, von überall her ein bisschen.

So kommt es, dass jeder von uns seinen Wertebeutel hat, und die Werte wie kunterbunte Murmeln in diesem Beutel stecken. Wir stehen da, halten diese Beutel in unseren Händen, und die Murmeln stimmen bei uns nicht überein. Die einen haben diese Sammlung von Werten, die anderen eine ähnliche, die aber doch anders ist, und andere wiederum eine Sammlung, wo aber auch gar nichts ähnelt.

Prozente. Wir bestehen aus Prozenten. Manche haben 70 % imperiale Murmeln, der Rest ist Gleichgültigkeit, andere haben 55 % demokratische Werte, um orthodoxe ergänzt; manche haben einen hohen Anteil stalinscher Werte, andere wiederum Werte der Westler, dann gibt es welche, da flattern alle möglichen Bändchen im Kopf und dazu noch allerlei Murmeln aus Patriotismus, Egoismus, Hedonismus, Ehrgeiz, heiliger Rache, gar eines gewissen Sadismus. Und es gibt da Murmeln der Aufopferung und wiederum der Gleichgültigkeit. […]«

Viktor Jerofejew bei snob.ru, 14. Juli 2014 Externer Link: http://www.snob.ru/selected/entry/78535

Andrej Archangelskij: Wärter des Toten

»Alles ist logisch. Wenn in 20 Jahren in Russland keine neue, offiziell anerkannte und geförderte, den neuen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen angepasste Ideologie entstanden ist, wie etwa ›verdiene dein Glück durch eigene Leistung‹ oder ›nicht lügen, nicht klauen‹, dann entsteht ein Vakuum. Wenn an diese Stelle (eben weil es ›da etwas geben muss‹) langsam, behutsam und dann ganz offen sowjetische Ideologie platziert wird, und das vor allem auf der ästhetischen und ethischen Ebene, nach dem Motto ›wir lieben die Vergangenheit, wir rühmen die Heldentaten unserer Väter‹. Niemand sagt euch direkt, ›wir kehren in die UdSSR zurück‹, es geschieht irgendwie indirekt und mittelbar… Dann ergibt sich in Wirklichkeit Folgendes: Wir leben in gestriger, toter Idee, einer düsteren, ineffektiven und nicht zu realisierenden Idee. Aber wir leben? Es gibt ja nichts anderes?… Und wenn dem so ist, werden entsprechende Phantome geboren. Erscheinen Adepten des Toten. Werden Hüter des Toten geboren. Gläubige des Toten. Junge Anhänger des Toten. Der Kult des Toten in unserer Patriotik hat genau hier seinen Ursprung. […]«

Andrej Archangelskij auf Facebook, 1. Juli 2014 Externer Link: http://besttoday.ru/read/6727.html

Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin (Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)

Fussnoten