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Analyse: Wirtschaftswachstum und Strategien zur wirtschaftlichen Entwicklung in Russland | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Wirtschaftswachstum und Strategien zur wirtschaftlichen Entwicklung in Russland

Richard Connolly

/ 12 Minuten zu lesen

Möchte Russland ein Wirtschaftswachstum von jährlichen vier Prozent halten, muss es einen innovationsgetriebenen Entwicklungspfad anstreben, wie es verschiedene Strategiepapiere der Regierung vorsehen. Dieser Weg kann jedoch nur bestrittenen werden, wenn die Politik glaubwürdig einen Strukturwandel einleitet und dabei politische Störfaktoren berücksichtigt. Denn Rohstoffexporte allein werden kein konstantes Wachstum ermöglichen können.

Blick auf das internationale Wirtschaftszentrum in Moskau (© picture-alliance/dpa)

Das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich…



Fast ein Jahrzehnt währte die Phase wirtschaftlicher Expansion in Russland. Zwischen 1999 und 2008 lag die jährliche Wachstumsrate im Schnitt bei rund sieben Prozent. Das Wachstum wurde 2009 durch einen heftigen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP) um fast acht Prozent jäh unterbrochen; keines der G20-Länder wies in dieser Zeit eine stärkere Rezession auf. Obwohl nach der Krise die Wachstumsraten hinter den vorherigen Spitzenwerten zurückblieben, war das Wachstum in den Jahren 2010 und 2011 mit 4,3 % dennoch bedeutend stärker als bei Russlands wohlhabenderen europäischen Nachbarn, und auch höher als in vielen anderen Ländern mit mittlerem Einkommen, etwa in Brasilien und der Türkei. Selbst als das weltweite Wachstum von 4,3 % im Jahr 2011 auf 3,2 % im Jahr 2012 zurückging, verlangsamte sich das Wachstum in Russland im gleichen Jahr lediglich auf immer noch ansehnliche 3,5 %. In den letzten Monaten hat sich das Wirtschaftswachstum in Russland jedoch beträchtlich verlangsamt. Bei einem aufs Jahr hochgerechneten Wachstum von nur 1,6 % im ersten Quartal dieses Jahres nehmen die Befürchtungen zu, dass sich Russland mitten in einer ernsten und möglicherweise anhaltenden Flaute befinden könnte. Die Prognosen für das Wirtschaftswachstum 2013 wurden nach unten korrigiert: Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung der Russischen Föderation hat seine Wachstumsprognose für 2013 von 3,6 auf 2,4 % reduziert. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat seine Vorhersage von 3,4 auf 2,5 % revidiert. Die stärkste Korrektur erfolgte bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), die ihre Prognose sogar von 3,5 auf 1,8 % senkte.

…aber warum?



Die Gründe für diesen Rückgang des Wirtschaftswachstums sind nicht leicht festzumachen. Das Spektrum der Erklärungen reicht von externen Faktoren, die außerhalb der Kontrolle russischer Politik liegen bis zur zögerlichen Reformpolitik der russischen Regierung, die nun den Preis für das Versäumnis zahle, im vergangenen Jahrzehnt den überaus notwendigen Strukturwandel nicht ausreichend gefördert zu haben. Betrachtet man die externen Faktoren, so ist klar, dass Russlands größter Handelspartner, die EU, in einem Zustand wirtschaftlicher Stagnation dahindämmert und damit kämpft, seine Haushalts- und Bankenkrise zu bewältigen. Der Europäischen Kommission zufolge sank das durchschnittliche Wachstum in der EU von kraftlosen 1,5 % im Jahr 2011 auf den Rezessionswert von –0,3 % im Jahr 2012. Es sollte also nicht überraschen, dass Russland hier einige der negativen Folgen zu spüren bekam. In welchem Maße jedoch die Schwierigkeiten in der EU für den Rückgang des russischen Wirtschaftswachstums verantwortlich gemacht werden, hängt von der jeweils zitierten Prognose ab. Die geänderten Wachstumsprognosen des IWF für Russland legen nahe, dass gemeinsame Ursachen – etwa die Schwäche der Eurozone – hinter einem allgemeineren Abschwung stecken könnten. Der russische Wachstumsrückgang stimmt dem IWF zufolge mit dem vieler Nachbarstaaten Russlands überein. Die Korrektur hingegen, die die EBRD nach unten vornahm, fällt für Russland sehr viel deutlicher aus als für dessen Nachbarn; das könnte bedeuten, dass eher innere Probleme die Folgen eines externen Abschwungs verstärken. Wenn die EBRD mit ihrer Vorhersage Recht hat, dass der Abschwung in Russland heftiger als in den Nachbarstaaten ausfällt, ragen eine Reihe von Faktoren heraus. Erstens leiden die russischen Wachstumsstatistiken unter dem »Basis-Effekt«, da im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2012 die öffentlichen Ausgaben ausgeweitet wurden, was sich positiv auf das letztjährige Wirtschaftswachstum auswirkte. Im Jahresvergleich ist daher das Ausmaß des Abschwungs in Russland überhöht. Zweitens ist die Zahl der einheimischen Arbeitskräfte seit 2010 zurückgegangen. Beschäftigung und Kapazitätsauslastung bleiben auf Rekordhöhen, aber Engpässe auf der Angebotsseite werden offensichtlicher. Drittens steigen die Einnahmen aus der Förderung und dem Export von Energieträgern nun weit weniger, auch wenn sie auf historischem Höchststand sind, da die weltweiten Preise für Öl und andere Rohstoffe weniger stark gestiegen oder gar gesunken sind. Die Menge der geförderten Energieträger ist ebenfalls auf einem postsowjetischen Hoch. Das schließt in näherer Zukunft das Potential für einen plötzlichen Anstieg des Wirtschaftswachstums aus. Viertens ist die rapide Zunahme der Verbraucherkredite, die zusammen mit dem Anstieg der realen Einkommen in den vergangenen Jahren beträchtliche Konsumausgaben gestützt hatten, bescheidener geworden. Fünftens wird das Geschäftsklima in Russland – das in einem Maße berüchtigt ist, das es bisweilen gar nicht verdient – von vielen Investoren immer noch als ein gravierendes Hindernis für wirtschaftliche Betätigung betrachtet. Die Investitionstätigkeit ist, der russischen Zentralbank zu Folge, in den letzten zwölf Monaten sogar zurückgegangen. Da die Investitionen mit 20 % vom BIP bereits jetzt nur einen relativ geringen Teil des BIP ausmachen, ist diese Entwicklung womöglich diejenige, die am meisten beunruhigt. Zum Vergleich: In China liegt die Quote bei 45 %, in Indien bei rund 30 % und in Brasilien bei ebenfalls 20 %. Ohne einen nachhaltigen Anstieg der Investitionen ist nur schwer zu erkennen, wie die russische Wirtschaft eine andauernde Produktivitätssteigerung erreichen kann. Diese wäre erforderlich, um die industrielle Kapazitätsauslastung zu verringern, um ein höheres Produktionsniveau mit einer kleineren und älteren Bevölkerung zu erreichen und um der Regierung die Erfüllung der wachsenden Liste ihrer Ausgabenverpflichtungen zu ermöglichen. Wenn die massive und nachhaltige Steigerung von Investitionen als die wichtigste Aufgabe anzunehmen wäre, denen sich die Politik in Russland gegenübersieht, ergeben sich unmittelbar zwei Fragen. Erstens: Wie schnell sollte die russische Wirtschaft wachsen? Und zweitens: Auf welchem Wege ließe sich diese Wachstumsrate erreichen?

Wie schnell sollte Russlands Wirtschaft wachsen?



Es steht eine Reihe von Methoden zur Verfügung, mit denen sich die angemessene Wachstumsrate für die Wirtschaft in Russland ermitteln ließe. Zum einen könnte man von den grundlegenden Komponenten des russischen BIP ausgehen und untersuchen, welche Wachstumsraten unter den Beschränkungen, die auf der Angebotsseite und in der Politik bestehen, für jede dieser Komponenten erreichbar sind. Angesichts des von der Regierung verkündeten Bestrebens, jedes substantielle Haushaltsdefizit vermeiden zu wollen, und vor dem Hintergrund sowohl der abnehmenden Zahl einheimischer Arbeitskräfte als auch des schmelzenden Handelsüberschusses gibt es nur wenig Raum für ein Wachstumsmodell, das auf öffentlichen Ausgaben, Konsumausgaben oder dem Nettoexport beruht. Folglich müssten Investitionen die Hauptlast der Wachstumsimpulse tragen. Falls nämlich der Konsumanstieg zu bescheiden ausfiele, die öffentlichen Ausgaben nur zurückhaltend (um rund ein Prozent jährlich) anwachsen sollen, und die Handelsbilanz weiterhin schmelzen würde, könnte ein Anstieg der Investitionen von rund zehn Prozent jährlich wohl für die nähere Zukunft einen Zuwachs des BIP von etwa vier Prozent bringen. Ein solches jährliches Wachstum wäre nicht unvernünftig hoch; der Investitionsanstieg ist in jedem Jahr von 2002 bis 2008 größer gewesen. Falls jedoch die Investitionen auch nur annähernd im Bereich der Vorkrisenspitzen von über 20 % zunehmen würden, ließe sich ein Anstieg des BIP in der Nähe von sechs Prozent erwarten. Ein weiterer Weg zur Bestimmung einer für Russland annähernd vernünftigen Wachstumsrate besteht in der Analyse historischer Daten aus länderübergreifenden Studien zu Phasen beschleunigten oder verlangsamten Wachstums. Eine 2013 unternommene Studie von Eichengreen und anderen untersucht die Häufigkeit und die Übereinstimmungen von verlangsamtem Wachstum in schnell wachsenden Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen. Solch ein Abschwung wird als »middle-income trap« bezeichnet. Die Autoren argumentieren, dass sich bei einem durchschnittlichen BIP pro Kopf von rund 16.000 US-Dollar (zu konstanten Preisen von 2005 und bei Kaufkraftparität) der Anstieg des Prokopfeinkommens im Durchschnitt von 5,6 % auf 2,1 % jährlich verlangsamt. Zum Vergleich betrug in Russland das Pro-Kopf-BIP 2011 knapp 15.000 US-Dollar, was nahelegt, dass das Land sich nun an dem Punkt befindet, an dem es in die »middle-income trap« geraten könnte. Die Autoren meinen, dass Abschwünge mit höherer Wahrscheinlichkeit in Ländern auftreten, bei denen der Anteil von High-Tech-Produkten am Export relativ gering ist. Dies trifft auf Russland zu. Sollte also Russland den Pfad eines durchschnittlichen schnell wachsenden Landes mit mittlerem Einkommen, wie wir es aus der Vergangenheit kennen, einschlagen, würde sich das Wachstum wahrscheinlich auf 2–2,5 % jährlich verlangsamen. Sollten aber die Wachstumsraten höher liegen, sagen wir bei vier Prozent, ließe sich der Schluss ziehen, dass Russland sich relativ gut geschlagen hat. Was bedeutet das für Russlands potentielle Wachstumsraten in der nahen Zukunft? Zunächst ist ein Wachstum von rund vier Prozent erreichbar, selbst angesichts der Eckdaten, die sich aus den gegenwärtig im Land bestehenden Beschränkungen auf der Angebots- und der Nachfrageseite ergeben. Das wird jedoch nur so lang möglich sein, wie die Investitionen über längere Zeit um mindestens zehn Prozent steigen. Das Erreichen eines durchschnittlichen Wachstums von rund vier Prozent jährlich – was angesichts der schrumpfenden Bevölkerung des Landes einem noch höheren Pro-Kopf-Wachstums gleichkäme – würde zudem, wenn es ein rundes Jahrzehnt aufrechterhalten werden könnte, eine herausragende Leistung darstellen. Umso mehr, als in der Vergangenheit viele Länder mit einem vergleichbaren Einkommensniveau zu Abschwüngen neigten. Schließlich und angesichts der oben dargelegten Überlagen sind Forderungen nach einem Wachstum von über fünf Prozent wohl eher zu optimistisch. In der Tat liegt es auf Grund der oben skizzierten strukturellen Beschränkungen nahe, dass ein höheres Wachstum nur über eine unvernünftige Kreditausweitung zu erlangen wäre, die womöglich nur durch direkte staatliche Intervention erreicht werden würde. Unter diesen Umständen würden die kurzfristigen Vorteile eines schnelleren Wachstums durch die langfristigen Kosten einer erhöhten Schuldenquote im BIP und die negativen Verzerrungen aufgrund des umfangreichen Fehleinsatzes von Ressourcen wieder wettgemacht.

Regierungsstrategien für Wirtschaftswachstum



Wenn nun ein Wachstum von vier Prozent als wünschenswertes Ziel angenommen wird, welche Reformoptionen stehen der Politik zur Verfügung? Im Folgenden soll die Rolle einiger markanter Regierungsstrategien zur wirtschaftlichen Entwicklung beleuchtet werden, die in den letzten Jahren entwickelt wurden. Im Herbst 2008, gerade, als die weltweite Wirtschaftskrise in ihre turbulenteste Phase trat, wurde die vom Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung formulierte Konzeption für die langfristige soziale und wirtschaftliche Entwicklung Russlands bis 2020 durch die Regierung verabschiedet. Ziel der Konzeption war es, eine Strategie vorzulegen, die Russland bis 2020 zu einem der weltweit führenden Länder machen sollte. Die Autoren der Konzeption skizzierten drei Szenarien für das Wirtschaftswachstum: Das erste beruhte auf einer stärkeren Rolle der Energie- und Rohstoffexporte, das zweite ging von »Trägheit«, also der schlichten Beibehaltung des gegenwärtigen Kurses aus, und das dritte basierte auf der Annahme einer innovationsgeleiteten Entwicklung. Letzteres zeigte auf was nötig wäre, um die Struktur der russischen Wirtschaft von Grund auf zu verändern. Die Abhängigkeit von Energie- und Rohstoffexporten sollte zugunsten einer Produktion von innovativen, wissensbasierten Gütern und Dienstleistungen überwunden werden. Solch eine Transformation würde, so hofften die Autoren, Russland für viele Jahre zu einem führenden wirtschaftlichen und geopolitischen Akteur machen. Zur Erreichung dieses Ziels formulierte die Konzeption, dass die jährliche Wachstumsrate zwischen 2008 und 2020 6,5 % betragen müsse (mit einem stärkeren Wachstum zu Beginn und bescheideneren Werten in den Jahren vor 2020). Das Szenario sah für folgende Bereiche einen erhöhten Anteil am BIP vor: Bildung (von 4,9 % im Jahr 2007 auf 6,5–7 %), Gesundheit (auf 6,7–7 % von 4,2 % im Jahr 2007) und Forschung und Entwicklung (auf 3 % von 1 % im Jahr 2007). Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise stoppte die Formulierung und Umsetzung der Programme, die zur Unterstützung der Ziele der 2020-Konzeption avisiert wurden, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Stattdessen ging die russische Regierung dazu über, die Wirtschaft »ad-hoc« zu steuern. Sie reagierte eher auf die von Tag zu Tag neu entstehenden Probleme, als einem Plan oder einer Strategie zu folgen. Erst als sich 2010 und 2011 wieder respektable Wachstumsraten einstellten, wurde die Formulierung einer aktualisierten Strategie für Russlands langfristige Wirtschaftsentwicklung wieder aufgenommen, nun unter der Führung von Wladimir Putin in seiner Funktion als Ministerpräsident. Dieses Mal wurde die Strategie von einer Expertengruppe unter der Führung von Wladimir Mau, des Rektors der Russischen Akademie für die Volkswirtschaft und den Staatsdienst (RANCh i GS), und Jaroslaw Kusminow, des Rektors der Moskauer Higher School of Economics, ausgearbeitet. Im März 2012 wurde die Endversion dessen, was als »Strategie 2020« bekannt wurde, veröffentlicht. Wie bei der Konzeption von 2008 wurden hier drei Entwicklungsszenarien entworfen, mit dem klaren Hinweis, dass das Innovations-Szenario als Handlungslinie vorzuziehen war, wenn Russland einen neuen Pfad wirtschaftlicher Entwicklung beschreiten wollte. In dieser Strategie wurde ein Wirtschaftswachstum von nicht weniger als fünf Prozent als notwendig betrachtet, wenn Russland ein neues Niveau menschlicher Entwicklung und den Aufbau einer postindustriellen Wirtschaft erreichen wollte. Wie auch in der Konzeption von 2008 formuliert, erfordere die Konzentration auf einen neuen wissensbasierten Entwicklungspfad eine Erhöhung der Ausgaben für Bildung, Infrastruktur sowie Forschung und Entwicklung auf jeweils vier Prozent des BIP; im Gegenzug wäre eine Ausgabenkürzung für Verteidigung, öffentliche Ordnung und Sicherheit auf nur zwei Prozent des BIP nötig. Diese Haushalts-»Operation« wurde mit »+4–2« betitelt. Die Strategie betont auch eine Rückkehr zur Haushaltsdisziplin, indem sie neue Haushaltsregeln zur Ausgabenbegrenzung vorschlägt, mit denen die jährlichen Ausgaben durch das Ziel begrenzt werden sollen, den Haushalt bei einem »Basisniveau« des weltweiten Ölpreises auszugleichen. Die Autoren des Berichts führen allerdings zwei neue Ansätze der Haushaltspolitik ein. Der erste strebt ausgeglichene Haushalte an, während der zweite moderate Haushaltsdefizite von bis zu einem Prozent des BIP erlaubt, damit die Regierung ausgewählte Projekte finanzieren kann. Unter dem letzteren Ansatz würde in Russland ein Anstieg der öffentlichen Verschuldung von bis zu 25 % des BIP erlaubt sein. Bald nach der Veröffentlichung der »Strategie 2020« legte das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung einen Prognoseentwurf für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung bis 2030 auf den Tisch. Die »Prognose 2030« stellt den nächsten Schritt in der Evolution der ursprünglichen Konzeption von 2008 dar; die Parameter wurden angepasst, um den Wirtschaftszielen zu entsprechen, die Wladimir Putin vor seiner Inauguration im Mai 2012 umschrieben hatte.

Hindernisse für eine wirkungsvolle Umsetzung der »Strategie 2020«



Die politischen Optionen, die in der »Strategie 2020« vorgelegt werden, sind zum größten Teil durchweg vernünftig, zumindest aus konventioneller liberaler Wirtschaftsperspektive. Es wäre vorstellbar, dass ein politisches Programm, das auf den in der Strategie enthaltenen Kerninitiativen basiert, für einen Anstieg der Investitionen auf über jene zehn Prozent jährlich sorgen könnte, die für ein Wachstum von vier Prozent und mehr benötigt würden; doch sicher wäre es nicht: Eine strukturelle Wirtschaftsreform, wie sie in der Strategie vorgesehen ist, führt nicht immer zu einem sofortigen Wachstum. Was ein solches Programm braucht, damit es die erwünschten Ergebnisse liefert, ist politische Glaubwürdigkeit. Wenn glaubwürdige Reformbestrebungen bei den führenden politischen Akteuren Russlands fehlen, ist eine zunehmende politische Ungewissheit als Resultat wahrscheinlicher als ein Anstieg der Investitionen oder ein Wirtschaftswachstum. Es ist der politische Bereich, in dem die Strategie ihre Grenzen offenbart. Die Autoren des Berichts haben es vermieden, jedwede Rolle zu berücksichtigen, die politische Reformen bei der Stützung jeder wirtschaftlichen Transformation spielen. So wäre eine beträchtliche Änderung in der politischen Machtbilanz erforderlich, um beispielsweise die Operation »+4–2« durchzuführen. In den letzten Jahren haben die Erhöhung der Militärausgaben, und insbesondere die Entschlossenheit, das staatliche Rüstungsprogramm (GPW) bis 2020 umzusetzen, einen zentralen Bestandteil der Regierungspolitik dargestellt; diese Politik verfügt über mächtige Anhänger. Eine Abkehr von dieser Politik zugunsten von Bildung und Infrastruktur wäre in der Tat für jeden Führer in Russland schwer durchsetzbar. Jüngste Äußerungen aus der Verteidigungsindustrie und aus Teilen der Regierung verwiesen darauf, dass erhöhte Militärausgaben durchaus als Lokomotive für eine wirtschaftliche Modernisierung betrachtet werden. So kann die in der Strategie formulierte Wirtschaftspolitik als nur eine der möglichen Richtungen betrachtet werden, die innerhalb der herrschenden Elite Russlands angestrebt werden. Die Linien, die sowohl in der Konzeption von 2008 als auch in der »Strategie 2020« formuliert werden, entsprechen wohl der Politik, die das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung bevorzugt. Die fiskalpolitisch orthodoxeren Szenarien stehen dem Denken im Finanzministerium näher. Die anderen mächtigen Ministerien, Lobbygruppen und Personen – etwa das Verteidigungsministerium und der Energie-Komplex – haben jedoch andere politische Vorstellungen als die in der Strategie dargelegten. Im heutigen Russland sind es aber gerade diese Interessen, die über den größeren politischen Einfluss verfügen.

Aussichten für das Wirtschaftswachstum im Jahr 2013



Die kurzfristigen Aussichten auf Wirtschaftswachstum in Russland werden damit wohl eher von der Wechselhaftigkeit der Weltwirtschaft bestimmt werden als von einer neuen Runde der Wirtschaftsreformen in Russland, insbesondere jetzt, wo das Land Mitglied der WTO geworden ist und noch in stärkerem Ausmaß von außen beeinflusst wird. Während die kürzlich entworfene »Strategie 2020« (wie auch andere Strategiepapiere, z. B. die »Prognose 2030«) ein sinnvolles Paket von Politikvorschlägen bietet, wird die Ansammlung mächtiger politischer Kräfte, die gegen diese Empfehlungen opponieren wohl dazu führen, dass die Vorschläge nur einen bescheidenen Einfluss auf die russische Wirtschaftspolitik haben werden. Hinzu kommt ein weiterer Umstand: Wenn die Reaktion der russischen Regierung auf die jüngste Rezession von 2008/09 etwas über das Krisenmanagement in Russland ausgesagt hat, dann, dass bei einer zukünftigen Rezession wahrscheinlich eher eine »ad-hoc«-Steuerung als eine langfristige Strategie in der Wirtschaftspolitik dominieren dürfte. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Russland wohl kaum von seinen wohlhabenderen europäischen Nachbarn.

Übersetzung: Hartmut Schröder

Lesetipps

  • Eichengreen, B., D. Park, K. Shin: Growth Slowdowns Redux: New Evidence On The Middle-Income Trap (=NBER Working Paper Nr. 18673), Cambridge, MA: National Bureau of Economic Research, Januar 2013; http://www.nber.org/papers/w18673

    • Cooper, Julian: Reviewing Russian Strategic Planning: The Emergence of Strategy 2020 (=NATO Defense College Research Review), Rome: NATO Defense College, Juni 2012; http://www.ndc.nato.int/download/downloads.php?icode=338

    Fussnoten

    Richard Connolly Ist Dozent für Politökonomie am Centre for Russian and East European Studies (CREES) der Universität Birmingham. Sein Forschungsgebiet ist die politische und wirtschaftliche Entwicklung Russlands. Vor kurzem wurde seine Arbeit »Economic Sources of Social Order Development in Post-Socialist Eastern Europe« veröffentlicht (Oxford (UK), New York (NY): Routledge, 2013).