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Die baltischen Staaten | Russland | bpb.de

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Die baltischen Staaten

Prof. Dr. Hannes Adomeit Hannes Adomeit

/ 11 Minuten zu lesen

Russlands Verhältnis zum Baltikum ist von wiederkehrenden Konflikten geprägt. Moskau betrachtet die Staaten Estland, Lettland und Litauen als einen verhältnismäßig einheitlichen Raum. Dafür gibt es gute Gründe in der historischen Entwicklung.

Der bronzene Soldat in Tallinn im Mai 2007. Die von der estnischen Regierung angekündigte Verlegung der Statue aus dem Jahr 1947 sorgte im Frühjahr 2007 für Störungen im estnisch-russischen Verhältnis (© AP)

Historische Entwicklung

Nach dem Nordischen Krieg von 1700 bis 1721 wurden Teile des heutigen Estlands und Lettlands sowie infolge der dritten Teilung Polens 1795 große Gebiete des heutigen Litauens dem Zarenreich als russische Provinzen eingegliedert. In den Zerfallsprozessen des Reiches und der Oktoberrevolution erlangten die drei Staaten ihre Unabhängigkeit, die das bolschewistische Russland 1920 anerkannte - allerdings nur 20 Jahre lang: In geheimen Zusatzabkommen zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag (Hitler-Stalin-Pakt) vom 23. August 1939 und dem Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September desselben Jahres wurden die baltischen Staaten dem sowjetischen Einzugsbereich überlassen. Der Grundstein für die Beseitigung ihrer Souveränität war damit gelegt.

Russland innerhalb der GUS. Zum Öffnen der PDF klicken Sie auf das Bild. (© www.kartographie-kaemmer.de)

Unter massivem Druck und Gewaltandrohung wurden Estland, Lettland und Litauen 1940 von der Sowjetunion annektiert. Nach damaliger sowjetischer und heutiger russischer Lesart "baten" sie Moskau um die Entsendung und Stationierung von Truppen zu ihrem Schutz und traten der UdSSR "freiwillig" bei. Im Juni 1940 begannen Massendeportationen von Einwohnern, die vermeintlich oder tatsächlich dem sowjetischen System ablehnend gegenüberstanden.

Nach der Beendigung der deutschen Besetzung des Baltikums 1944 und der Rückkehr der Sowjetmacht wurden die Deportationen und Repressalien gegen die Bevölkerung wieder aufgenommen. Gleichzeitig wurden ethnische Russen und andere slawische Bevölkerungsgruppen hauptsächlich aus der Russischen, Ukrainischen und Weißrussischen Sowjetrepublik planmäßig in die baltischen Länder umgesiedelt, um diese ehemals selbständigen Republiken enger an die Moskauer Zentralmacht zu binden. Die Entwicklung von Unabhängigkeitsbestrebungen sollte so verhindert werden. Industrialisierungsprozesse zogen weitere Arbeitsimmigration aus der Sowjetunion nach sich. Dies hatte zur Folge, dass Esten und Letten drohten, in ihren eigenen Ländern zur Minderheit zu werden. Zusammen mit den Litauern konnten sie jedoch die Gunst der Stunde in der Gorbatschow-Ära nutzen, um ihre Unabhängigkeit 1991 wieder zu erlangen. Dem Charakter des Baltikums als einer Region mit ähnlichen Interessen und Problemen entsprechend, wurden die baltischen Staaten im März 2004 in die NATO und im Mai 2004 in die EU als Vollmitglieder aufgenommen.

Russlands heutiges Verhältnis zu den drei Staaten ist weiterhin stark von der Geschichte geprägt und belastet. Die zentralen Streitpunkte sind dabei die Umstände des Beitritts der baltischen Staaten zur Sowjetunion 1940, der völkerrechtliche Status der Annexion und die Bewertung der Zeitperioden von 1940-1941 und 1944-1991.

Streitpunkt: Der Beitritt zur Sowjetunion 1940

Als Russland 1996 dem Europarat beitrat, verpflichtete es sich, "Entschädigung für die Personen, die aus den besetzten [sic!] baltischen Statten deportiert wurden und die Nachkommen der Deportierten zu leisten ... und diese Fragen so schnell wie möglich zu lösen". Danach kehrte das russische Außenministerium allerdings zur traditionellen sowjetischen Sicht zurück, dass die Annexion der baltischen Staaten sowohl legal and auch legitim gewesen und der Begriff der Okkupation für das russische Vorgehen im und nach dem Zweiten Weltkrieg fehl am Platze sei. Die unter großen Menschenopfern erfolgte "Befreiung" der Balten von der Nazi-Herrschaft würde ignoriert, die europäische Geschichte von ihnen "umgeschrieben". Die damit begründeten politischen, finanziellen und territorialen Forderungen, die an Russland gestellt würden, seien absurd. Zudem würden die enormen Summen, welche die Sowjetunion in die wirtschaftliche Entwicklung der baltischen Staaten investiert habe, außer acht gelassen. Moskaus Bemühen, mit Polen zu einer gemeinsamen Sicht der Geschichte und Aussöhnung zu gelangen, haben bisher in seinem Verhältnis zu den Balten keine Entsprechung gefunden.

Streitpunkt: Russische Minderheiten

Verschärfend kommt in der Sicht des Kremls hinzu, dass die Menschenrechte der russischen Minderheit in zwei der drei baltischen Staaten, in Estland und Lettland, grob verletzt würden. Moskau hat Tallinn und Riga deswegen scharf angegriffen und das "chronische Problem der Staatenlosigkeit" in den beiden Ländern als "beschämend" und "schändliches Phänomen" bezeichnet. Seiner Interpretation zufolge, entsprächen die Anforderungen für die Staatsbürgerschaft (Bestehen einer Sprachprüfung und einer Bürgerschafts-Prüfung) in diesen beiden Ländern sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Praxis nicht den internationalen Normen.

Streitpunkt: NATO-Beitritt

Die NATO-Mitgliedschaft der drei Staaten und ihre Rolle in der atlantischen Allianz ist bis heute ein weiterer wunder Punkt in Moskau. Es hatte sich bemüht, eine "rote Linie" entlang der Grenzen der Sowjetunion zu ziehen, welche die NATO im Zuge ihrer Osterweiterung nicht überschreiten dürfte, allerdings vergeblich.

Interpretationen in Moskau zufolge, gab die NATO-Mitgliedschaft Russland unfreundlich oder feindlich gesonnenen Kräften in Tallinn, Riga und Wilna Auftrieb. Vor allem wurde die Unterstützung der baltischen Staaten für die Politik der neokonservativen Regierung Washingtons in Ostmitteleuropa Zielscheibe russischer Angriffe. Das betraf unter anderem die Pläne der Regierung Präsident Bushs, Komponenten der nationalen amerikanischen Raketenabwehr in Polen und Tschechien zu stationieren und einer Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens in der NATO den Weg zu ebnen.

Ebenso negativ reagierte der Kreml auf die enthusiastische Unterstützung der drei Staaten für die "Farbrevolutionen" in Georgien und der Ukraine und die von den Präsidenten Viktor Juschtschenko und Saakaschwili ins Leben gerufene Gemeinschaft für Demokratische Wahl zur Förderung von Veränderungen in Osteuropa und im südlichen Kaukasus. Der Impetus für demokratischen Wandel im postsowjetischen Raum mag sich abgeschwächt haben, die widerstreitenden Interessen Moskaus und seiner baltischen Nachbarn in diesem Raum bleiben jedoch bestehen. In dieser Hinsicht sind die baltischen Länder letzten Endes in der Wahrnehmung des Kremls alle gleich: ehemalige Sowjetrepubliken, die die Rote Armee von den Nazis befreit hat, und die, statt dafür zu danken, als Mitglieder der NATO und der EU üble Stimmung gegen Russland machen.

Streitpunkt: Energie

Das gespannte Verhältnis Moskaus zu den Nachbarstaaten zeigt sich auch in der Energiefragen. Ein wichtiges Beispiel dafür ist der mit politischer Unterstützung von dem damaligen Präsidenten Wladimir Putin und Bundeskanzler Gerhard Schröder zwischen Gasprom und den deutschen Gasfirmen E.ON Ruhrgas und BASF/Wintershall geschlossene Vertrag über den Bau der Nord Stream Gaspipeline, die vom russischen Wyborg nach Greifswald führen soll. Die weit billigere, landgestützte Variante durch die baltischen Staaten (Amber-Pipleline) lehnte Russland ab. Dadurch machte es sich zwar unabhängig von aus seiner Sicht unbequemen und womöglich unzuverlässigen Transitländern, aber es verpasste die Gelegenheit, ein positives politisches Signal zu setzen und wirtschaftliche Verflechtung im baltischen Raum zu fördern.

Die insgesamt negative Haltung Moskaus zu den drei Staaten äußert sich auch in der Tatsache, dass diese aus der russischen Besuchsdiplomatie ausgeklammert worden sind. Bisher hat noch kein russischer Präsident Tallinn, Riga oder Wilna besucht. Dieses Bild wird durch die Beziehungen Russlands zu den einzelnen Staaten vervollständigt.

Estland

Die wichtigsten Streitfragen, welche das Verhältnis Moskaus zu Tallinn belasten, sind das Minoritätenproblem, widerstreitende Interpretationen der Geschichte und mit diesen verbundenen Grenzprobleme.

Die Besonderheit der Situation bezüglich der russischen Minderheit liegt zum Teil in dem hohen Anteil der russischsprachigen Bevölkerung: Nach der letzten Volkszählung der Sowjetunion von 1989 betrug dieser 35,5 Prozent, heute allerdings nur noch 29 Prozent (380.000 in absoluten Zahlen). In den östlichen Landesteilen, so in den Gebieten Narwa und Ida-Virumaa an der russischen Grenze, überwiegt jedoch der russischsprachige Anteil bei weitem; dort leben ethnische Russen und kulturell assimilierte "Russischsprachige" (russkojasytschnye) in kompakten Gemeinschaften.

Moskau hat sich zum Anwalt der russischsprachigen Minderheit in Estland gemacht und kritisiert, dass (angeblich) rund 100.000 der 1,3 Mio. Bewohner des Landes zurzeit keine Staatsbürgerschaft besitzen. Im Gebietsteil Narwa mit seinen 85.000 Einwohnern verfügten lediglich 6.000 Bewohner über einen estnischen Pass. Allerdings will sich ein großer Teil der russischsprachigen Bevölkerung bis heute weder für die estnische noch für die russische Staatsbürgerschaft entscheiden.

Der bekannteste Streitfall zwischen Russland und Estland der letzten Jahre ist zweifellos die Auseinandersetzung um den "Bronzenen Soldaten": eine Statue, die 1947 errichtet wurde, um der gefallenen Sowjetsoldaten des Zweiten Weltkriegs zu gedenken. Im Frühjahr 2007 entschied die estnische Regierung, die Statue samt den unter ihr begrabenen Soldaten auf einen Militärfriedhof außerhalb Tallinns zu verlegen. Gegen diesen Schritt wehrten sich russischsprachige Gruppen in Estland. Demonstrationen mit zahlreichen Festnahmen und Verletzten waren die Folge. Die Ereignisse zogen eine Reihe offizieller und inoffizieller Reaktionen in Moskau und anderen Städten Russlands nach sich. Mitglieder der kremlnahen Jugendorganisation "Naschi" ("Die Unsrigen") blockierten die estnische Botschaft, verfolgten die Botschafterin auf Schritt und Tritt und stürmten eine Pressekonferenz. Hacker attackierten Webseiten der estnischen Regierung und legten für einige Zeit fast den gesamten Internetverkehr lahm.

Zudem verhängten die russischen Behörden inoffiziell Wirtschaftssanktionen. So hieß es, am Schienennetz für die Verbindung nach Tallinn seien Wartungsarbeiten nötig. Die sonst über die estnischen Häfen abgewickelten Ölprodukte wurden infolgedessen über St. Petersburg, Kaliningrad, Murmansk oder Odessa verschifft. Das Frachtvolumen des Hafens von Tallinn ging um 13 Prozent zurück, und die Menge des umgeschlagenen Erdöls verringerte sich (um 16 Prozent). Gleichzeitig kürzten die russischen Kohlenexporteure ihre Lieferungen drastisch: es fehle an geeigneten Waggons. Die Verladung von Kohle im Hafen Tallinn brach infolgedessen regelrecht ein (minus 97 Prozent). Nationalistische Parteien riefen zum Boykott estnischer Waren auf. In der Folge gingen die Importe von Russland nach Estland 2007 stark zurück, während die estnischen Exporte weniger stark zunahmen als in den Jahren zuvor.

Mit den Auseinandersetzungen über die Geschichte verbunden ist die Weigerung Moskaus, den von den beiden Außenministern im Mai 2005 unterzeichneten Grenzvertrag zu ratifizieren. Der Grund dafür liegt darin, dass in der Präambel des vom estnischen Parlament verabschiedeten Beschlusses über die Ratifizierung des Vertrags auf Dokumente Bezug genommen wird, in denen von "Aggression der Sowjetunion gegen Estland", "Jahrzehnte der Besatzung" und den "rechtswidrigen Anschluss Estlands an die UdSSR" hingewiesen wird. Das russische Außenministerium bezeichnete dies als "unannehmbare Thesen" und lehnte es ab, den Grenzvertrag der Föderalen Versammlung (Parlament) zur Ratifizierung vorzulegen.

Lettland

Im Gegensatz zu Estland wurde der Grenzvertrag mit Lettland nicht nur unterzeichnet, sondern auch ratifiziert. Allerdings verliefen die Verhandlungen anfangs ähnlich wie die zwischen Russland und Estland. Ein Entwurf lag bereits 1997 vor. Im Jahre 2005 reagierte die Regierung in Riga auf Vorhaltungen der einheimischen Opposition und ergänzte den Vertragstext mit einem Zusatz, in dem es hieß, Russland habe die Unabhängigkeit Lettlands bereits 1920 anerkannt. Territoriale Ansprüche wurden daraus aber nicht abgeleitet. Dennoch akzeptierte der Kreml den Zusatz nicht. Riga musste auch rechtlich verbindlich auf ein Gebiet verzichten, das vor 1940 Teil Lettlands gewesen war, aber in der Sowjetzeit zur Russischen SFSR gehört hatte. Erst als die lettische Regierung die Ergänzung strich und noch einmal auf jegliche Gebietsansprüche verzichtete, ratifizierte Moskau den Vertrag im Dezember 2007.

Allerdings gibt es genügend andere Streitpunkte. Einer von diesen ist wiederum die Minderheitenfrage. Russland kritisiert die Behandlung der russischsprachigen Bevölkerung und beklagt, dass den bisher fast 100.000 Einbürgerungen aus der Minderheit seit 1995 gut 400.000 "Nicht-Staatsbürger" gegenüberstehen - 17 Prozent der lettischen Bevölkerung (im Vergleich dazu: 7,1 Prozent der estnischen Bevölkerung). Auch die Sprachenpolitik Rigas ist Klage- und Anklagepunkt. Moskau thematisiert die Schließungen russischsprachiger Schulen und angebliche Diskriminierung ethnischer Russen im Arbeitsleben. Problematisch bleibt, dass etwa die Hälfte der russischen Minderheit in Lettland nur Russisch spricht.

Ein weiter Punkt, der die Beziehungen zwischen Moskau und Riga belastet, ist die russische Energiepolitik. Lettland ist zwar energiepolitisch weniger anfällig als seine Nachbarn, denn es bestreitet fast seine gesamte Stromerzeugung durch Wasserkraft, aber wie die beiden anderen baltischen Nachbarn bezieht es sämtliches Erdgas aus Russland (bei einem Anteil von 30 Prozent am Gesamtenergieverbrauch). Ökonomisch bedeutsam für Lettland war sein Hafen Ventspils zur Verschiffung des Erdöls aus der "Druschba"-Ölpipeline. Im Jahre 2003 legte Russland allerdings die Pipeline zum lettischen Ostseehafen still. Dies war Teil einer Strategie, die darauf abzielt, die Transitabhängigkeit von den drei Ländern zu reduzieren. Dafür spricht auch der Auf- und Ausbau eigener Umschlagplätze in Primorsk und Ust-Luga am Finnischen Meerbusen sowie der damit einhergehende Bau neuer Pipelinerouten.

Litauen

Relativ gesehen ist Russlands Verhältnis zu Litauen besser als das zu Estland und Lettland. Das liegt einmal an der problemlosen Einbürgerung der russischen Minderheit. Als Litauen seine Unabhängigkeit erlangte, machten Russen, Weißrussen und Ukrainer lediglich 12,3 Prozent der Bevölkerung aus. Zum anderen waren Russen in Litauen besser integriert als es in Lettland und Estland der Fall war. Dem Zensus von 1989 zufolge beherrschten 37,8 Prozent der ethnischen Russen in Litauen die Landessprache, was deutlich über den Anteilen in den beiden anderen baltischen Ländern lag. Noch während des Loslösungsprozesses von der Sowjetunion und der offiziellen Wiedererlangung der Unabhängigkeit konnte Litauen deshalb ein Staatsangehörigkeitsgesetz verabschieden, demzufolge Personen, die zu Sowjetzeiten eingewandert waren, die Staatsangehörigkeit offen stand. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte ist zudem der Anteil der drei slawischen Bevölkerungsgruppen auf lediglich 6,6 Prozent zurückgegangen (Russen 4,9 Prozent, Weißrussen 1,1 Prozent und Ukrainer 0,6 Prozent).

Ein weiterer Grund dafür, dass Russland ein relativ besseres Verhältnis zu Litauen als zu den anderen beiden baltischen Staaten hat, liegt darin, dass es gezwungen ist, sich mit Wilna wegen der durch litauisches Gebiet führenden Verbindung zum Kaliningrader Gebiet gut zu stellen. Vom Entgegenkommen Litauens hängen die Versorgung und das Überleben der Exklave Kaliningrads ab. Infolgedessen ratifizierte die russische Duma wenn auch zähneknirschend und nach langen Auseinandersetzungen mit Litauen und der EU über die Modalitäten des Transits im Frühjahr 2004 den bereits 1997 unterzeichneten Grenzvertrag mit Litauen.

Trotzdem bleiben die Beziehungen Moskaus zu Wilna wie die zu Tallinn und Riga wegen unterschiedlicher Geschichtsdeutung, Interessengegensätzen im postsowjetischen Raum und Energiefragen gespannt.

Wenn auch litauische Kompensationsforderungen an Russland wegen der Deportationen in den 1940er-Jahren und der sowjetischen "Besatzungszeit" nie offiziell an Russland übermittelt worden sind, hat Moskau auf diesbezügliche Diskussionen in Litauen immer wieder allergisch reagiert. Als ein weiterer unfreundlicher Akt wurde in Moskau vermerkt, dass sich Litauens Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite weigerte, an den Feierlichkeiten zum 65. Jahrestag des Siegs der Sowjetunion über Nazi-Deutschland teilzunehmen. Die litauische Präsidentin fügte allerdings hinzu, sie würde an den Feierlichkeiten in Moskau teilnehmen, wenn Präsident Medwedew vorher zum 20. Jahrestag der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Litauens nach Wilna käme.

Zu erheblichen Irritationen im Kreml hat auch Litauens aktive Politik zur Förderung von Demokratisierungs-, Emanzipations- und Liberalisierungsbestrebungen in Osteuropa und im südlichen Kaukasus geführt. Grybauskaites Vorgänger im Amt des Staatspräsidenten, Valdas Adamkus, war zusammen mit seinem polnischen Amtskollegen wesentlich an den Vermittlungsprozessen beteiligt, um eine blutige Unterdrückung der Orangen Revolution in der Ukraine zu verhindern. Wilna richtete auch den zweiten Gipfel der Gemeinschaft für Demokratische Wahl im Mai 2006 aus. Entgegen der Haltung und Interessen Russlands in Belarus, setzt sich Litauen wiederum zusammen mit Polen stark für die demokratische Opposition in Belarus ein. Die Europäische Humanistische Universität durfte nach Wilna umsiedeln, nachdem sie in Minsk geschlossen wurde.

Umgekehrt hat Russlands Energiepolitik zu Litauens skeptischer und ablehnender Haltung gegenüber seinem Nachbarn beigetragen. Im Juli 2006 schloss der staatliche russische Pipelinebetreiber Transneft die Druschba-Pipeline, über die russisches Öl zur litauischen Raffinerie Mažeikiu Nafta floss, wegen "technischer Probleme". Diese Begründung entbehrt allerdings der Glaubwürdigkeit. Die von Transneft vorgenommene Maßnahme ist vielmehr Teil der oben erwähnten Strategie zur Reduzierung der Transitabhängigkeit Russlands von den baltischen Staaten und des Auf- und Ausbaus eigener Öl-Umschlagplätze sowie des Baus neuer Pipelinerouten. Auch der Zeitpunkt spricht für politische Hintergründe der Schließung: Kurz zuvor hatte die litauische Regierung entschieden, den Mažeikiu-Nafta Ölkomplex (den Butinge-Ölterminal, die Öl-Pipelinefirma Naftotiekis und die Mažeikiu-Nafta-Ölraffinier, die einzige in den baltischen Staaten) nicht an einen russischen Konzern zu verkaufen, sondern an das polnische Unternehmen PKN Orlen.

Prof. Dr. Hannes Adomeit ist Professor für Osteuropastudien am College of Europe, Natolin Campus (Warschau). Er war Leiter der Forschungsgruppe Russland/GUS an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Davor war er Professor für Internationale Politik an der Fletcher School of Law and Diplomacy in Boston und Fellow am Russian Research Center der Harvard Universität.