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Analyse: Russland als Verteidiger traditioneller Werte? Eine Idee und ihre Grenzen | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Russland als Verteidiger traditioneller Werte? Eine Idee und ihre Grenzen

Kristina Stoeckl

/ 8 Minuten zu lesen

Russland gilt nach der Einschätzung westlicher Medien als globaler Verfechter moralkonservativer christlicher Werte. Im Widerspruch dazu steht die anti-ökumenische Haltung eines großen Teils des russischen orthodoxen Klerus, der eine Internationalisierung grundsätzlich ablehnt. Diese Haltung gründet zum Teil auf Bestrebungen der Regierung, die Kirche international als Imageträgerin zu nutzen.

M. Russell Ballard, ein hochrangiger Mormonenführer während einer Rede auf dem "World Congress of Families" im Oktober 2015 in Salt Lake City. (© picture-alliance/AP)

Zusammenfassung

Die in westlichen Medien viel kommentierte Rolle Russlands eines selbsterklärten globalen Verteidigers traditioneller christlicher Werte wird von der Russischen Orthodoxen Kirche nur zum Teil unterstützt. Ein rechter, fundamentalistischer Flügel der Kirche wehrt sich gegen internationales Engagement und ökumenische Zusammenarbeit, selbst bei moralkonservativen Themen.

Einleitung

Seit der Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika sind Verbindungen zwischen US-amerikanischen und russischen christlichen Rechts-Konservativen ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt. "How Russia became the leader of the global Christian Right" (Politico Magazine, 9. 2. 2017), "Vladimir Putin’s popularity is soaring among republicans" (The Washington Post, 27. 2. 2017), oder "Steve Bannon’s Would-Be Coalition of Christian Traditionalists" (The Atlantic, 23. 2. 2017) sind nur drei ausgewählte Nachrichtentitel der vergangenen Monate, die allesamt einen Inhalt als Tenor haben: Russland, und insbesondere die Russische Orthodoxe Kirche seien zum Motor einer Grenzen und Konfessionen überschreitenden christlichen, moralkonservativen Bewegung geworden, die das Ziel verfolge, liberale Werte und demokratische Freiheiten einzuschränken. Aber ist Russland in der Tat auf dem Weg, der Anführer einer globalen christlichen Rechten zu werden?

Eine globale christliche Rechte?

Zutreffend an dieser Einschätzung ist, dass es tatsächlich seit vielen Jahren Verbindungen zwischen christlichen Konservativen in den USA, Europa und Russland gibt. Hiermit sind jedoch nicht die üblichen kirchlichen Kontakte gemeint, sondern vielmehr Verbindungen innerhalb eines religiös motivierten und politisch rechts stehenden Teils der Zivilgesellschaft, der sich zu Themen der Moralpolitik wie der Verteidigung eines traditionellen Familienbildes oder Ablehnung von Abtreibung und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften transnational vernetzt. Organisationen wie der "World Congress of Families", 1997 von US-amerikanischen und russischen Moralkonservativen gegründet, sind Plattformen für den Austausch von Expertisen und Strategien im "Kampf gegen Säkularismus", der in den Augen dieser Akteure Christen in ihren eigenen Ländern zu Verfolgten macht. Russland, wo die Russische Orthodoxe Kirche ihren Einfluss auf den Staat geltend gemacht und eine Reihe von Gesetzen mit durchgesetzt hat, die bei konservativen Christen Anklang finden (das Werbeverbot für "nicht traditionelle Beziehungen" unter Jugendlichen, das Gesetz zum Schutz religiöser Gefühle), erscheint den Traditionalisten im Westen nahezu als "Sehnsuchtsort", wie es Masha Gessen treffend dargestellt hat (s. i. d. Lesetipps). Dieser Eindruck wird von den modern und professionell auftretenden russischen Vertretern dieser neuen orthodoxen Rechten auch nach Kräften gefördert: Alexej Komow, Direktor der russischen Organisation "Semejnaja Politika" (dt.: "Familienpolitik") erklärt im Interview ganz offen, dass er sich als Lobbyist in einem globalen Kulturkampf zwischen christlichen Werten und liberalem Säkularismus versteht. Russland und der russischen Orthodoxie kämen darin eine besondere Rolle zu, weil sie immerhin schon einmal einen militanten Säkularismus (den Sowjetkommunismus) überwunden hätten. Dieselbe Vision verbreiten Medien wie das Onlinejournal "katehon.com" (in nicht weniger als sechs Sprachen) oder der TV-Sender "tsargrad.tv"; Konstantin Malofejew, der Gründer dieser beiden Portale, steht dem erwähnten Komow nahe. Auf westlicher Seite wiederum mangelt es nicht an Verehrern Russlands. So zitierte unlängst das christliche Portal "LifeSiteNews" den italienischen Historiker und erklärten Kritiker des Zweiten Vatikanischen Konzils Roberto de Mattei mit der Aussage, der Westen brauche das neu bekehrte Russland für seine eigene Rettung; Steve Bannons Faszination für eine christliche Allianz, bekannt seit einer Rede aus dem Jahr 2014, wurde zuletzt in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 24. Februar 2017 noch einmal skizziert. Soweit lässt sich also feststellen, dass es tatsächlich in Russland und andernorts einzelne Personen und politisch aktive Gruppierungen gibt, die Russland als zentralen Akteur im Kampf für die traditionellen christlichen Werte verstehen, womit vor allem eine Gegnerschaft zu Liberalismus, Pluralismus und säkularer Gesellschaft gemeint ist.

Diese Tatsache und vor allem die Berichterstattung darüber sollte aber zu dem tatsächlichen innerrussischen und vor allem innerorthodoxen Kontext in Beziehung gesetzt werden, in dem sich diese vermeintliche Führungsrolle entwickelt. Ist die Russische Orthodoxe Kirche tatsächlich der Motor für eine globale christliche Bewegung, die paradoxerweise eher mit Putin als mit dem Patriarchen identifiziert wird? Oder agiert die Russische Orthodoxe Kirche lediglich als Stichwortgeberin und Imageträgerin für die russische Führungsrolle in Sachen traditionelle Werte?

Antiökumenische und fundamentalistische Kritik innerhalb der ROK

Die nach Außen getragene Einheit von russischem Staat und orthodoxer Kirche, die im Westen Bewunderer sucht und findet, verdeckt mehrere Schwächen der Russischen Orthodoxen Kirche, die allesamt 2016 offensichtlich geworden sind und sich als Problem für das vermeintlich enge Verhältnis zwischen Staat und Kirche erweisen. Diese Schwachpunkte sind zum einen die mangelnde Durchsetzungskraft des Moskauer Patriarchats in der Gesamtheit der Orthodoxen Kirchen und zweitens seine Verwundbarkeit gegenüber fundamentalistischen russischen orthodoxen Kreisen. Beide machen die Kirche zu einem weit weniger verlässlichen Partner bei dem Unterfangen der aktuellen russischen Führung, ihr Land zum globalen Anführer bei der Wahrung und Beförderung traditioneller Werte zu erheben, als dies auf den ersten Blick den Anschein haben mag.

Zwei Beispiele illustrieren die Schwäche des aktuellen Patriarchen Kirill: Wenige Wochen bevor das Moskauer Patriarchat seine Teilnahme am Panorthodoxen Konzil auf Kreta im Juni 2016 absagte, war Putin auf den Berg Athos gereist. Das Bild, das ihn vor einem thronähnlichen Bischofsstuhl in der Kirche des russischen Klosters des Hl. Pantaleon auf der Halbinsel Athos zeigt, wurde von dem bereits erwähnten TV Sender "Tsargrad.tv" so interpretiert, als hätten die Mönche von Athos Putin als Anführer der gesamten orthodoxen Christenheit die Ehre erwiesen. Von Seiten der Kirche fand diese PR-Aktion einen Monat später aber keine Entsprechung. Die realen Macht- und Anerkennungsverhältnisse innerhalb der Familie der Orthodoxen Kirchen verhinderten nämlich, dass dem Moskauer Patriarchat eine dominante Führungsrolle zugekommen wäre. Es konnte sich mit seinen Vorstellungen zum Panorthodoxen Konzil nicht durchsetzen, weshalb es ihm dann auch fernblieb. Nach dem Athos-Foto von Putin blieb die Russische Orthodoxe Kirche ein gleichermaßen symbolträchtiges Bild des Patriarchen als Vertreter der größten orthodoxen Kirche unter seinesgleichen schuldig.

Mehrere Kommentatoren haben darauf verwiesen, dass der Grund für die Absage der Teilnahme am Panorthodoxen Konzil in den Verhältnissen innerhalb der russischen Orthodoxie zu suchen ist. Sergej Tschapnin schreibt, es sei der rechte, fundamentalistische Flügel der Russischen Orthodoxen Kirche gewesen, der Patriarch Kirill durch seine unerwartet heftige Kritik an den Konzilsdokumenten, allen voran an dem Dokument zur Ökumene, zu einem Rückzug veranlasst hätte. Es sei die Unstimmigkeit zu einem weitgehend theologischen, ekklesiologischen und vor allem innerkirchlichen Thema gewesen, die dazu führte, dass das Moskauer Patriarchat seinen Anspruch auf eine Mitbestimmungsrolle in der globalen Orthodoxie fürs erste aufgeben musste.

Der anti-ökumenische fundamentalistische Flügel bereitete Patriarch Kirill 2016 aber noch eine zweite Niederlage, die das Bild einer starken, im Kampf für die Christen dieser Welt geschlossenen Russischen Orthodoxen Kirche an der Seite eines starken russischen Staats trübte. Andrej Schisckow hat in einem Artikel das Scheitern der Pläne des Moskauer Patriarchats und der US-amerikanischen "Billy Graham Evangelistic Association" (BGEA) beschrieben, gemeinsam einen "World Summit in Defense of Persecuted Christians" in Moskau zu organisieren. Ende Mai 2016 waren die Pläne öffentlich geworden, Moskau im Oktober 2016 zum Zentrum eines konfessionsübergreifenden Programms zur Verteidigung der Christen "im Nahen Osten, in Afrika und in anderen Regionen der Welt" (sprich: im säkularen Westen) zu machen. Es ist unschwer vorstellbar, dass die russische Regierung, engagiert im Krieg in Syrien, diesen Kongress nur allzu gerne unterstützt hätte. Das Foto von Putin mit religiösen Vertretern auf der Seite der verfolgten Christen dieser Welt schien bereits vorprogrammiert zu sein. Es kam aber nicht zum Kongress, und wieder waren es die fundamentalistischen rechten Kreise innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche, die dem Patriarchat einen Strich durch die Rechnung machten: Ihre Kritik an Patriarch Kirill hatte sich an dem Treffen zwischen Kirill und Papst Franziskus in Havanna entzündet und war seither nicht zum Verstummen gekommen. Eine zelebrierte Zusammenarbeit mit westlichen protestantischen Kirchen hätte erneut Wasser auf die Mühlen der Kritiker gegossen und dies mag, zumindest in den Augen informierter Beobachter, dem Patriarchen als zu riskant erschienen sein. Der Kongress wurde verschoben und fand dann im Mai 2017 in Washington statt. Franklin Graham, Billy Grahams Sohn und Chef der BGEA, begründete den Rückzug mit der Verschärfung der Religionsgesetzgebung in Russland, die evangelikale Christen in ihrer Religionsfreiheit einschränke.

Fazit

Die beiden hier skizzierten Ereignisse aus dem Jahr 2016 machen deutlich, dass die Russische Orthodoxe Kirche eine sehr viel prekärere "Machtressource" für den globalen ideologischen Führungsanspruch der russischen Regierung ist, als dies in den westlichen Medien wahrgenommen oder dargestellt wird. Die vielfach beschworene Strahlkraft Russlands als Verteidiger traditioneller Werte, die auch Patriarch Kirill zu beschwören nicht müde wird, steht auf tönernen Füßen. Ihr steht die isolationistische, anti-ökumenische, anti-westliche und fundamentalistische Haltung eines großen Teils des russischen orthodoxen Klerus entgegen. Patriarch Kirill erscheint als Gefangener zwischen der Regierung auf der einen Seite, die die Kirche als Imageträgerin und Stimmungslieferantin für globale moralische Führungsansprüche nutzt, und einem rechten Flügel innerhalb der eigenen Kirche auf der anderen, der genau diese Politisierung und Internationalisierung ablehnt. Die eingangs skizzierte Einschätzung, die in jüngster Zeit in westlichen Medien weit verbreitet ist, wonach Russland auf dem Weg sei, die Führung einer globalen moralkonservativen christlichen Rechten zu übernehmen, sollte zu den tatsächlichen Kräften und Akteuren in Relation gesetzt werden, auf denen diese Entwicklung fußt. Es gibt zweifelsohne einzelne Personen und Gruppierungen mit ihren spezifischen Organisationen und mehr oder weniger regelmäßigen Veranstaltungen, die die russische Orthodoxie als Hort der traditionellen Werte global vernetzen möchten. Allerding stellen sie innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche nicht die Mehrheit. Diese Tatsache macht das Moskauer Patriarchat zu einem sehr viel weniger verlässlichen Partner der aktuellen russischen Regierung, als das von den meisten Beobachtern und Beteiligten angenommen wird.

Ist die Russische Orthodoxe Kirche also zu konservativ, um zur Anführerin einer "Traditionalist International" (so Casey Michel im März 2017 in "Right Wing Watch") zu werden? Für weite Teile der Russischen Orthodoxen Kirche muss diese Frage mit "ja" beantwortet werden. Dem internationalen Engagement für traditionelle Werte durch rechte russische religiöse Graswurzelbewegungen wie dem "World Congress of Families" tut dieser innerkirchliche Gegenwind keinen Abbruch; sie agieren weitgehend unabhängig. Dem Moskauer Patriarchat hingegen hat der fundamentalistische Flügel zwei empfindliche Niederlagen bereitet. Die russische Regierung wiederum wird mit einem innerkirchlichen Pluralismus von rechts zu rechnen haben, der sich der Kontrolle durch den Staat entzieht.

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Kristina Stoeckl ist Assistenzprofessorin am Institut für Soziologie der Universität Innsbruck und Principal Investigator im Projekt "Postsecular Conflicts" (ERC-STG-2015-676804). Sie beschäftigt sich mit transnationalen moralkonservativen Bewegungen und Religion und Politik in Russland. 2017 erscheint ihr gemeinsam mit Ingeborg Gabriel und Aristotle Papanikolaou herausgegebener Band "Orthodox Political Theologies" (Bloomsbury).