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Umweltprobleme und Umweltpolitik | Russland | bpb.de

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Umweltprobleme und Umweltpolitik

Angelina Davydova

/ 6 Minuten zu lesen

Zur Zeit der Sowjetunion wurde die russische Natur schwer belastet: von Fabrikabfällen vermüllt, chemisch und atomar verunreinigt. Auch heute gibt es ernsthafte Umweltprobleme in Russland - aber auch ein wachsendes Umweltbewusstsein in der Bevölkerung.

Der Autoverkehr, hier in Moskau, verursacht ca. 80 Prozent der Schadstoffbelastungen in Russland. (© AP)

Imposanter Natur- und Ressourcenreichtum

Als das größte Land der Erde erstreckt sich Russland mit einer Fläche von 17.075.400 km² (ca. ein Achtel der gesamten Landfläche der Erde) über zwei Kontinente - Europa und Asien - und ist damit fast so groß wie Europa und Australien zusammen. Die gewaltige Landfläche wird von vergleichsweise wenig Menschen bewohnt, lediglich acht Einwohner kommen auf einen Quadratkilometer, wobei mehr als zwei Drittel der Bevölkerung diesseits des Urals leben.

Der längste Fluss Europas - die Wolga - fließt mit einer Länge von über 3.530 km durch das Land und auch der tiefste Binnensee der Welt - der Baikalsee - sowie die umfangreichsten Süßwasservorkommen der Erde befinden sind in Russland. Neben Brasilien, Indonesien und Kanada weist das Land die ausgedehntesten Waldbestände auf, die einen wesentlichen Einfluss auf die Erdatmosphäre haben. Bis heute steht in Russland sehr viel mehr natürlich gewachsener Wald, der sogenannte Primärwald, als in anderen Teilen Mitteleuropas, wo Rodungen bereits im Mittelalter einsetzten.

Zudem verfügt Russland über reiche Vorkommnisse an Bodenschätzen, darunter erhebliche Ressourcen an Erdgas und Erdöl. Mit Blick auf jenen imposanten Naturreichtum ist es wenig überraschend, dass die Umweltsituation Russlands nicht nur das Land selbst betrifft, sondern Auswirkungen auf die gesamte Welt hat.

Rücksichtslose Eroberung und Ausbeutung der Natur im 20. Jahrhundert

Das enorme Naturpotenzial Russlands steht massiven Umweltproblemen gegenüber. Angefangen von der Luft- und Wasserverschmutzung über marode Atomaufbereitungsanlagen bis hin zu einer fahrlässigen Rohstoffnutzung - Russlands Umweltsünden wiegen schwer.

Eine der möglichen Ursachen dafür ist in der vergleichsweise späten industriellen Entwicklung des Landes zu sehen, die erst nach der Oktoberrevolution 1917 Fahrt aufnahm. Sehr sprunghaft vollzog sich die industrielle Entwicklung, die mit einer starken Industrialisierungspolitik einherging. Nun wurde die Idee der Eroberung und Ausbeutung der Natur zugunsten eines beschleunigten wirtschaftlichen Wachstums propagiert. Die Führung der Sowjetunion legte großen Wert auf Wachstum, um die Konkurrenz zum Westen und insbesondere im Kalten Krieg zu den USA für sich zu entscheiden. Von nachhaltiger Entwicklung war zu der Zeit kaum die Rede. In den siebziger und achtziger Jahren setzten sich lediglich wenige Wissenschaftler dafür ein - ihre Bedenken fanden kaum Gehör.

Die politische Ideologie der Sowjetunion forderte drastische Formen der Natureroberung und Ausbeutung. So wurden etwa Strömungsrichtungen von Flüssen umgekehrt, Böden ausgebeutet, Wasser und Luft in Industrieregionen wie dem Südural und Sibirien ungehemmt mit den Abfällen der Fabriken belastet. Auch das Wettrüsten mit den USA hatte schwere Folgen für die Umwelt. Einige Gebiete, die als Testgelände dienten, wurden stark chemisch und atomar verunreinigt. Nicht zu vergessen ist eine der größten Umweltkatastrophen des 20. Jahrhunderts: die Kernreaktorexplosion von Tschernobyl auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Sie richtete auch in Russlands Westen schwere Umweltschäden an.

Zu viele Autos, zu viel Verpackung, zu viel Energie

In Russlands Großstädten gelten die Abfallentsorgung und die Luftverschmutzung als die dringendsten Umweltfragen. (© AP)

Mit dem Zerfall der Sowjetunion änderte sich auch die Umweltsituation in Russland erheblich. Zum Einen brachen neben dem politischen System auch die wirtschaftlichen Strukturen zusammen. Mehrere hundert Fabriken mussten geschlossen werden. Dies bewirkte in vielen Regionen eine kurzzeitige Verbesserung der ökologischen Verhältnisse, insbesondere die Wasser- und Luftqualität verbesserte sich merklich. Zum Anderen wurde eine exzessive Förderung von Rohstoffen wie Erdöl und Erdgas aufgenommen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Auch wenn die Standorte überwiegend in die entlegenen Regionen Mittel- und Nordsibiriens verlagert wurden, belastet die industrielle Förderung von Erdgas und Erdöl die Umwelt in erheblichem Maße.

Mit dem Lebensniveau stieg auch der Konsum. Das erzeugt Probleme, die in Europa bestens bekannt sind - zu viele Autos, zu viel Verpackung, zu viel Müll. So gelten heute in Russlands Großstädten das Abfallentsorgungsproblem und die Luftverschmutzung durch den Autoverkehr (ca. 80 Prozent der gesamten Schadstoffbelastung) als die dringendsten Umweltfragen. Anders als in Deutschland gibt es in Russland keine Mülltrennung. Stattdessen werden in jüngster Zeit vermehrt zusätzliche Abfallverbrennungsanlagen geplant, meist nahe den Metropolen Moskau und St. Petersburg. Gegen diese Vorhaben regen sich in der Bevölkerung und bei Umweltaktivisten bereits zahlreiche Proteste.

Auch der leichtfertige Umgang mit den Rohstoffressourcen führt zu ernsthaften Problemen. Einer Studie der Weltbank zufolge lässt Russland pro Jahr so viel gewonnene Energie ungenutzt wie Frankreich insgesamt verbraucht. So geht etwa ein Viertel der Heizungswärme für den Wohnungssektor bereits "unterwegs" verloren - durch Löcher in den Rohren. Auch die zentrale Regulierung der Heizungssysteme ist alles andere als ökologisch sinnvoll. Schalter oder Regler zum individuellen Einstellen gibt es kaum, man kann die Raumtemperatur nur durch Fensteröffnen regulieren. Erst seit kurzem wird das Thema Energieeffizienz als eine zentrale Entwicklungsaufgabe des Landes diskutiert. Inzwischen gibt es Pläne der Regierung, die Energieeffizienz in Russland bis zum Jahre 2020 um 40 Prozent zu steigern.

Ändern muss sich auch die Wahrnehmung der Gesellschaft, die Energie und weitere Ressourcen als unbegrenzt vorhandene und günstige Ware begreift. Allmählich steigen nun auch in Russland die Preise für Energie und Wasser, auch wenn sie noch wesentlich niedriger als in Europa sind.

Umweltpolitik und Umweltbewegung

Wie fast alle Länder verfügt auch Russland über eine umfangreiche Umweltgesetzgebung, erst vor kurzem wurde sie erneut reformiert. Das wesentliche Problem daran ist, dass sie in der Praxis kaum umgesetzt wird. Für Unternehmen ist es billiger und bequemer Geldstrafen oder Schmiergelder zu zahlen, als umweltschonende Technologien aufwändig zu installieren. Umweltanliegen spielen auch in der russischen Innenpolitik noch immer eine untergeordnete Rolle, da die soziale Entwicklung bisher stark mit dem Wirtschaftswachstum verbunden war.

Auch in der öffentlichen Meinung stehen Umweltfragen nicht gerade hoch im Kurs. Mit dem Zerfall der Sowjetunion sank das Lebensniveau vieler Einwohner so drastisch, dass die Fragen der sozialen Sicherheit, der Arbeit und des Gesundheitssystems zu den wichtigsten wurden. Dennoch lässt sich eine zaghafte Tendenz hin zu einem wachsenden Umweltbewusstsein in der Bevölkerung erkennen. Insbesondere die jüngere, gut ausgebildete Generation in größeren Städten interessiert sich zunehmend für Umweltfragen und Umweltschutz.

Gerade im letzten Jahr wurden in Russland einige Umweltkampagnen landesweit bekannt. Die berühmteste war die Verteidigung des Chimki-Waldes, wo eine Gruppe von Aktivisten in der kleine Stadt Chimki nordwestlich von Moskau monatelang gegen den Bau einer neuen Autobahn zwischen Moskau und St. Petersburg protestierte (siehe Externer Link: ecmo.ru). Obwohl die Kampagne Tausende Demonstranten in Moskau und anderen Städten auf die Straßen zog, entschied die Regierung Ende des Jahres zugunsten der Autobahn. Die Demonstrationen halten sich seither hartnäckig.

Eine andere Bürgerbewegung in Russland kämpft für den Schutz des Baikalsees und hat neben vielen lokalen auch zahlreiche internationale NGOs wie WWF und Greenpeace an ihrer Seite. Seit vielen Jahren kämpfen die Aktivisten gegen eine Zellulosefabrik, die das Wasser des Baikalsees mit ihren Abfällen vergiftet - unter der schützenden Hand der Regierung (siehe Externer Link: savebaikal.ru). Auch im Süden Russlands, im Kaukasus, wo 2014 in Sotschi die Olympischen Winterspiele stattfinden, engagieren sich Umweltaktivisten gegen den Neubau von Wettkampfstätten inmitten der unter Naturschutz stehenden Gebirgslandschaft (siehe Externer Link: ewnc.org).

Ein vorsichtig positiver Blick in die Zukunft

Umso stärker die Lebensqualität steigen wird, desto wichtiger und dringlicher werden in Zukunft Umweltfragen in Russlands Öffentlichkeit und Politik diskutiert. Zu erwarten ist eine spürbare Zunahme von Protestbewegungen gegen die Umweltausbeutung. In den unterschiedlichen Regionen Russlands wird immer mehr gegen die Zerstörung der Naturreichtümer und gegen Neubauten an ökologisch sensiblen Orten demonstriert. Zudem ist zu erwarten, dass das Interesse am Öko-Lebensstil noch weiter zunimmt. Auch der Bereich des Umweltjournalismus, der in Russland noch in den Kinderschuhen steckt, wird in den führenden Medien und im Internet mehr an Breite und Einfluss gewinnen.

Abzusehen ist außerdem, dass in den nächsten Jahren explizit das Thema Klimaschutz an Resonanz und Relevanz gewinnt. Durch die extremen Wetterverhältnisse, im Sommer 2010 erlebte Russland eine beispiellose Hitzewelle, die riesige Waldbrände zur Folge hatte, drängen die Themen Klimaveränderung und Klimaschutz in die Medien und damit in das Bewusstsein der Politik und der Bevölkerung.

Angelina Davydova ist freie Journalistin in St.Petersburg und Moskau. Außerdem ist sie als Projektexpertin des Russisch-Deutschen Büros für Umweltinformation (www.rnei.de) und als Dozentin für internationalen Journalismus an der Staatlichen Universität St. Petersburg tätig.