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Notizen aus Moskau: Russland und die Ukraine | Russland-Analysen | bpb.de

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Notizen aus Moskau: Russland und die Ukraine

Jens Siegert

/ 7 Minuten zu lesen

Im Grunde ist es, trotz einer wahren Flut von Texten und Analysen, noch viel zu früh, darüber zu schreiben, was die dramatischen und tragischen Ereignisse der vergangenen Woche in der Ukraine für Russland, die russische Außenpolitik, das russische Verhältnis zum Westen und die Entwicklung in Russland bedeuten.

Pro-russische Soldaten okkupieren eine ukrainische Infanteriebasis in Perevalne. (© picture-alliance/AP)

Deshalb fange ich diese Notizen mit zwei vermeintlich banalen, dafür aber "ewigen" Sätzen an: 1. Die Ukraine ist nicht Russland. 2. Russland ist nicht die Ukraine. Putin hat diese Runde erneut verloren, weil er (nicht zum ersten Mal) den ersten Satz missachtet hat. Seine Gegner in Russland und Politiker im Westen täten gut daran, den zweiten Satz zu beherzigen.

Erst zum ersten, dann zum zweiten. Was ist passiert? Der Kreml scheint sich mal wieder in der eigenen Propaganda (die Ukraine betreffend) verfangen zu haben. Das geschah vielleicht gerade deshalb, weil sie aus seiner und der Sicht vieler Menschen in Russland eben nur teilweise Propaganda ist. Anders ausgedrückt: Die Behauptung, hinter dem ukrainischen Volksaufstand gegen ein korruptes und inkompetentes Regime stünden "eigentlich" drei ganz andere Motive (1. eine aus dem Westen gesteuerte und finanzierte antirussische Kampagne; 2. ein Wiederaufleben "des Faschismus" in Europa; 3. der Versuch einer Minderheit in der Ukraine, der Mehrheit unrechtmäßig und illegitim ihren Willen aufzuzwängen), wird in weiten Teilen der russischen politischen Elite und der Bevölkerung für wahr gehalten. Propaganda und (Vor-)Urteile verstärken (oder ergänzen?) sich, fast wie in einem Teufelskreis, so gegenseitig.

Was hat das nun mit meiner Behauptung zu tun, die Ukraine sei nicht Russland? Die vorherrschende Vorstellung ist in Russland bis heute, die Ukraine (und damit die Ukrainer und die ukrainische Politik) sei nichts anderes als ein etwas seltsames, etwas provinzielles Abbild Russlands. (Warum und wie das nicht so ist, darüber ist viel geschrieben worden, auch von mir: http://russland.boellblog.org/2013/12/05/warum-ist-die-ukraine-anders-als-russland-fragt-sich-die-russische-opposition/). Diese sehr tief sitzende Überzeugung führt immer wieder zu der Fehleinschätzung, die in Russland durchaus erfolgreich zum Machterhalt eingesetzten Mittel, also im wesentlichen eine Mischung aus Propaganda, materiellen Wohltaten und Gewalt (oder Gewaltandrohung), reichten auch in der Ukraine aus. Obwohl diese Überzeugung in den vergangenen 25 Jahren immer und immer wieder durch die politischen Ereignisse in der Ukraine widerlegt wurde, hält sie sich hartnäckig. Das ist erklärungsbedürftig.

Eine wichtige Rolle spielt, dass in Russland immer wieder völlig unterschätzt wird welche Kraft die ukrainische Unabhängigkeitserzählung nicht nur im Westen des Landes, sondern auch und vor allem im Zentrum und selbst im Osten des Landes hat. Wahrscheinlich ist "unterschätzt" nicht einmal das richtige Wort. Die Unabhängigkeitserzählung wird einfach als politische Realität negiert. Um sie zu verstehen, wäre zum einen zuerst ein kritischer Blick auf die eigene, imperiale Vergangenheit nötig. Doch das geschieht nicht einmal in Ansätzen. Der koloniale Charakter des russischen (und später des sowjetischen) Imperiums ist ein großes Tabu in der russischen Geschichtsdiskussion. Mehr noch. Es ist konstitutiver Bestandteil des von Putin seit vielen Jahren propagierten Geschichtsbilds, das 20. Jahrhundert (also grob gesagt: das Jahrhundert der Sowjetunion) als eine Kette von Siegen zu sehen. In diesem Bild hat die Unabhängigkeit der Ukraine nur noch Platz als Teil der "geopolitischen Katastrophe", die die Auflösung der Sowjetunion nicht nur für Putin darstellt. Zum anderen müsste man die Ukrainer als eigenständiges Volk ansehen, das damit einen Anspruch auf einen eigenen Staat hat. Das mag im Kopf noch einer nennenswerten Anzahl von Menschen in Russland gelingen, wenn auch bei weitem keiner Mehrheit. Im Herzen wird das schwierig.

Vor diesem Hintergrund muss die tiefe Genugtuung in Russland über "den Sieg über die EU" im vergangenen November gesehen werden, als Janukowytsch mit Sanktionsandrohungen und Kreditversprechen dazu bewegt wurde, nicht das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Zudem wurde dieser Erfolg (nicht nur in Russland) als krönender Abschluss einer Art außenpolitischen Wiederauferstehung Russlands 2013 unter Putin als eigenständige Macht im Konzert der ganz Großen wahrgenommen (Syrien, Iran, Snowden).

Entsprechend groß ist bisher die Verwirrung und das Erstaunen im Kreml, wie es in der Ukraine nun doch noch so schief gehen konnte. Eine neue strategische Ausrichtung ist, kaum verwunderlich, noch nicht zu erkennen. Vorsichtshalber werden aber drei Linien (weiter) verfolgt.

  • Janukowytsch wurde inzwischen als "zu weich" fallen gelassen, weil er sich letztlich nicht zu einem "harten Durchgreifen" hat entschließen können (Ministerpräsident Medwedjew hatte ihn vorigen Donnerstag noch öffentlich unmissverständlich aufgefordert, "keinen Fußabtreter" aus sich machen zu lassen). Die brutale Gewalt und die vielen Toten im Kiewer Stadtzentrum werden auf allen Kanälen weiter der (nun vormaligen) Opposition zugerechnet.


  • Sowohl in Erklärungen russischer Politiker als auch in den Medien wird in diesen Tagen immer und immer wieder eine ernste Gefahr für Leib, Leben und Seele ethnischer Russen in der Ukraine beschworen. Als Beleg dafür gilt die angebliche Dominanz radikaler ukrainischer Nationalisten bei den neuen Machthabern (vor allem des "Rechten Sektors") und die schnell beschlossene Änderung des ukrainischen Sprachengesetzes, das bisher Russisch in allen Regionen mit mehr als 10-prozentigem Anteil ethnisch-russischer Bevölkerung zur zweiten Amtssprache gemacht hatte. Im russischen Parlament wurde am Montag ein Gesetz eingebracht, demzufolge ethnisch russische ukrainische Staatsbürger künftig ohne Probleme russische Pässe erhalten können. Das würde ein Szenarium wie in Abchasien und Südossetien möglicher machen. Dort wurde die russische militärische Intervention im Sommer 2008 vor allem mit dem "Schutz" russischer Staatsbürger begründet.


  • So weit und so lange wie möglich wird die Legitimität der neuen ukrainischen Regierung in Frage gestellt (werden). Obwohl wohl niemand in Moskau mehr ernsthaft an eine Rückkehr von Janukowytsch und seinen Leuten an die Macht in Kiew glaubt.



Das alles dient vor allem dazu, Russland im Spiel zu halten, ohne jetzt schon Festlegungen treffen zu müssen, die man später eventuell revidieren oder gar bereuen muss. Außerdem soll möglichst großer Druck auf diejenigen ausgeübt werden, die in Kiew gerade eine neue Regierung bilden. Vielleicht, so dürfte das Moskauer Kalkül sein, lässt sich so noch ein gewisser, wenn auch vermittelter Einfluss auf die Ereignisse dort nehmen.

Nun zum Inneren, zu meiner zweiten Behauptung, dass Russland nicht die Ukraine sei. Ich fürchte, man sollte sich über die innenpolitische Entwicklung in Russland in den kommenden Wochen und Monaten keinerlei Illusionen machen. Das zeigt allein die Erfahrung. Es hat sich in all den inzwischen fast 15 Putin-Jahren in einer Krise noch nie etwas zum Guten, zum Demokratischeren oder Humaneren gewendet. Und ich sehe keinen Grund, warum das diesmal anders sein sollte. Im Gegenteil.

Zwar gibt es gegenwärtig keine (damals ziemlich unbegründete) "orange Panik" wie zum Jahreswechsel 2005/2006 und auch keine Angst vor der russischen Opposition wie vor zwei Jahren im Protestwinter 2011/2012. Aber die Macht will trotzdem vorsichtshalber gesichert sein. Dabei geht es weniger um ein "Überschwappen" der ukrainischer Entwicklungen nach Russland (siehe meine zweite Behauptung) als vielmehr um hausgemachte Probleme, vor denen die russische Regierung steht. Die Ereignisse in der Ukraine dürften da weit mehr Vorwand, vielleicht auch ein wenig Anlass sein als Grund.

Die größten Sorgen dürfte sich die russische Regierung um die Entwicklung der Wirtschaft machen. Seit Beginn der Krise 2008/2009 hat sie sich nicht wirklich erholt und auch die Aussichten für die kommenden Jahre sind mau (Thomas Remington hat die wichtigsten Herausforderungen unlängst in der Washington Post übersichtlich zusammen gefasst: http://www.was hingtonpost.com/blogs/monkey-cage/wp/2014/02/13/10-explanations-for-russias-coming-fiscal-squeeze/).

Über die trüben Aussichten gibt es unter russischen Wirtschaftsexperten kaum Dissens. Wohl aber darüber, wie lange die in den fetten Jahren von 2000 bis 2008 angehäuften Reserven reichen, um das politische Überleben des gegenwärtigen Regimes zu sichern. Die Prognosen reichen von zwei, drei Jahren bis weit in eine (mögliche) nächste Amtsperiode von Präsident Putin nach 2018. Wirklich verlassen sollte man sich auf diese Vorhersagen also nicht. Folglich ist Vorsorge angesagt. Und das macht der Kreml.

Die Schrauben werden einfach weiter angezogen. Das zeigen schon die beiden Kampagnen gegen den Internet- und Kabelfernsehsender "Doschd" seit Mitte Januar und gegen den Radiosender Echo Moskaus in den vergangenen Wochen. Doschd hat fast alle Zugänge zum Kabelnetz verloren und steht womöglich vor dem wirtschaftlichen Aus. Echo Moskaus hat sich trotz des Mehrheitsaktionärs Gazprom-Media bisher eine weitgehende journalistische Unabhängigkeit bewahren können (auch wenn zugegebenermaßen immer wieder mal auch fragwürdige Kompromisse eingegangen wurden). Die Schließung der beiden Sender oder ihre Kontrolle durch den Kreml würde die Möglichkeiten einigermaßen freier öffentlicher Diskussionen mit einigermaßen großer Reichweite erheblich einschränken. Das Internet hat zwar an Bedeutung zugenommen, könnte diesen Verlust aber nur sehr schwer (und vor allem nicht schnell) kompensieren.

Einen Hinweis, welche weiteren Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten es geben wird, dürften die Festnahmen rund um die Urteilverkündung im sogenannten Bolotnaja-Prozess am Montag dieser Woche gegeben haben. An nur einem Tag wurden mehr als 640 Menschen wegen angeblicher Teilnahme an unerlaubten Demonstrationen festgenommen. Vormittags vor dem Gericht, in dem acht Teilnehmer an der Demonstration gegen Putin am 6. Mai 2012, dem Tag vor seiner Amtseinführung, zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden (die Strafe einer Angeklagten wurde zur Bewährung ausgesetzt), waren es gut 230. Abends, auf dem Manegenplatz unweit des Kremls, dann noch einmal gut 400. Einige traf es gleich zweimal, morgens und abends. Schon am Dienstag wurden zahlreiche der Festgenommenen zu sieben- bis zehntägigen Arreststrafen verurteilt, angeblich weil sie sich ihren Festnahmen widersetzten. Gerade weil zahlreiche Videos im Internet das Gegenteil beweisen, zeigen diese Verurteilungen, worum es geht. Der Staat macht deutlich, dass er die Macht hat, das Recht jederzeit so zu beugen, wie es ihm gefällt, und das niemand sicher ist.

Kurz gesagt lautet die Botschaft: Widerstand ist zwecklos. Ein wenig allgemeiner formuliert könnte die Botschaft des Bolotnaja-Prozesses und der Festnahmen danach an die großstädtische, Putin gegenüber kritisch eingestellte Mittelschicht auch lauten: Wir brauchen Euch nicht. Haltet still oder haut ab.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog Externer Link: http://russland.boellblog.org/.

Fussnoten