Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Notizen aus Moskau: Liegt Russlands Glück nun in China?
 | Russland-Analysen | bpb.de

Russland-Analysen Propaganda / Nawalnyj (19.02.2024) Analyse: It’s fake! Wie der Kreml durch Desinformationsvorwürfe die Diskreditierung von Informationen in ein Propagandainstrument verwandelt Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Von der Redaktion: dekoder-Special "Propaganda entschlüsseln" Kommentar: Erste Gedanken zum Tod und zum Leben Alexej Nawalnys Statistik: Politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung in Russland Chronik: 23. Januar – 09. Februar 2024 Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen und Übergangsjustiz (16.12.2023) Analyse: Russland vor Gericht bringen: Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen Dokumentation: Die Brüsseler Erklärung Analyse: Optionen der Übergangsjustiz für Russland dekoder: "Das unbestrafte Böse wächst" dekoder: "Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?" Chronik: 01. November – 14. Dezember 2023 Getreidehandel in Kriegszeiten / Wasserwege (06.12.2023) Analyse: Russlands Getreideexporte und Angebotsrisiken während des Krieges gegen die Ukraine Analyse: Russland setzt den Getreidehandel als Waffe gegen die Ukraine ein Analyse: Die strategische Bedeutung des russischen Wolga-Flusssystems Chronik: 23. – 29. Oktober 2023 Hat das Putin-Regime eine Ideologie? (15.11.2023) Von der Redaktion: 20 Jahre Russland-Analysen Analyse: Macht und Angst Die politische Entwicklung in Russland 2009–2023 Kommentar: Russlands neuer Konservatismus und der Krieg Kommentar: Chauvinismus als Grundlage der aggressiven Politik des Putin-Regimes Analyse: Verschwörungstheorien und Russlands Einmarsch in die Ukraine Kommentar: Die konzentrischen Kreise der Repression dekoder: Ist Russland totalitär? Chronik: 03. – 20. Oktober 2023 LGBTQ und Repression (30.09.2023) Analyse: Russlands autoritärer Konservativismus und LGBT+-Rechte Analyse: Russlands Gesetz gegen „Propaganda für Homosexualität“ und die Gewalt gegen LGBTQ-Personen Statistik: Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen und Vertrauen in Polizei und Gerichte unter LGBTQ+-Menschen in Russland Dokumentation: Diskriminierung von und Repressionen gegen LGBTQ+-Menschen in Russland Kommentar: Wie sehr geht es bei der strafrechtlichen Verfolgung von "Rehabilitierung des Nazismus" um politische Repressionen? Von der Redaktion: Ausstellung: "Nein zum Karpfen" Chronik: 31. Juli – 04. August 2023 Chronik: 07. – 27. August 2023 Chronik: 28. August – 11. September 2023 Technologische Souveränität / Atomschlagdebatte (20.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause, на дачу – und eine Ankündigung Analyse: Die Sanktionen machen sich bemerkbar: Trübe Aussichten für die russische Chipindustrie Analyse: Kann Russlands SORM den Sanktionssturm überstehen? Kommentar: Russisches Nuklearroulette? Die Atomschlagdebatte in der russischen Think-Tank-Fachöffentlichkeit Dokumentation: Die russische Debatte über Sergej Karaganows Artikel vom 13. Juni 2023 "Eine schwerwiegende, aber notwendige Entscheidung. Der Einsatz von Atomwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren" Umfragen: Die Einstellung der russischen Bevölkerung zu einem möglichen Einsatz von Atomwaffen Chronik: 13. Juni – 16. Juli 2023 Chronik: 17. – 21. Juli 2023 Wissenschaft in Krisenzeiten / Prigoshins Aufstand (26.06.2023) Kommentar: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – Ein "Virolog:innen-Moment" für die deutsche Osteuropaforschung? Kommentar: Osteuropaforschung im Rampenlicht: ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus Kommentar: Ein Moment der Selbstreflexion für Russlandstudien Kommentar: Wissenschaft im Krieg: Die Verantwortung der Regionalstudien und was daraus folgt Kommentar: Verträgt sich politisches Engagement und Wissenschaft? Zur öffentlichen Position des Fachs Osteuropäische Geschichte dekoder: Mediamasterskaja: Wissenschaftsjournalismus – seine Bedeutung und seine Herausforderungen dekoder: Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das? dekoder: Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse Chronik: 15. Mai – 12. Juni 2023 Deutschland und der Krieg II / Niederlage und Verantwortung (26.05.2023) Kommentar: Ostpolitik Zeitenwende? Deutschland und Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Deutsche Wirtschaft und der Krieg Kommentar: Deutschland, der Krieg und die Zeit Kommentar: Nach einem Jahr Krieg: Deutschland im Spiegel der russischen Medien Kommentar: Der Ukrainekrieg: Kriegsängste, die Akzeptanz von Waffenlieferungen und Autokratieakzeptanz in Deutschland Umfragen: Die Haltung der deutschen Bevölkerung zum Krieg gegen die Ukraine: Waffen, Sanktionen, Diplomatie Statistik: Bilaterale Hilfe für die Ukraine seit Kriegsbeginn: Deutschland im internationalen Vergleich Notizen aus Moskau: Niederlage Chronik: 24. April – 14. Mai 2023 Auswanderung und Diaspora (10.05.2023) Analyse: Politisches und soziales Engagement von Migrant:innen aus Russland im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Ukraine-Krieg: Bislang nur wenig humanitäre Visa für gefährdete Russen Statistik: Asylanträge russischer Bürger:innen in Deutschland Analyse: Emigration von Wissenschaftler:innen aus Russland: Kollektive und individuelle Strategien Dokumentation: Schätzungen zur Anzahl russischer Emigrant:innen nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Chronik: 01. März – 23. April 2023 Sanktionen (27.03.2023) Analyse: Die Wirkung von Krieg und Sanktionen auf Russlands Volkswirtschaft im Jahr 2022 Statistik: Russlands Wirtschaft Analyse: Russische wirtschaftliche Anomalie 2022: Ein Blick aus Unternehmensperspektive Umfragen: Wahrnehmung von Sanktionen durch die russische Bevölkerung Chronik: 01. – 28. Februar 2023 Feminismus / Kriegswahrnehmung / Gekränktes Imperium (13.03.2023) Analyse: Feminist_innen machen in Russland Politik auf eine andere Weise Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Analyse: Nicht Befürworter:innen und nicht Gegner:innen: Wie verändert sich bei der Bevölkerung in Russland mit der Zeit die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine? dekoder: Die imperiale Formel ist: Russland hat keine Grenzen Repression und stiller Protest / Die Botschaft des Präsidenten (06.03.2023) Analyse: "Nein zum Karpfen": Stiller Protest im heutigen Russland Dokumentation: Repressionen wegen Antikriegs-Akten in Russland seit 2022 dekoder: Die Schrecken des Kreml Analyse: Ein langer Krieg und die "Alleinschuld des Westens". Präsident Putins Botschaft an die Föderalversammlung am 23. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Kirchen im Ukrainekrieg (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Eliten (16.02.2023) Analyse: Ansichten der russischen Eliten zu militärischen Interventionen im Ausland Analyse: Zusammengeschweißt und gefesselt durch Illegitimität Ranking: Die politische Elite im Jahr 2022 Meinungsumfragen im Krieg (02.02.2023) Kommentar: Sind Meinungsumfragen im heutigen Russland sinnvoll? Kommentar: Diese vier Fragen sollten Sie sich stellen, bevor Sie Meinungsumfragen darüber lesen, was Russ:innen über den Krieg denken Kommentar: Es gibt noch immer keine öffentliche Meinung – der Krieg in der Ukraine und die Diktatur in Russland lassen uns das besser erkennen Kommentar: Die Meinungsumfragen des Lewada-Zentrums auf der Discuss Data Online-Plattform. Zur Diskussion um die Aussagekraft der Daten Kommentar: Telefonische Umfragen im autoritären Russland: der Ansatz von Nawalnyjs Stiftung für Korruptionsbekämpfung Kommentar: Annäherungen an eine Soziologie des Krieges Kommentar: Methodologische Probleme von russischen Meinungsumfragen zum Krieg Kommentar: Befragungen von Emigrant:innen: Herausforderungen und Möglichkeiten dekoder: "Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen" Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: 01. – 31. Januar 2023

Notizen aus Moskau: Liegt Russlands Glück nun in China?


Moskau Jens Siegert

/ 9 Minuten zu lesen

Westliche Sanktionen haben die russische Wirtschaft hart getroffen. Eine stärkere Kooperation mit China soll die Wende bringen. Doch auch hier funktioniert eine Allianz "auf Augenhöhe" nur, wenn sich Russland modernisiert.

Pressekonferenz auf einem Treffen der BRICS-Staaten in Moskau. (© picture-alliance, Xie Huanchi)

Noch im vergangenen Oktober habe ich auf die Frage in der Überschrift mit einem klaren "Nein" geantwortet: In Wirklichkeit glaubt das natürlich kaum jemand [in Russland, JS]. Im Gegenteil sind viele davon überzeugt, dass China bei erster Gelegenheit [...] die Schwäche Russlands ausnutzen wird (). Nun, nur ein gutes halbes Jahr später, scheint das anders geworden zu sein. Damit meine ich nicht den vorwiegend propagandagetriebenen und (fernseh)öffentlichen Diskurs. In ihm ist China spätestens seit der Krim-Annexion vom März 2014 das gelobte PartnerLand. Seit einiger Zeit wird man aber den Eindruck nicht los, die China Euphorie habe längst auch seriöse Expertenkreise erfasst. Hier nur drei (durchaus prominente) Beispiele. Bereits im März veröffentlichte Fjodor Lukjanow, Chefredakteur der Vierteljahreszeitschrift "Russia in Global Politics", die vom einflussreichen "Rat für Außen und Verteidigungspolitik" herausgegeben wird, in der Tageszeitung Externer Link: Die Welt eine, wie er es nannte, "politische Phantasie", in der er, unter der Überschrift "Wenn Russen und Chinesen gemeinsam marschieren" eine Welt in zehn Jahren beschreibt, in der "Russland und China einen mächtigen Block bilden – eine Alternative zum politischen Modell des Westens, der keinen Weg aus der Krise findet".

Nur kurze Zeit später, Anfang April, veröffentliche Dmitrij Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie Zentrums, einen längeren Text unter dem Titel Externer Link: From Greater Europe to Greater Asia? The SinoRussian Entente. Trenin ist ein wenig vorsichtiger als Lukjanow. Er sage zwar keinen neuen, festen chinesischrussischen Block voraus, schreibt er, wohl aber ein Ende der Versuche, das postsowjetische Russland in den Westen zu integrieren. Russland werde künftig versuchen, seine Verbindungen mit nichtwestlichen Ländern zu vertiefen und zu festigen, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Asien.

Der dritte in dieser durchaus illustren Runde ist Sergej Karaganow. Karaganow, dem früher immer mal wieder Ambitionen auf den Posten des russischen Außenministers nachgesagt worden sind, ist heute Dekan der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der Moskauer Staatlichen Hochschule für Wirtschaft, die immer noch das wissenschaftliche Basislager der Liberalen ist. Er schrieb in einem langen, "Wiener Konzert des XXI. Jahrhunderts" überschriebenen und Anfang Juni in der Regierungszeitung "Rossijskaja Gaseta" erschienenen Artikel zwar weniger über China als vielmehr über den bevorstehenden Untergang (oder zumindest unaufhaltbaren Niedergang) des Westens (wobei die meisten Russen, in memoriam Oswald Spengler, im Geist wohl "Abendland" ergänzen). Aber die Hauptthese von Karaganow ist auch, dass der Westen, weil im großen Weltenringen auf der Verliererstraße, angefangen habe, schmutzige Tricks in den Auseinandersetzungen mit seinen geopolitischen Konkurrenten (lies: vor allem, aber nicht nur, mit Russland) anzuwenden. Das werde zwar den Niedergang nicht aufhalten, mache es anderen (lies erneut: Russland) aber einfacher und für sie auch notwendig, sich umzuorientieren. Auch hier wird Asien und damit natürlich China zur natürlichen Wahl.

Das alles wäre nicht sonderlich verwunderlich (denn solche Texte gibt es en masse), wären diese drei nicht die bekanntesten und Richtung Westen bisher "sprechfähigsten" Experten für Internationale Politik in Russland. Es ist auch nicht so, dass sie dieses Thema bisher nicht angesprochen hätten, aber der Zungenschlag ist ein derart anderer geworden, dass die Frage nach dem Warum nicht nur sinnvoll, sondern notwendig geworden ist. Warum also geben diese ja klugen und reflektierten Menschen der schon notorischen Umkehrung der russischen Propaganda (nicht Russland ist schwach, sondern der Westen; nicht Russland ist aggressiv, sondern der Westen; nicht Russland hat sich vom Westen abgewandt, sondern der Westen von Russland usw.) ihre professionellen Weihen, noch dazu Weihen, die durch ihren Ruf als (in unterschiedlicher Abstufung) eher "Liberale", also im innerrussischen Diskurs eher westlich Orientierte, besondere Glaubwürdigkeit erhalten?

Darauf gibt es drei Antworten, bei denen aber von außen kaum zu entscheiden ist, welche die "richtige" ist. Die erste Antwort lautet (sehr russisch!), dass die das so nicht denken, aber von irgendjemandem den Auftrag dazu bekommen haben, es so zu schreiben. Antwort zwei (nicht weniger russisch) ist etwas komplizierter: Die Autoren denken nicht so, aber sie halten es für notwendig, so zu schreiben, wie sie schreiben, weil sie, zum Beispiel, vor etwas warnen wollen (in diesem Fall also wohl vor den Folgen der russischen Wendung nach Osten), sich aber nur mit radikalen Thesen Gehör zu schaffen erhoffen. Oder weil sie meinen, solch eine Warnung nicht direkt aussprechen zu können oder zu dürfen (zum Beispiel weil das ihre Position in Russland gefährden würde). Die dritte Antwort ist die einfachste: Die Autoren sind von ihren Thesen überzeugt.

Unabhängig davon, welcher der Antworten wir den Vorzug geben, reflektieren die Artikel aber eine zunehmende Dynamisierung und Radikalisierung des innerrussischen Diskurses über den richtigen außenpolitischen Kurs des Landes. Sie zeigen die zunehmende Dominanz sogenannter "nationalpatriotischer" Positionen. Das hat mit dazu geführt, dass auch diese eher "liberalen" Autoren sich in ihren Einschätzungen nun tatsächlich dem vorherrschenden Diskurs angenähert haben oder dies nur, aus welchen Gründen auch immer, für notwendig halten. Aus diesem Grund soll hier nun im Weiteren davon ausgegangen werden, ihre Annahme, die (warum auch immer in den vergangenen Jahren schon ins Schlingern geratene) WestIntegration Russlands sei endgültig (was immer das, in historischen Kategorien gedacht, heißt) tot, stimme. Das führt dann direkt zu der Frage, ob eine Allianz mit China tatsächlich, wie behauptet, ein vollwertiger oder zumindest ausreichender Ersatz oder Ausgleich dafür sein kann und was Russland dafür bezahlen muss.

Ich will dieser Frage, in Fortsetzung meiner Gedanken vom vergangenen Oktober dazu, hier kurz in drei Punkten nachgehen: erstens anhand des Verhaltens Chinas in der RusslandUkraineKrise, zweitens mit einem Vergleich des Versuchs der institutionellen Einbindung Russlands in westliche internationale Strukturen mit den neu sich entwickelnden Institutionen unter Einschluss Chinas und drittens mit ein paar Überlegungen dazu, wie stabil eine enge russischchinesische Allianz zu werden verspricht. Dabei steht immer die Frage im Hintergrund, ob die von Russland angestrebte Gleichgewichtigkeit des Verhältnisses mit dem neuen Partner überhaupt erreichbar ist. Denn der Grundton aller russischen Klagen war (und ist) das Fehlen eines Verhältnisses mit dem Westen "auf Augenhöhe".

Das Verhalten Chinas in der RusslandUkraine Krise könnte dem Kreml tatsächlich ein wenig Hoffnung geben. China hatte 1994 der Ukraine ebenfalls (wie die Nuklearmächte USA, England und auch Frankreich), allerdings nicht in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag sondern in einer einseitigen "Erklärung" (Externer Link: Statement of the Chinese Government on the security assurance to Ukraine issued on 4 December 1994) Sicherheitsgarantien für den Fall des Abzugs der ursprünglich sowjetischen Atomraketen nach Russland gegeben. Nach der Annexion der Krim durch Russland und der russischen Unterstützung des Kriegs im Donbass blieb die chinesische Regierung jedoch still, was aber im Donnergetöse der westlichrussischen Friktionen kaum auffiel.

Mehr noch: Unmittelbar nach der Annexion der Krim im März schloss China mit Russland einen Gasliefervertrag ab, über den seit mehr als zehn Jahren ohne Ergebnis verhandelt worden war. Seither sind noch eine ganze Reihe anderer Verträge und Geschäftsabschlüsse hinzu gekommen, zuletzt beim Besuch des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping zur Feier des "70. Jahrestages des Sieges" nach Moskau. Xi saß beim Abnehmen der waffengespickten Siegesparade gemeinsam mit seiner Ehefrau direkt neben Putin in der ersten Reihe. Es wurde gescherzt und gelacht. Alle anderen angereisten Staatsoberhäupter (die westlichen boykottierten den Aufmarsch), egal ob von unmittelbaren Verbündeten der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg oder von ehemaligen Sowjetrepubliken, saßen weit entfernt oder in hinteren Reihen.

Bei aller demonstrativen Einvernehmlichkeit haben der Gas und andere Deals mit China aber einen klaren Gewinner. Es besteht zwischen China und Russland eben nicht die so sehr angestrebte Beziehung "auf Augenhöhe" (wobei die Chinesen sich hüten, das neue Machtgefälle auf irgendeine Art zu betonen). Das zeigen auch die in den beiden Ländern unterschiedlichen Diskussionen über die Wirtschaftsbeziehungen. Während in Russland die geopolitischen Fragen im Vordergrund stehen, dreht sich die Diskussion in China fast ausschließlich um die wirtschaftlichen Aspekte. Soweit ich den innerchinesischen Diskurs verfolgen kann (ohne chinesisch zu können und Chinaexperte zu sein), wird dort Russland überwiegend ebenso als alter und alternder Westen betrachtete, wie das in Russland mit dem westlichen Original geschieht – nur, wie mir scheinen will, mit mehr Recht.

Ein wenig anders sieht es auf den ersten Blick mit den zunehmenden institutionellen Verflechtungen zwischen Russland und China aus. Die waren ja mit dem Westen (vor der jetzigen Konfrontation) bereits recht weit gediehen. Russland ist als Nachfolger der Sowjetunion Mitglied der KSZE, der bereits 1975 gegründeten Konferenz über Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa, die sich 1995 in OSZE umbenannte. Ebenfalls in den 1990er Jahren trat Russland dem Europarat bei und wurde in den (informellen) Club der G8 aufgenommen. 2002, also schon unter Präsident Putin, wurde der NATORusslandRat eingerichtet, nachdem Russland seit 1994 Mitglied im Programm "Partnerschaft für den Frieden" gewesen war.

Auch mit China sucht Russland seit einigen Jahren eine engere, auch institutionelle Verflechtung. Die erste war die "Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit", die 2001 gegründet wurde und vor allem eine Sicherheitskooperation zwischen Russland, China und den zentralasiatischen Staaten zum Ziel hat. Inzwischen haben noch eine ganze Reihe von Staaten, wie Indien, Pakistan, der Iran, Afghanistan und die Mongolei Beobachterstatus erlangt. Global noch mehr beachtet und ernst genommen ist wohl der BRICSZusammenschluss von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, der meist als "Vereinigung aufstrebender Volkswirtschaften" charakterisiert wird. Seit 2013 gibt es zudem Konsultationen zwischen China, Indien und Russland auf Außenministerebene, die nach dem erklärten Willen der beteiligten Staaten in Zukunft verstetigt werden sollen.

Ein Vergleich der etwas früher begonnenen institutionellen Westverflechtungen Russlands mit den neueren Verbindungen mit anderen Ländern zeigt, was schon die Umständlichkeit dieses Satzes andeutet: Die ansatzweise Westintegration hatte wertbezogene Übereinstimmungen als Grundlage. Die neueren von Russland eingegangenen Integrations oder besser wohl Kooperationsbeziehungen basieren dagegen ausschließlich auf (geo)politischen und wirtschaftlichen Interessen mit einer deutlichen Anti-Ausrichtung. Wenn man sie auf einen Begriff bringen wollte, dann wäre das eine Negation: Sie erhalten ihre Rechtfertigung eben daraus, dass sie nichtwestlich, ja mitunter antiwestlich sind. Abgesehen davon, dass Russlands Mitgliedschaft bei BRICS als "aufstrebende Wirtschaftsmacht" auf einem "Missverständnis" beruht (von dem natürlich alle wissen), neigen solche Nicht oder GegenAllianzen dazu mittel und langfristig nicht allzu stabil zu sein.

Damit sind wir beim unterschiedlichen Wertefundament zwischen Russland und China. Für die in Russland vorherrschende geopolitische Interpretation internationaler Kooperation oder Konfrontation spielen gemeinsame Werte keine Rolle oder werden sogar mitunter, so vorhanden, als Schwäche (weil Illusion) ausgelegt. Allianzen werden entsprechend ausschließlich daran gemessen, wie und ob sie den (wie auch immer definierten) Interessen der daran beteiligten Staaten dienen. In diesem Denksystem ist ein Ersatz des Westens durch China lediglich ein Problem des Wollens, nicht oder zumindest nicht in erster Linie auch des Könnens.

Gleichzeitig wird aber in der angestrebten Allianz mit China (und anderen, nichtwestlichen Staaten) das wichtigste Anliegen des Kreml (und einer, glaubt man Umfragen, großen Mehrheit der Bevölkerung) nicht gelöst: die angestrebte Gleichbehandlung "auf Augenhöhe". Denn wenn es nicht um (am besten institutionell verrechtlichte) Werte geht, sondern um Interessen, basiert der gegenseitige Umgang wesentlich auf der spezifischen Kraft, dem spezifischen Gewicht der Beteiligten. Dieses Verhältnis entwickelt sich aber stetig weiter zu Ungunsten Russlands. Während die Wirtschaftskraft der beiden Länder Mitte der 1990er Jahren etwa gleich groß war, ist China heute bereits wesentlich stärker als Russland. Zwar kann die militärische Stärke Russlands dieses Ungleichgewicht gegenwärtig noch zumindest teilweise ausgleichen. Aber auch hier verschieben sich die Gewichte langsam aber sicher zugunsten Chinas. Auch militärische Macht ist eben in vielem eine Variable der wirtschaftlichen Kraft.

Genau das war es aber, was der russischen politischen Elite (und mit ihr zunehmend einer Mehrheit der Bevölkerung) im Verhältnis zum Westen nicht gepasst hat. Der Westen soll Russland, zum Beispiel durch die (ständige) Erinnerung daran, dass wirtschaftliche Modernisierung nicht ohne politische Öffnung zu haben sei, nicht belehren dürfen, wie das Land zu leben und sich zu benehmen habe. Also versucht die russische Führung nun (erneut gemeinsam mit einem großen Teil der Bevölkerung) die notwendige Modernisierung des Landes durch eine Konfrontation mit dem Westen zu vermeiden. Eine Allianz "auf Augenhöhe" mit China kann aber nur funktionieren, wenn sich Russland modernisiert. Man könnte das ein Paradoxon nennen, oder auch einen Zirkelschluss. Ohne Modernisierung aber wird China Russland über kurz oder lang (als Juniorpart ner) übernehmen.

So berauschen sich also immer mehr Menschen in Russland an der (angeblich) "wiedergewonnenen" Stärke, gehen aber mit China eine Allianz aus Schwäche ein.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog: Externer Link: http://russland.boellblog.org/

Fussnoten