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Russische Kultur (Literatur, Film, Musik)

Ulrich Schmid

/ 9 Minuten zu lesen

Eigene kulturelle Strömungen entwickelte Russland erst nach Ausbruch der Französischen Revolution. Ein kultureller Schub brachte schließlich eigene Stile in Musik sowie Literatur hervor. Später entwickelte sich der Film zum neuen Massenmedium.

Vor Ende des 18. Jahrhunderts orientierte sich die russische Kultur an ihrem französischen Vorbild. (© picture alliance/APA/picturedesk.com)

Eine Nationalkultur, die sich als solche verstand, entwickelte sich in Russland erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Zuvor hatte sich der russische Adel weitgehend nach dem kulturellen Vorbild Frankreich ausgerichtet. Als jedoch die Französische Revolution ausbrach und Napoleon 1812 gegen das Zarenreich marschierte, wurde die Etablierung einer eigenen spezifisch russischen Kultur zu einem gesellschaftlichen Imperativ. Der kulturelle Schub zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte zu einer intensivierten Produktion in allen literarischen Genres. Die Schriftsteller konnten sich zwar stilistisch und genremäßig auf Vorarbeiten des klassizistischen Zeitalters der vorausgehenden Jahrzehnte stützen. Gleichzeitig mussten sie aber die russische Sprache den veränderten Geschmackspräferenzen der Romantik anpassen. Dazu gehörte vor allem eine Vereinfachung der Syntax, die nun dem französischen Satzbau folgte, und eine Erweiterung des Wortschatzes durch Neuschöpfungen, die für wichtige Vokabeln wie etwa "élégant" auch russische Äquivalente bereitstellten.

"Enzyklopädie des russischen Lebens"

Aleksander Puschkins Versroman Eugen Onegin galt als "Enzyklopädie des russischen Lebens". (© picture-alliance/dpa)

Das Feld der Literatur differenzierte sich auch institutionell aus. Die Schreibkultur war traditionell eng an den Zarenhof gebunden. Nun entwickelten sich alternative Prestigeräume: Zeitschriften mit einem ausgebauten Rezensionsteil kanonisierten die Literaturproduktion. Der adlige Autor, der auf den Applaus des Monarchen aus war, machte zunehmend dem professionellen Schriftsteller Platz, der sich bei seinem Publikum profilieren wollte. Es bildete sich ein "Goldenes Zeitalter" heraus – so wird das frühe 19. Jahrhundert in der Selbstmythisierung der russischen Literaturgeschichte genannt. Während die Lyrik noch lange klassizistische Versatzstücke enthielt, entwickelte sich eine moderne Prosa, die sowohl hinsichtlich Handlungskomposition und sprachlicher Expressivität bereits auf die Moderne verwies. Auch die Institution des Nationaldichters tauchte alsbald im System der russischen Literatur auf. Nach seinem frühen Duelltod wurde Aleksander Puschkin (1799-1837) als "unser alles" bezeichnet, sein Versroman Eugen Onegin galt als "Enzyklopädie des russischen Lebens".

Turgenjew, Dostojewski und Tolstoi

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierte der kritische Gesellschaftsroman. Dieses Prosagenre hielt mit einiger Verspätung Einzug in die russische Literatur. Erst Ende der 1840er- Jahre erschienen mit Alexander Herzens Wer ist schuld? und Iwan Gontscharows Alltäglicher Geschichte zwei Romane, die als Vorläufer der großen Würfe von Iwan Turgenjew (1818-1881), Fjodor Dostojewski (1821-1883) und Lew Tolstoi (1828-1910) gelten können. Die Blütezeit des russischen Romans fällt in die 1860er- und 1870er- Jahre. Es ist kein Zufall, dass die literarische Produktion gerade in dieser Umbruchzeit ansteigt. 1861 wurde die Leibeigenschaft abgeschafft, 1866 schoss erstmals ein Terrorist auf den Zaren. Die Romane von Turgenjew, Dostojewski und Tolstoi sind nicht nur kunstvoll komponierte Texte, sondern präsentieren je einen eigenen Wahrheitsentwurf für die russische Gesellschaft. Turgenjew plädierte für eine Modernisierung der politischen Ordnung nach westeuropäischem Vorbild, Dostojewski vertrat einen slawophilen Messianismus und Lew Tolstoi predigte die moralische Vervollkommnung des Einzelnen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wandten sich die Schriftsteller neuen Literaturmodellen zu. Nicht mehr die kritische Kommentierung der gesellschaftlichen Gegenwart stand im Vordergrund, sondern die Ausarbeitung einer elitären Ästhetik, die sich über die russische Misere erhebt. Die Epoche des Modernismus dauert in Russland etwa von 1890 bis 1920 und umfasst als wichtigste Etappen den Symbolismus, den Akmeismus und den Futurismus. Im Gegensatz zu den Autoren des 19. Jahrhunderts entwarfen die Modernisten bewusst einen verbindlichen Stilimperativ. Die Literatur wurde durch Manifeste programmiert. In diesen plakativen Texten wurde die literarische Tradition zugunsten der eigenen Position radikal abgewertet. So empfahlen etwa die Futuristen in ihrem Manifest "Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack" (1912), Puschkin, Dostojewski und Tolstoi vom "Dampfer der Gegenwart" zu werfen. Die einzelnen Richtungen wechselten dabei immer schneller aufeinander, die Halbwertszeit der Gültigkeit literarischer Manifeste sank stetig.

Grundlegende Veränderung nach der Oktoberrevolution

Die Interner Link: Machtergreifung der Bolschewiki veränderte die Situation der Literatur grundlegend, allerdings mit einer gewissen Verzögerung. Die Oktoberrevolution teilte die Autoren in drei Gruppen: Die erste Gruppe begrüßte den neuen Staat enthusiastisch und wollte in der neuen Ordnung die Verwirklichung der eigenen weltschöpferischen Kunstauffassung erblicken. Besonders prominent waren hier die Futuristen, aber auch einzelne Symbolisten wie Waleri Brjussow (1873-1924) oder Alexander Blok (1880-1921) vertreten. Die zweite Gruppe lehnte die Revolution scharf ab und emigrierte nach Westeuropa. Dmitri Mereschkowski (1865-1941) und seine Ehefrau Sinaida Hippius (1869-1945) bezeichneten den Sowjetstaat nachgerade als Reich des Antichrists, der spätere Literaturnobelpreisträger Iwan Bunin (1870-1953) deutete den Umsturz als Einbruch des asiatischen Chaos in die abendländische Kultur Russlands. Die dritte Gruppe verhielt sich neutral zu den neuen Machthabern. Leo Trotzki nannte Autoren wie Sergej Jessenin (1895-1925) oder Boris Pilnjak (1894-1938) in seinem Buch Literatur und Revolution (1923) "Mitläufer".

Die Kulturpolitik des jungen Sowjetstaates war zunächst noch von opportunistischem Wohlwollen gegenüber diesen Autoren geprägt. In einem Beschluss des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei aus dem Jahr 1925 wurden die Mitläufer als "Meister des Worts" gewürdigt, von denen eine noch zu schaffende proletarische Literatur handwerklich zu lernen hätte. Erst 1934 wurden alle konkurrierenden literarischen Gruppierungen in den sowjetischen Schriftstellerverband überführt. Gleichzeitig wurden die Autoren auf das Stilideal des sozialistischen Realismus verpflichtet, der "die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung" zeigen solle. Der Zusatz der "revolutionären Entwicklung" sollte sicherstellen, dass mögliche Kritik an den herrschenden Zuständen immer auf das lichte Ideal der kommunistischen Zukunft ausgerichtet sein müsse.

Selbstverlag und Exilpresse

Zahlreiche Schriftsteller und Dichter fielen dem Interner Link: Stalinterror zum Opfer. Bis zum Tod des Tyrannen im Jahr 1953 gab es kaum unabhängige Stimmen in der Sowjetliteratur. Erst mit dem Anbruch des Tauwetters nach dem XX. Parteitag 1956 entwickelte sich neben dem offiziellen Literaturbetrieb ein paralleles System von Samisdat (Selbstverlag) und Tamisdat (Exilpresse). Für eine kurze Zeit war unter Nikita Chrustschow auch Kritik am ineffizienten Wirtschaftssystem und sogar an den Straflagern erlaubt. Allerdings kühlte sich das Klima mit der Machtübernahme durch Leonid Breschnjew wieder ab.

Alexander Solschenizyn schrieb den berühmten Lagerbericht "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch", der dank des kulturpolitischen Tauwetters veröffentlicht werden konnte. (© picture-alliance/dpa)

Es kam in den Sechzigerjahren zu einer Reihe Aufsehen erregender Prozesse gegen nicht stilkonforme Autoren wie Juli Daniel (1925-1988), Andrej Sinjawski (1925-1997) und Jossif Brodsky (1940-1996). Nach ihrer Entlassung aus der Lagerhaft gingen Sinjawski und Brodsky ins Exil. Sie gehören damit zur dritten Welle der Emigration, die sich in den 1970er-Jahren ereignete – die erste Welle war eine Folge des Bürgerkriegs unmittelbar nach der Oktoberrevolution und die zweite eine Folge des Zweiten Weltkriegs.

Michail Gorbatschow verkündete ab 1985 das dreifache Reformprogramm der Interner Link: Perestroika (Umbau), Glasnost (Öffentlichkeit) und Uskorenie (Beschleunigung). Die Literatur profitierte vom Programmpunkt der Glasnost. Vor allem die Samisdat- und Tamisdat-Literatur wurde nun in Millionenauflagen auf den offiziellen Literaturkanälen verbreitet. Mit jahrzehntelanger Verspätung konnten sich die russischen Leser die weltliterarischen Werke von Boris Pasternak (1890-1960), Wladimir Nabokow (1899-1977) oder Alexander Solschenizyn (1918-2008) aneignen. Für die junge Schriftstellergeneration war diese Entwicklung problematisch. Fast alle Zeitschriften- und Verlagskapazitäten wurden von berühmten Namen besetzt, Debüts waren schwer zu organisieren.

Postmodernismus und erneute Teilung

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dominierte in der Literatur der Postmodernismus. Autoren wie Wladimir Sorokin (geb. 1955) oder Wiktor Pelewin (geb. 1962) arbeiteten sich am überbordenden Pathos der sowjetischen Zeichenkultur ab und gaben ihr eine ironische Wendung. Um 2000 meldete sich eine junge Generation von Autoren zu Wort, die sowohl einen neuen Realismus als auch einen zunächst gegen den Staat gewandten Nationalismus propagierten. Sergej Schargunow (geb. 1980) und Sachar Prilepin (geb. 1975) sind auch im Internet mit eigenen Blogs und Webportalen äußerst aktiv. Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 verstummte ihre scharfe Kritik an der Regierung. Seither erblicken sie in Präsident Putin nicht mehr den korrupten Usurpator der russischen Heimat, sondern den Garanten der Verwirklichung ihrer eigenen patriotischen Träume. Die aggressive Ukraine-Politik des Kremls hat die russische Literatur erneut geteilt: Boris Akunin (geb. 1956) oder Ljudmila Ulitzkaja (geb. 1943) verdammen den russischen Neoimperialismus, während Andrej Gelassimow (geb. 1966) sich vom "Erstarken des Staats" beeindruckt zeigt.

Der Film als neues Massenmedium

Das postsowjetische Kino prägte Nikita Michalkow (l.), der 1995 mit seinem Stalinismus-Epos "Die Sonne, die uns täuscht" den Oscar für den besten ausländischen Film gewann. (© picture alliance/United Archives)

Die Etablierung des Films als eines neuen Massenmediums fiel zeitlich fast punktgenau mit der Errichtung der sowjetischen Ordnung in Russland zusammen. Der Revolutionsführer Lenin wies in einem berühmten Diktum darauf hin, dass der Film für die Bolschewiki die wichtigste aller Künste sei. Gerade für die Agitation bei einem weitgehend analphabetischen Publikum leistete das bewegte Bild unschätzbare Dienste. Ab 1928 setzte die Sowjetführung mobile Filmvorführungsanlagen ein. In den Dreißigerjahren war auch ein Kinozug unterwegs, der in verschiedenen Provinzstädten Halt machte und die neusten Produktionen der jungen sowjetischen Filmindustrie zeigte. In der Debatte, ob das Kino eine eigenständige neue Kunst sei, gewann bald die Position die Oberhand, dass der Film nicht einfach Literatur, Photographie und Theater synthetisiere, sondern durch das Prinzip der Montage eine eigene Ästhetik begründe.

1921 wies Lew Kuleschow (1899-1970) in einem berühmten Experiment die relative Unabhängigkeit des Films von der Mimik des Schauspielers nach: Der Regisseur schnitt immer dasselbe Gesicht in Nahaufnahme mit einem Teller Suppe, einer Frau und einem Sarg zusammen und löste so beim Zuschauer die Assoziation von Hunger, Liebe oder Trauer aus. Dsiga Wertow (1895-1954) spürte in seinen Dokumentarfilmen den Formen des sozialistischen Aufbaus nach und traute dem "Kinoauge" eine höhere Wahrnehmungsfähigkeit zu als dem Menschen selbst. Sergej Eisenstein (1898-1948) stellte seine Filmkunst sehr bald in den Dienst der staatlichen Propaganda. Es gelang ihm aber dabei, ein hohes ästhetisches Niveau zu halten. Die Revolutionsfilme Panzerkreuzer Potjomkin (1927) und Oktober (1925) definierten für die gesamte Sowjetzeit die Ikonographie der verhassten Zarenherrschaft und der bolschewistischen Machtergreifung. Auf einer Dienstreise studierte Eisenstein die Hollywood-Industrie und wandte später auch Kunstgriffe von Walt Disney in seinen eigenen Filmen an.

Wie in der Literatur profitierte auch das Kino vom Tauwetter. Deutlichstes Zeichen dafür war die Golde Palme von Cannes, die Michail Kalatosow (1903-1973) im Jahr 1957 mit seinem Melodram Wenn die Kraniche ziehen gewann. Gegen den Widerstand der offiziellen Kulturpolitik feierte Andrej Tarkowski (1932-1986) mit seinen Filmen Andrej Rubljow (1966), Solaris (1972) und Stalker (1979) internationale Erfolge. Wegen der schwierigen Produktionsbedingungen setzte sich Tarkowski 1983 ins westliche Ausland ab.

Eine prägende Figur im postsowjetischen Kino ist Nikita Michalkow (geb. 1945), der 1995 mit seinem Stalinismus-Epos Die Sonne, die uns täuscht den Oscar für den besten ausländischen Film gewann. Michalkow nimmt eine national-patriotische Position ein. 2007 produzierte er zum 55. Geburtstag von Präsident Putin ein Gratulationsvideo, das kritische Kommentatoren an devote Grussadressen an Sowjetführer erinnerte. Auch Alexander Sokurow (geb. 1951) hatte in der Russischen Arche (2003) das Hohelied auf die russische Nationalkultur gesungen. Allerdings analysierte er in einer phantasmagorischen Tetralogie über Faust, Lenin, Hitler und Hirohito die moralischen Ambivalenzen bei der Ausübung politischer Macht. Den russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2014 verurteilte er.

Die russische Musik

Die russische Musik stand lange unter dem Einfluss ausländischer Vorbilder. Dmitri Bortnjanski (1751-1825), der erste russische Opernkomponist, lernte sein Handwerk in Italien und verfasste nach seiner Rückkehr in die russische Hauptstadt französischsprachige Opern im italienischen Musikstil. Erst die großen Romantiker wie Nikolaj Rimski-Korsakow (1844-1908), Modest Mussorgski (1839-1881) und Pjotr Tschaikowski (1840-1893) versuchten, einen genuin russischen Musikstil zu entwickeln. Dabei griffen sie auf Motive aus der russischen Volksmusik zurück und bearbeiteten Stoffe aus der russischen Geschichte und Literatur. Modernistische Harmonien wurden von Alexander Skrjabin (1872-1915) und Igor Stravinsky (1882-1971) eingeführt. Skrjabin versuchte seine atonale Musik auch synästhetisch zu inszenieren und sah deshalb für eine seiner Symphonien ein "clavier à lumières" vor, das während der Musikvorführung Farbflecken auf eine Leinwand projizierte. Stravinsky ließ sich 1920 in Frankreich nieder und gab die russischen Reminiszenzen auf, die sein Frühwerk charakterisiert hatten.

Auch Sergej Prokofjew (1891-1953) hatte nach der Oktoberrevolution Russland verlassen und versuchte im Westen Fuß zu fassen. Allerdings gab er 1936 dem Werben der sowjetischen Kulturmanager nach und siedelte nach Moskau über. Dort versuchte er, das literarische Stilprinzip des sozialistischen Realismus mit seinen Maximen der Verständlichkeit und Parteilichkeit auch im Bereich der Musik zu implementieren. Eine prekäre Künstlerexistenz zwischen Anpassung und Widerstand führte Dmitri Schostakowitsch (1906–1975), der mit avantgardistischen Klangexperimenten frühe Erfolge feierte.

Für die jüngere Sowjetgeneration rückte die mystische Dimension von Musik in den Vordergrund. (© picture-alliance/dpa)

Allerdings wurde er nach einer Aufführung von Lady Macbeth aus Mzensk Anfang 1936 in einem Prawda-Leitartikel mit dem Titel "Chaos statt Musik" abgestraft. Schostakowitsch beeilte sich, mit seiner fünften Symphonie und ihren traditionellen Harmonien das Wohlwollen des Establishments wieder zu gewinnen. Trotzdem wurde er 1948 ein weiteres Mal des "Formalismus" verdächtigt. Erst nach Stalins Tod erhielt Schostakowitsch gebührende Anerkennung. Er komponierte in dieser Zeit auch zahlreiche Filmmusiken.

Für die jüngere Sowjetgeneration rückt die mystische Dimension von Musik in den Vordergrund. Sofia Gubaidullina (geb. 1931) entwickelt in ihren Werken die Harmonien der russisch-orthodoxen Kirchenmusik weiter, Wladimir Martynow (geb. 1946) verkündet das "Ende komponierter Musik" und setzt auf suggestive Klangeffekte, die fast automatisch entstehen, und Wladimir Tarnopolski (geb. 1955) will in seinen expressiven Kompositionen das Chaos des gegenwärtigen russischen Lebens einfangen.

Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der School of Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen, Schweiz. Zudem ist er Mitarbeiter der Neuen Zürcher Zeitung.