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Analyse: Öffentliche Unterstützung für Demokratie und Autokratie in Russland | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Öffentliche Unterstützung für Demokratie und Autokratie in Russland

/ 11 Minuten zu lesen

Oppositionelle versammeln sich in Moskau, um gegen Wladimir Putin zu protestieren. Bunte Ballons mit der Aufschrift "Freiheit für Pussy Riot" beziehen ich auf die Verurteilung der russischen Punkband Pussy Riot, September 2012.

(© picture-alliance/AP)

Zusammenfassung

Putin genießt innerhalb der russischen Bevölkerung immer noch hohe Zustimmungswerte. Diese werden oftmals als öffentliche Akzeptanz gegenüber dem autoritären Kurs, der während Putins ersten beiden Amtszeiten als Präsident und seiner Zeit als Premierminister eingeschlagen wurde, interpretiert. Die Ergebnisse einiger Meinungsumfragen scheinen dieses Bild zu bestätigen. Allerdings könnte es auch sein, dass diese Befunde verzerrt sind und weniger Unterstützung für Demokratie anzeigen, als es tatsächlich der Fall ist. Die Herausforderung besteht nämlich darin, Zustimmung zu Demokratie in einem Land zu messen, in dem es gar keinen demokratischen Institutionen gibt. In Gesellschaften, die sich entweder auf dem Weg hin zu Demokratie oder weg von ihr bewegen, ist oft unklar, was »Demokratie« tatsächlich bedeutet. Institutionen und Praktiken, die das Label »Demokratie« tragen, handeln oft nicht so, wie es allgemeinen demokratischen Normen entsprechen würde. Interpretiert man die erwähnten Umfrageergebnisse unter diesem Gesichtspunkt, dann lassen sich Hinweise auf ein höheres Maß an passiver Unterstützung für Demokratie in Russland finden, als für gewöhnlich angenommen. Hingegen sind nur wenige bereit, sich aktiv politisch zu engagieren.

Einleitung

Am 27. Mai 2012 trat Putin seine dritte Amtsperiode als russischer Präsident an. Anders als bei den ersten beiden Malen – 2000 und 2004 –, leistete er dieses Mal den Amtseid unter massiven öffentlichen Protesten. Nachdem der Vorwurf des Wahlbetrugs laut wurde, kam es im vergangenen Dezember zu großen Demonstrationen. Diese flammten zu den Präsidentschaftswahlen im März wieder auf und dauerten auch in Putins dritter Amtsperiode weiter an. Kann diese neu entstandene Opposition als ein Anzeichen dafür gesehen werden, das die Demokratie gegen Putins wachsenden autokratischen Tendenzen öffentlich verteidigt wird? Oder aber ist diese Opposition nur eine kleine Gruppe, die nicht repräsentativ für die allgemeine politische Stimmung ist? In diesem Artikel werde ich die Ergebnisse von Meinungsumfragen und von Interviews, die ich mit durchschnittlichen russischen Staatsbürgern zwischen 1998 und 2011 geführt habe, nutzen, um zu zeigen, dass eben jene die Demokratie stärker unterstützen, als generell angenommen. Allerdings sind nur wenige von ihnen aktuell auch dazu bereit, etwas zu unternehmen, um die Situation zu einem Besseren zu wenden.

Scheinbare Unterstützung für Putins autokratischen Kurs

In Putins ersten beiden Amtszeiten – und in seiner Zeit als Premierminister unter Präsident Dimitri Medwedew – war eine langsame aber stetige Beschneidung demokratischer Praktiken zu beobachten. Die Medien – und hier im Besonderen das Fernsehen – wurden zunehmend unter Kontrolle der Regierung gestellt. Wahlen wurden in dem Maße, in dem das Regime lernte die Ergebnisse zu beeinflussen, weniger kompetitiv. Personen, die mutig genug waren, um zu versuchen, sich gegen diese Entwicklungen zu stellen, fand sich im Exil, im Gefängnis oder im Fall einiger glückloser Journalisten, tot wieder. Putin installierte die von ihm selbst so bezeichnete »Vertikale der Macht«, die es dem Zentrum erleichterte, Kontrolle über lokale Politiken und Wahlen auszuüben. Konkret bedeutete das, dass Regierungsvertreter gezwungen werden konnten, das zu tun, was ihre Vorgesetzten von ihnen verlangten und nicht zwingenderweise das, was die Bürger von ihnen wollten. Auch wenn Teile des Regimes ihrer Form nach demokratisch blieben, waren sie doch in der Praxis autokratisch. Aber es gibt viele Dinge, die die Menschen am System Putin schätzen könnten. Wirtschaftswachstum und die Beseitigung des Chaos der Jelzin-Ära zählen hierzu. Trotzdem werden die hohen Zustimmungswerte, die Putins genießt oftmals ausschließlich als öffentliche Akzeptanz gegenüber dessen autokratischen Kurs gedeutet. Russische Meinungsumfragen scheinen den Eindruck, dass durchschnittliche russische Staatsbürger wenig von Demokratie nach westlichem Vorbild halten, zu bestätigen. Umfragen des Levada-Zentrums – einem angesehen russischen Meinungsforschungsinstitut – zufolge, glauben nur rund zwanzig Prozent der Befragten, dass Russland eine Demokratie ähnlich den Demokratien in Europa und Amerika brauche. Diese Zahl scheint über die Zeit hinweg auch noch zu sinken. Desweiteren glaubt eine Mehrheit der Russen, dass sich Russland eher Richtung Demokratie als Richtung Diktatur entwickelt. Auch die Fairness der Wahlen empfand eine Mehrheit der Befragten als zufriedenstellend. Ebenso werden Werte wie »Ordnung« und eine Führer mit einer »starken Hand« für gut befunden. Wenig öffentliches Interesse besteht, den Meinungsumfragen zufolge, hingegen an der Politik der Opposition. Umfragen, die von dem öffentlichen Meinungsforschungsinstitut Obschestvennoe Mnenie durchgeführt wurden, zeigen, dass nur wenige die Namen der Oppositionsführer kennen und dass die Oppositionsführer, die größere Bekanntheit genießen eher negativ bewertet werden. Die Aktivitäten der Opposition finden ebenfalls wenig Unterstützung in der Bevölkerung. Als diskutiert wurde, ob Geldstrafen bei Zuwiderhandeln gegen die, von der Regierung erlassenen, Regelungen für genehmigte Demonstrationen erhöht werden sollte, sprachen sich nur zwölf Prozent der Befragten dafür aus, dass das demokratischen Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit verteidigt werden muss. Selbst an Protesten und Demonstrationen teilnehmen würden nur wenige. Viele Russen sind in ihrer neuen Konsumwirtschaft nur allzu gerne bereit, das politische Leben zu ignorieren und gehen stattdessen lieber shoppen.

Zustimmung zu Demokratie ohne Demokratie messen

Es ist aber auch möglich, dass diese Meinungsumfragen ein verzerrtes Bild der Unterstützung für Demokratie zeichnen und weniger Unterstützung für Demokratie suggerieren als tatsächlich existiert. Die Herausforderung besteht darin, Zustimmung zu Demokratie in einem Land zu messen, in dem es gar keinen demokratischen Institutionen gibt beziehungsweise diese nicht gut funktionieren. Selbst in stabilen Gesellschaften, in denen die Bürger schon ausreichend Erfahrungen mit Demokratie gemacht haben, können die Befragten den Sinn hinter den, in Meinungsumfragen gestellten Fragen nicht unbedingt vollständig und endgültig erfassen. In Gesellschaften, die sich entweder auf dem Weg hin zur Demokratie oder von ihr weg bewegen, ist oft unklar, was »Demokratie« tatsächlich bedeutet. Institutionen und Praktiken, die das Label »Demokratie« tragen, handeln oft nicht so, wie es demokratischen Normen entsprechen würde. Bürger in stabilen politischen Systemen hingegen werden schon in der Schule mit den Grundzügen ihrer politischen Institutionen vertraut gemacht. Sie verfügen somit über ein Set von Wörtern und Konzepten, auf das die zurückgreifen und das sie verstehen können, wenn sie über ihre Regierung reden. In Gesellschaften, die einen politischen Wandel durchmachen, haben Bürger diesen Vorteil nicht. Das führt dazu, dass, wenn die Bürger in Umfragen zu demokratischen Konzepten befragt werden, sie die Fragen missinterpretieren und Antworten geben, die wiederum etwas anderes aussagen, als das, was sie eigentlich mitteilen wollten. Diese Tendenz zur Fehlkommunikation ist nicht nur ein Problem der Übersetzung oder des interkulturellen Austauschs; vielmehr ist es ein Ausdruck der generellen Schwierigkeit, über Demokratie innerhalb eines Kontextes zu reden, in dem Demokratie nicht in ausreichendem Maße existiert. Vor allem bei Fragen, die das Wort »Demokratie« enthalten, wird dieses Problem offensichtlich. Ich habe innerhalb zweier Forschungsprojekte zwischen 1998 und 2011 eine Reihe systematischer und intensiver Interviews mit durchschnittlichen russischen Bürgern durchgeführt. In diesen Interviews wurden den Befragten keine Einschränkungen bezüglich der Länge ihrer Antworten gemacht, anstatt ihre Meinung in vorgefertigte multiple-choice Fragebögen zu pressen. Die Antworten die ich von der Befragten erhielt, illustrieren die Bandbreite dessen, was mit dem Wort »Demokratie« alles assoziiert wird. Einige Personen beschrieben, was Demokratie in ihrer eigenen Erfahrung bedeutet hat: Politische Anführer, die ihre Verantwortung gegenüber dem Volks ignorierten, geschlossene Fabriken und wirtschaftliches Elend. Andere sprachen von Demokratie als einem kleinen Teil innerhalb eines großen komplexen Systems – persönliche Freiheit, Wahlen oder Rechtsstaatlichkeit (Befolgung von Gesetzen). Im Ergebnis zeigt sich, dass wenn Russen Umfragen zu der Notwendigkeit einer Demokratie im westlichen Sinne beantworten, es schwer einzuschätzen ist, was sie wirklich unter Demokratie verstehen.

Russische Assoziationen mit Demokratie

Umfrageforscher sind sich dieser Problematik natürlich bewusst und versuchen sie soweit wie möglich zu umgehen. Eine Strategie, um Probleme die die verschiedenen Assoziationen, die das Wort Demokratie auslöst zu umgehen, ist, das Wort selbst zu vermeiden. Stattdessen werden die Personen dann zu unterschiedlichen Aspekten des demokratischen Systems befragt. Für gewöhnlich sind das Wahlen, Institutionen und persönliche Freiheiten. Meine Erfahrung mit den Befragten zeigt aber, dass selbst diese weniger abstrakten Fragen auf Wörter vertrauen, die für unterschiedliche Personen unterschiedliche Dinge bedeuten. In Umfragen wird häufig nach bestimmten Institutionen gefragt: Präsident, Parlament, Wahlen, Gerichte. Sie dienen als eine Art Vehikel für Konzepte, die zu den Kernelementen der Demokratie gehören, wie beispielsweise Partizipation, Wettbewerb oder der Schutz individueller Rechte. Der Erfolg diese Strategie hängt aber davon ab, dass die Befragten die Bedeutung dieser Institutionen erkennen. Beispielsweise, ob sie wissen, dass es einen Unterschied zwischen Präsidenten und Königen gibt, oder dass der Legislativen das Prinzip der Repräsentation verschiedener Interessen inhärent ist. Es ist nicht immer ersichtlich, ob normale Bürger sich dieser Unterschiede bewusst sind und ob die Unterschiede, die sie meinen dann auch die sind, die die Umfrageforscher meinen. Einige der Personen, die ich befragt habe dachten beispielsweise, dass ein Zar, ein Präsident und ein sowjetischer Kommissar mehr oder weniger dasselbe wären. Es ist somit wenig überraschend, dass viele Russen ihr eigenes System als demokratischer einschätzen als es die meisten außenstehenden Beobachter tun würden. Wenn Bürger zu Institutionen befragt werden, treten aber auch noch weitere Probleme auf. Die Befragten denken bei der Beantwortung der Fragen oft an ganz bestimmte, defekten Institutionen und ihre eigenen Erfahrungen mit diesen und nicht daran, wie diese Institutionen in einer abstrakten Welt mit perfekter Demokratie funktionieren würden. Umfragen zeigen beispielsweise, dass die repräsentative Demokratie unter Russen auf wenig Zustimmung stößt. Dieser Schluss kommt daher, da üblicherweise das Parlament als ein Pfeiler der Demokratie gesehen wird. Die ablehnende Haltung der Russen gegenüber der Staatsduma kann also als ablehnende Haltung gegenüber dem generellen Prinzip der Repräsentation oder dem Wettstreit unterschiedlicher politischer Kräfte gedeutet werden. Allerdings wurde in den Umfragen, die ich durchgeführt habe, deutlich, dass die Kritik der Befragten vor allem durch die Arbeit der Staatsduma geprägt war. Sie bezichtigten die Abgeordneten als »Schwindler« und »Parasiten« und beschuldigten sie, sich nur um ihr eigenes persönliches Wohl zu sorgen und sich dabei aus dem öffentlichen Topf zu bedienen. Die Personen, die ich befragt hatte, wollten nicht ohne Repräsentation sein. Sie wollten nur, dass ihre Institutionen besser arbeiten, damit sie den Bedürfnissen der normalen Menschen, wie die Befragten es selbst sind, dienen. Umfrageforscher benutzen Wendungen wie »eine starke Hand« oder »strenge Ordnung« als Codewörter für autoritäre Herrschaft und eingeschränkte persönliche Rechte. Allerdings ist nicht klar, ob alle Befragten diese Codewörter auch verstehen und entschlüsseln können. Die Personen, die ich befragte hatte, befürworteten beispielsweise eine »strenge Ordnung«. Allerdings verstanden sie darunter, dass alle Menschen gleichermaßen – auch Regierungsvertreter – an Recht gebunden wären. Für viele meiner Befragten war Ordnung nicht das Gegenteil von Demokratie oder irgendeinem anderen Konzept von Freiheit. Vielmehr verstanden sie unter Ordnung – gemeinsam mit Demokratie – einen Mittelweg zwischen Autokratie auf der einen Seite und Chaos, willkürliche Gewalt und sozialen Zusammenbruch auf der anderen Seite. Ein junger Mann erklärte mir: »Ordnung fördert die Pluralität der Interessen. Aber das geht nicht, wenn Anarchie herrscht. Anarchie herrscht dann, wenn es keine Ordnung gibt.«

Passive Unterstützung für Demokratie unterschätzt

Der Schluss, den man hieraus ziehen kann, ist, dass Um­frageergebnisse möglicherweise unterschätzen, inwieweit durchschnittliche Russen Demokratie befürworten. In nicht-demokratischen oder nur teilweise demokratischen Ländern wie Russland kann nur schwer eine direkte Verbindung zwischen Begriffe wie »Demokratie«, »Freiheit« oder »Wahlen« und der Realität hergestellt werden. Die Interpretation dieser Begriffe ist außerdem oft nicht mit dem identisch, was die Wissenschaftler darunter verstehen. In politischen Systemen, die sich in einer ungewissen Transition befinden, benötigen die Befragten möglicherweise ein hohes Maß an politischem Wissen, um die Fragen richtig beantworten zu können. In diesen Systemen stehen die Menschen aber auch gleichzeitig vor dem Problem, dass das Wissen, das sie in der Vergangenheit angesammelt haben, ihnen nicht hilft, um die Gegenwart zu verstehen. Viele der Antworten, die in russischen Umfragen erhoben werden, stützen die Annahme, dass es in Russland durchaus Unterstützung für Demokratie gibt. Nichtsdestotrotz kann es sein, dass es für durchschnittliche russische Bürger nicht ersichtlich ist, wie demokratische Institutionen im Idealfall organisiert sein sollten. Im Vergleich dazu sind die Bürger in ihrer Zustimmung zu individuellen Rechten wesentlich weniger widersprüchlich. Dies zeigt sich vor allem in Bezug auf persönliche Freiheitsrechte, wie beispielsweise das Recht frei zu reisen aber auch auf politische Rechte. Die Bürger stimmen generell nicht zu, dass die Interessen des Staates Priorität vor den Rechten des Individuums haben. Eine große Mehrheit der Bürger ist der Ansicht, dass oppositionelle Gruppen das Recht haben sollten, zu bestehen und lehnen Gewaltanwendung gegen diesen Gruppen ab. Trotzdem würden sie selbst nicht an einer Demonstration teilnehmen. Allerdings ist die Tatsache, dass nur ein kleiner Prozentsatz der russischen Bürger sich bereit erklärt, an einer Demonstration oder einer anderen Form des Protests teilzunehmen nicht verwunderlich. In den meisten Ländern ist diese Art von politischer Aktivität die Domäne einer kleinen Gruppe und wahrscheinlich auch etwas, was spontan entsteht in Reaktion auf eine sich schnell ändernde gesellschaftliche Lage. In dem Umfang, in dem sich russische Bürger auf staatlich kontrollierte Medien verlassen, haben sie zwangsweise auch keinen Zugang zu der Art von Informationen, die sie benötigen würden, um die Ursache für ihre Unzufriedenheit adäquat ausdrücken zu können oder überhaupt herauszufinden, wie eigene Unzufriedenheit in politisches Handeln umgesetzt werden kann. Regimegegner werden von der staatlich kontrollierten Presse als gewalttätige Extremisten bezeichnet und Putin-treue (oder von ihm abhängige), lokale Regierungsvertreter machen es der Opposition schwer, Veranstaltungen zu organisieren. Allerdings zeigen Umfragen, dass die Internetnutzung in Russland beständig zunimmt und so Informationen, die die offizielle Presse nicht abdruckt, durch oppositionelle Websites oder Blogs vielen Russen zugänglich werde. Umfragen zeigen, dass tatsächlich einige Informationen der Opposition ihren Weg in die öffentliche Wahrnehmung finden. Alexei Navalny, ein Blogger, der gegen Korruption angeht, führte eine Kampagne an, um Putins Partei Einiges Russland mit dem Slogan »Partei der Schwindler und Diebe« zu verbinden. Zwischen April 2011 und Januar 2012 stieg der Prozentsatz der Bevölkerung, die der Meinung war, dass dieser Spruch auf die Partei zutreffe um neun Prozentpunkte. Allerdings glaubt bisher keine Mehrheit den Behauptungen der Opposition, dass die Wahlen geklaut waren oder dass eine bessere Regierung möglich wäre.

Hoffnung auf eine demokratische Opposition?

Zwar war der Anteil der Bevölkerung, der glaubte, dass sich das Land in eine falsche Richtung bewegt, nie wieder so hoch wie zu Zeiten Jelzins, trotzdem ist der heutige Wert mit vierzig Prozent immer noch sehr hoch. Es ist denkbar, dass sich in Putins dritter Amtszeit die unzufriedenen Bürger weiterhin mit der Lage abfinden, sich privat über die Zustände zu beschweren und sich selbst davon überzeugen, dass das Regime letzen Endes doch das Beste für sie will. In diesem Fall werden sie weder die Regierung noch die Opposition aktiv unterstützen. Aber es ist auch denkbar, dass es für sie immer mehr Gründe gibt, sich einer aktiveren Opposition anzuschließen. Diese Opposition könnte sich aus unterschiedlichen Richtungen konstituieren. Kommunisten und exklusive Nationalisten haben immer noch eine große Zahl an Unterstützer. Wobei die Gruppe derer, die sich grundsätzlichen innerhalb demokratischer Prinzipien bewegen wahrscheinlich beiden Gruppen zahlenmäßig überlegen sein wird. Es bleibt abzuwarten, ob diese Gruppe sich dazu entscheidet, demokratische Praktiken zu verteidigen oder sich alternativ doch lieber um ihre eigenen Angelegenheiten kümmert und shoppen geht, während die Autokratie wächst. Übersetzung: Eva Wachter

Fussnoten