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Analyse: Die Ukraine aus Sicht der "Russkij Mir" | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Ukraine aus Sicht der "Russkij Mir"

Wilfried Jilge

/ 11 Minuten zu lesen

Die Annexion der Krim im Zuge der Ukraine-Krise lagen nicht nur situative innen- und außenpolitische Ursachen zu Grunde, sondern auch eine längerfristige Motivation, ideologische und geopolitische Konzepte umzusetzen, die sich in dem Begriff "Russkij Mir" zusammenfassen lassen. Wenngleich der Kreml versucht den Einfluss der "russischen Welt" in der Ukraine zu vergrößern, zeigen Forschungen, dass sich die Ukraine dieser Weltanschauung entzieht.

Der Kreml ist in der "russischen Welt" der Mittelpunkt. (© picture-alliance, ZP)

Die "russische Welt"



Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland war eine Reaktion der russischen Führung auf den Machtwechsel in Kiew, den der Kreml – ebenso wie die Europäische Union – nicht voraussehen konnte. Der Annexion lagen unterschiedliche situative, außen- und innenpolitische Motive zugrunde, die hier nicht im Einzelnen darstellbar sind. Die Politik Russlands gegenüber der Ukraine ist darüber hinaus auch im Kontext von politischen Konzepten zu sehen, die unter dem Begriff "Russkij Mir" ("Russische Welt") bereits in den letzten Jahren entwickelt und bezüglich der Ukraine seit 2010 – nicht zuletzt mit Unterstützung prorussischer und panslawischer Ideologen der ukrainischen Partei der Regionen (PdR) – verstärkt propagiert wurden. "Russkij Mir" ist zunächst der Name einer von Staatpräsident Putin im Jahre 2007 per Erlass gegründeten Stiftung, die die russische Sprache und Kultur im Ausland, insbesondere in postsowjetischen Staaten fördern und popularisieren soll. In der gleichnamigen geopolitischen Konzeption wird die Ukraine (häufig ohne das ‚nationalistische‘ Galizien) ideologisch als ein Kernbestandteil einer von Russland geführten "Russischen Welt" und damit eines orthodox-ostslawischen, der EU entgegengestellten Orbits vorgestellt. Insofern dient das Konzept der "Russkij Mir" auch der geschichtspolitischen und ideologischen Begründung, dass die Ukraine Bestandteil der angestrebten "Eurasischen Union" sein müsse. Insgesamt handelt es sich bei der Konzeption der Russkij Mir um ein Konglomerat verschiedener Strömungen des antiwestlichen, antiliberalen und neoimperialen russischen Nationalismus. Grundlagen dieser von Moskau geführten Russkij Mir sind u. a. die "Heilige Rus" und die mit ihr verbundene ethno-kulturelle Gemeinschaft der ostslawischen Völker der Russen, Ukrainer und Belorussen, die Russische Orthodoxe Kirche und die aus ihr abgeleitete stark antiliberal eingefärbte ostslawische Geistigkeit, russische Sprachkultur und nicht zuletzt der nicht hinterfragte sowjetische Mythos vom gemeinsamen "Sieg über den Faschismus" im "Großen Vaterländischen Krieg". Letzterer bildet in der russischen Propaganda bei der Beleuchtung der Ereignisse in Kiew und der vermeintlich dort herrschenden faschistischen Gruppen eine zentrale geschichtspolitische Projektionsfläche. Dieses Konzept der Russkij Mir stößt in der Ukraine zwar nicht überall auf Zustimmung; in modifizierter Form diente es aber der PdR zwischen 2010 und 2012 als Agitationsinstrument zur Mobilisierung prorussischer, teilweise ukrainophober Wählerschichten im äußersten Osten und Teilen des Südens der Ukraine. Diese Gruppen, die eine Vereinigung der Ostukraine mit Russland bevorzugen, bilden zwar auch im Osten keine Mehrheit, können aber beispielsweise im Donbass noch bis zu 25–35 % ausmachen. Sie sind insbesondere mit Hilfe radikaler russischer, zum Teil gewaltbereiter Kräfte, die in den letzten Monaten zahlreich aus Russland in die Gebiete im Osten und Süden drangen, für antiukrainische Demonstrationen und Aktionen zur Destabilisierung der öffentlichen Ordnung in den östlichen Regionen mobilisiert worden.

Der Neurussland-Diskurs



Aus der Sicht der Ideologen und Politiker, die die Russkij Mir propagieren, sind die Ukrainer insbesondere in dem als einheitlich prorussisch vorgestellten "Südosten" (mit den östlichen Gebieten Doneck und Luhansk, den südöstlichen Gebieten Dnipropetrowsk und Saporishshja sowie den südlichen Gebieten Mykolajiw, Odessa und Cherson und der Halbinsel Krim), bisweilen aber auch in der Zentralukraine Teil jener "Landsleute" (sootetschestwenniki) im "nahen Ausland", für die Russland eine Schutzfunktion beansprucht. Der Begriff "Landsleute" wird dabei gesetzlich weit definiert: Es kann sich um ethnische Russen, Russischsprachige oder solche Personen handeln, die geistig, kulturell und rechtlich mit Russischen Föderation verbunden sind. In Bezug auf Bürgerinnen und Bürger der Ukraine vollzieht Russkij Mir daher eine autoritäre Identitätsbehauptung, die große Teile der Ukrainer auf die Zugehörigkeit zu einer ostslawischen Gemeinschaft festlegt, die sich außenpolitisch und außenwirtschaftlich 'natürlicherweise' an Russland orientiert. Russische Ideologen, wie z. B. der Politologe Jewgenij Morosow haben diese Sichtweise bereits seit den 1990er Jahren durch geo- und geschichtspolitisch motivierte Raumkonstruktionen, die die modernen ukrainischen Nationsbildungsprozesse in diesen Gebieten nahezu oder gänzlich ignorieren, unter dem Begriff "Neurussland" ("Noworossija") zu legitimieren versucht. Neurussland ist eine historische russische Bezeichnung für die Steppengebiete nördlich des Schwarzen und Asowschen Meeres, die in der Mitte bzw. am Ende des 18. Jahrhunderts dem Russischen Reich einverleibt wurden. Bei Morosows "Theorie Neurusslands", die in den letzten Jahren auch von prorussischen Föderalisten in der Ukraine (z. B. auf der Krim) positiv rezipiert wurde, handelt es sich um einen "weitläufigen Raum" zwischen dem Nordkaukasus und Transnistrien, der als integraler Bestandteil der "russischen Zivilisation" gilt. Die dort lebenden Neurussen hätten unbeirrbar die kulturelle und ökonomische Einheit dieses Raumes verteidigt und seien heute in der Lage, eine führende bzw. erneuernde Rolle für die "Russkij Mir" zu spielen. An solche weitgespannten Neurussland-Diskurse kann die heutige Kreml-Führung flexibel anknüpfen, um ihre Ziele gegenüber der Ukraine aufgrund der gegenüber den "Landsleuten" im "Südosten" behaupteten Schutzfunktion der Russischen Föderation historisch zu legitimieren, ohne freilich solche Konzepte vollständig umsetzen zu müssen. Nach Recherchen der regierungskritischen Moskauer Zeitung "Nowaja Gaseta" vom 26. Mai 2014 (http://www.novayagazeta.ru/poli tics/63733.html?p=2) sind in der Ukraine bereits seit November 2013 russische Medienagenturen propagandistisch gegen den Kiewer Maidan tätig, hinter denen – teilweise als Financier oder Eigentümer – der kremlnahe und mit Präsident Putin persönlich bekannte Unternehmer Jewgenij Prigoshin steht, und die das "Neurussland-Konzept" in den Informationskrieg gegen die Ukraine einspeisen. Laut "Nowaja Gaseta" starteten PR-Leute Prigoshins im November in Simferopol ein "PROJEKT zur Organisation der Tätigkeit, die auf eine Stärkung des Einflusses der Russischen Föderation auf dem Gebiet der Autonomen Republik Krim, des Süd-Ostens der Ukraine (Neurusslands) sowie der Ukraine insgesamt zielt". Bereits hier wurde also das Wort "Neurussland" in seiner für die Gebiete des Ostens und des Südens der Ukraine relevanten Bedeutung in die Propaganda-Arbeit eingeführt. Der russische Präsident Putin hat bereits in seiner Krim-Rede vom 18. März 2014 den Anschluss der Krim in einen Zusammenhang mit dem weiteren "Bestreben der Russkij Mir und des historischen Russland zur Wiederherstellung der Einheit" gestellt. Dabei drückte er auch sein Unverständnis für die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki aus, die nach der Revolution 1917 "bedeutende Territorien des historischen Südens Russlands", d. h. des "heutigen Süd-Ostens der Ukraine" ohne Berücksichtigung ihrer ethnisch-nationalen Zusammensetzung in den Bestand der Sowjetukraine einbezogen hätten. In einer Pressekonferenz vom 17. April 2014 stellte er klar, dass es sich beim Süd-Osten der Ukraine aus seiner Sicht eigentlich um russische Territorien handelt: "Wenn man noch die zarische Terminologie benutzt, dann möchte ich sagen, dass das nicht Ukraine ist, sondern Neurussland." Damit befeuerte er zugleich Projekte prorussischer Separatisten und Terroristen in der Ukraine, die einen Zusammenschluss der Pseudo-Republiken im Donbass zu einem unabhängigen Staat "Neurussland" anstreben, dem, so das jüngst erklärte Ziel der Separatisten, künftig auch die Gebiete des ukrainischen Südens angehören sollen. Putin spricht damit das politische Hauptziel an, das aus der Russkij Mir abgeleitet wird und zum "patriotischen Konsens" (Gerhard Simon) gehört: die Wiederzusammenführung des ostslawischen Kernbestandteils der einstigen Sowjetunion, deren Verlust von vielen Russen – und nicht zuletzt von Putin selbst – bis heute beklagt wird. In Bezug auf die Ukraine hatte Russland bereits vor der Krim-Krise massive ökonomische Druckmittel eingesetzt; das Bedenkliche ist nun, dass der Kreml glaubt, im Gefühl scheinbar wiedergewonnener Stärke notfalls auch militärische Mittel anwenden zu können, um dieses Ziel Schritt für Schritt zu verwirklichen.

Das Spektrum überwiegend ukrainischer Identitäten



Die tatsächlich zu beobachtenden komplexen Verhältnisse in der Ukraine zwischen sprachlichen Gewohnheiten, politischen Präferenzen wie auch staatlichen und nationalen Zugehörigkeiten werden durch das Konzept von Russkij Mir und Neurussland ausgeblendet und die Existenz eines eigenständigen ukrainischen nationalen Bewusstsein fast oder völlig übergangen. So fördert dieses Konzept die Missachtung der staatlichen Souveränität der Ukraine und dient der Legitimation geopolitischer Ziele im ostslawischen "Bruderstaat". Die in der Ukraine tatsächlich zu beobachtenden Verhältnisse entziehen sich sowohl dem Bild einer "Ost-West-Spaltung" des Landes als auch dem Bild eines einheitlichen "Süd-Ostens" oder "Neurusslands" sowie der aus "Russkij Mir" abgeleiteten Identitätsbehauptung. In einschlägigen Umfragen der letzten Jahre bezeichnet eine überwältigende Mehrheit in fast allen Gebieten des Landes die Ukraine als ihr Vaterland, wobei die Werte für die Krim stets etwas niedriger ausgefallen sind als in den übrigen Regionen. Insgesamt bildet die Ukraine ein Spektrum von sprachlich-kulturellen Identitäten, in dem die fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung beherbergende Zentralukraine nach Osten und Süden hin integrierend wirkt. Vor allem in der Zentralukraine stehen sprachliche Präferenzen einerseits und politische Orientierungen andererseits nicht in einem eindeutigen Verhältnis. So bevorzugen die Zentralukrainer in einzelnen Gebieten mehrheitlich die russische Sprache, identifizieren sich aber stark mit nationalukrainischen Traditionen. Die Erfolge nationaldemokratischer Parteien, die in einzelnen Gebieten im Verlauf der zweiten Amtszeit von Präsident Kutschma (1999–2004) zu beobachten waren, sowie die Bevorzugung der Europäischen Union gegenüber einer von Russland geleiteten Zollunion korreliert hier mit im Zuge der Krise zwar zurückgegangenen , aber immer noch starken Sympathien für das russische Nachbarvolk: Laut einer vom Kiewer Rasumkow-Zentrum zwischen dem 25. und 29. April 2014 durchgeführten repräsentativen Umfrage halten 55,3 % der Zentralukrainer Ukrainer und Russen immer noch für "Brudervölker", 66 % der Zentralukrainer aber sprechen sich für den Beitritt zur EU aus (gegen einen Beitritt: 17,9 %). Ähnliche Veränderungen wie in der Zentralukraine vollziehen sich seit einigen Jahren auch in Teilen der Süd- und Südostukraine. Im südukrainischen Gebiet Cherson errangen die Parteilisten der eher prowestlichen Oppositionsparteien bereits bei den Parlamentswahlen 2012 eine Mehrheit gegenüber der "Partei der Regionen". Dieser Trend hat sich bei den Präsidentenwahlen am 25. Mai offensichtlich bestätigt, selbst wenn man berücksichtigt, dass die Wahlbeteiligung im Süden niedriger als im Westen oder im Zentrum ausgefallen ist: Für Petro Poroschenko stimmten im Gebiet Cherson laut der Zentralen Wahlkommission der Ukraine 48,71 %, für Julia Tymoschenko 11,48 % (Gebiet Mykolajiw: 45,97/ 9,74; Dnipropetrowsk: 44,72/ 9,43; Odessa: 41,78/ 9,74).

Trotz der in der Krise besonders stark hervortretenden politischen Unterschiede zwischen dem äußersten Osten (Donbass) und Teilen des Südens einerseits und dem äußersten Westen (Galizien) andererseits, gibt es im Osten und Süden ungeachtet der von radikalen Kräften aus Russland und örtlichen Separatisten angefachten prorussischen Bewegungen keine Mehrheiten für einen Austritt aus der Ukraine und den Anschluss an einen anderen Staat: In einer vom Kiewer Internationalen Institut für Soziologie (KIIS) vom 29. April bis 11. Mai 2014 durchgeführten Umfrage sprechen sich ukraineweit nur 4,7 % für einen Austritt ihrer Region aus der Ukraine und den Anschluss an einen anderen Staat aus. 53,2 % sind für die Beibehaltung des Status ihrer Region in einem unitären Staat bei erweiterten Vollmachten für die Gebiete, und nur 6,9 % befürworten eine Autonomie der jeweiligen Region innerhalb einer föderalen Ukraine. Auch sind die Einstellungen im Süden und Osten außerhalb des Donbass bemerkenswert: Im Süden möchten 23,4 % in einem unveränderten unitären Staat leben, 58,9 % bevorzugen die Beibehaltung des Status in einem unitären Staat bei erweiterten Vollmachten der Gebiete, nur 7 % unterstützen eine Autonomie der jeweiligen Region in einer föderalen Ukraine und nur 0,5 % sind für den Austritt ihrer Region aus der Ukraine (im Osten mit Charkiw, Zaporishshja, Dnipropetrowsk: 17,8/ 55,2/ 9,5/ 2,1). Nur im Donbass (Gebiete Luhansk und Donezk: 9,3/ 25,7/ 23,5/ 8,4) befürworten deutlich mehr Respondenten eine Autonomie ihrer Region in einer föderalen Ukraine und die Werte für einen Austritt aus der Ukraine sind mit 8,4 % sichtbar höher als im Süden und im übrigen Osten. Gleichwohl unterstützt auch hier eine deutliche Mehrheit den Verbleib der eigenen Region in der Ukraine und die Befürworter einer durchgreifenden Föderalisierung des Landes bilden noch nicht mal hier eine Mehrheit. Allerdings ist aufgrund der im Laufe des Mai beobachtbaren weiteren Verschärfung der gewaltsamen Auseinandersetzungen dieser Befund noch mit Vorsicht zu genießen: Im Donbass ist die schweigende proukrainische Mehrheit nicht gefestigt und in Fragen der staatlichen Loyalität zur Ukraine sind Teile der Bevölkerung indifferenter als im Süden. Fällt in Umfragen beispielsweise die Alternative einer Wahl zugunsten der Autonomie der eigenen Region in einer föderalen Ukraine weg, sprechen sich im Donbass erheblich mehr der Befragten – wenn auch keineswegs die Mehrheit – für eine Vereinigung mit Russland aus (Umfrage von KIIS und der Stiftung "Demokratische Initiativen", 8.2.–18.2.14: Donezk 33 %, Luhansk 24 %). Insgesamt zeigen die Zahlen zur Südukraine und der übrigen Ukraine aber, dass die von Russland immer wieder geforderte durchgreifende Föderalisierung der Ukraine im "Südosten" keineswegs auf ungeteilte und einheitliche Zustimmung stößt. Außerdem sind die die Sympathien für Russland im Süden und Osten nicht so eindeutig, wie es das Neurussland-Konzept impliziert: Aufschlussreich ist die vom KIIS vom 7. bis 9. 3. 2014 durchgeführte Umfrage, wonach 54,5 % der im Osten Befragten die Ermächtigung des russischen Föderationsrates vom 1. 3. 2014 zum Einsatz russischer Streitkräfte in der Ukraine "ausdrücklich" und 13,9 % sie "eher verurteilen" (Süden: 64,6/ 8,7; Ukraine insgesamt: 77,1/ 6,2). Umfragen zur Wahl zwischen einem Beitritt der Ukraine zur EU einerseits und einem Beitritt zur Zollunion andererseits weisen 2014 ukraineweit stabile Mehrheiten zugunsten der EU auf: In der erwähnten Umfrage des Rasumkow-Zentrums äußerten sich ukraineweit 53,4 % für die EU und 33,4 % für die Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan.

EU und Zollunion



Die alternativlose Frage, ob die Ukraine der EU beitreten soll, wird im Westen und im Zentrum des Landes eindeutig bejaht (88,2 % und 66 %), im Süden aber von 54,4 % und im Osten von 59,7 % der Befragten verneint. Doch bedeutet dies im Umkehrschluss nur im Osten, dass hier eine klare relative Mehrheit für die Zollunion ist. Im Süden (Mykolajiw, Odessa, Cherson) fallen die Einstellungen differenzierter aus: Auf die Frage, welche Richtung der Integration die Ukraine einschlagen soll, sprechen sich im Süden 29,4 % für einen Beitritt zur EU und 24,3 % für die Zollunion aus, während 35 % der Befragten weder den Beitritt zur EU noch den zur Zollunion befürworten. Bei der Präferenz für die EU handelt es sich weniger um eine Entscheidung gegen den russischen Nachbarn, als vielmehr um eine Wahl zugunsten einer inneren Modernisierung des Landes auf der Basis von mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, um sich eines korrupten politischen Systems zu entledigen. Für dieses Ziel hat die überwiegende Mehrheit der Menschen auf dem Maidan demonstriert. Die Zollunion dagegen wird in dieser Sicht mit dem autoritären Gesellschaftsmodell Russlands in Verbindung gebracht, das als nicht zukunftsweisend angesehen wird. Die auf den ersten Blick vom Kreml kalt, souverän und zügig durchgeführte Annexion der Krim, mit der eine massive diplomatische Isolierung, Sanktionen und damit für Russland möglicherweise schmerzhafte ökonomische Konsequenzen in Kauf genommen wurden, und auch das aggressive Verhalten gegenüber der Ukraine während der Krise wirken in diesem Licht eher wie Verzweiflungstaten, die Ukraine in der "Russischen Welt" zu halten. Denn sie sind das Ergebnis eines auf Einflusssphären verengten geopolitischen Denkens, das eben jene gesellschaftlichen Entwicklungen übersehen hat, die die tiefere Ursache für die Veränderungen in der Ukraine bilden.

Lesetipps:
Bei dem Beitrag handelt es sich um einen veränderten, ergänzten und aktualisierten Auszug aus einem Aufsatz, der jüngst in einem Sammelband beim Suhrkamp-Verlag erschienen ist:

  • Wilfried Jilge: Was treibt Russland? Zum Hintergrund der Ukraine-Krise. In: Juri Andruchowytsch (Hrsg.): Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht, Berlin: Edition suhrkamp, 2014, S. 183–194.

  • Gasimov, Zaur: Idee und Institution. Russkij Mir zwischen kultureller Mission und Geopolitik. In: Osteuropa 62.2012, Nr. 5, S. 69–80.

Für Wahlergebnisse und ukrainische Umfragen wird auf folgende Websites verwiesen (ukrainisch bzw. russisch):

Fussnoten

Wilfried Jilge ist Osteuropahistoriker und Lehrbeauftragter an der Universität Leipzig. Er lebt zur Zeit in Moskau.