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Analyse: Uljukajews Fall und Jewtuschenkows Niederlage. Rosnefts Expansion durch Annexion | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Uljukajews Fall und Jewtuschenkows Niederlage. Rosnefts Expansion durch Annexion

Roland Götz

/ 8 Minuten zu lesen

Mit einem Koffer voller Geld wurde Aleksej Uljukajew im November 2016 festgenommen. Was steckt hinter den Korruptionsvorwürfen gegen den hochrangigen Politiker?

Aleksej Uljukajew, ehemals Minister für wirtschaftliche Entwicklung, wartet auf seine Anhörung vor einem Moskauer Gericht. Der russische Politiker wird verdächtigt, mehrere Millionen US-Dollar Bestechungsgeld angenommen zu haben. (© picture-alliance/AP)

Zusammenfassung

Vermutete Russlands Minister für wirtschaftliche Entwicklung Aleksej Uljukajew in dem verschlossenen Koffer, den er auf dem Parkplatz des Rosneft-Hauptsitzes in seinen Dienstwagen lud, Weinflaschen oder zwei Millionen US-Dollar Bestechungsgeld? Diese Frage hat das Gericht nicht zweifelsfrei klären können. Dennoch verurteilte es Uljukajew wegen "Bestechlichkeit in einem besonders schweren Fall" zu acht Jahren Straflager und einer Geldstrafe von zwei Millionen US-Dollar. Hintergrund dieses Kriminalfalls bildet die von Uljukajew kritisierte Übernahme des Ölkonzerns "Baschneft" durch "Rosneft", die Parallelen zur "Jukos"-Affäre aufweist.

Von Putin zum Abschuss freigegeben?

Mit "Von Putin zum Abschuss freigegeben?" überschrieb die FAZ einen Beitrag ihrer Russlandkorrespondenten zum "Fall Uljukajew". Auch viele andere Kommentatoren gingen davon aus, dass Wirtschaftsminister Aleksej Uljukajew Opfer eines von "Rosneft"-Chef Igor Setschin und/oder Wladimir Putin eingefädelten Komplotts geworden war. Denn dass der Minister es gewagt haben könnte, von jemandem Geld zu fordern, der in Russland "Darth Vader" ("die dunkle Seite der Macht" in Star Wars) genannt wird, konnten sie sich nicht vorstellen (siehe Szymon Kardaś, Iwona Wiśniewska sowie Sergey Medvedev in den Lesetipps).

Stattdessen spekulierte man: Uljukajew wäre, weil er öffentlich Setschins Geschäfte als nicht marktkonform kritisiert hatte, entmachtet worden. Oder: Putin habe alle noch im Staatsdienst verbliebenen liberalen Ökonomen einschüchtern wollen. Auch wurde vermutet, dass Uljukajew Opfer eines Machtkampfes zwischen verschiedenen Fraktionen der Sicherheitsdienste geworden war, die um Putins Gunst rivalisieren. Keine dieser Hypothesen kann jedoch überzeugen. Vor allem kann Uljukajew kein Hindernis für Geschäfte des Rosneft-Chefs gewesen sein, die wie die Baschneft-Transaktion von Putin genehmigt wurden.

Und: Die im Staatsdienst stehenden liberalen, marktwirtschaftlich orientierten Ökonomen – auch "Systemliberale" genannt (zu ihnen gehören u. a. der ehemalige Finanzminister und heutige Regierungsberater Alexej Kudrin, der stv. Ministerpräsident Arkadij Dworkowitsch, der ehemalige Wirtschaftsminister und heutige Präsidentenberater Andrej Beloussow, die Zentralbankchefin Elwira Nabiullina, der Präsident der "Sberbank", German Gref) – werden von Putin in ihren Positionen gehalten, weil sie sich gegen die Befürworter einer nationalistischen, staatszentrierten Wirtschaftspolitik stellen, deren Ansichten Putin nicht teilt.

Schließlich: Da in Russland ein echter Korruptionsskandal nach dem anderen aufgedeckt wird, in den Gouverneure, Bürgermeister, Polizeioffiziere oder hochrangige Militärangehörige verwickelt sind (meistens geht es um Bestechungsgelder bei der Vergabe von Staatsaufträgen), brauchen die miteinander rivalisierenden Sicherheitsdienste keine erfundenen Fälle, um ihre Unentbehrlichkeit zu beweisen.

Wie Baschneft zu Rosneft kam

In den 1990er Jahren wurde der ehemals sowjetische Energiekomplex Baschneft, der Erdölfelder im Wolga-Ural-Gebiet sowie in Nord- und Westsibirien sowie Raffinerien in Baschkortostan umfasste, vom ersten Präsidenten Baschkortostans, Murtasa Rachimow, in Besitz genommen. Dessen Sohn Ural verkaufte 2005 und 2009 Baschneft-Anteile für insgesamt 2,6 Milliarden US-Dollar an Russlands größte Holdinggesellschaft "AFK Sistema", deren Gründer und Hauptaktionär Wladimir Jewtuschenkow ist.

Im April 2014 beanstandete Russlands Generalstaatsanwaltschaft die Privatisierung der baschkirischen Erdölbetriebe als unrechtmäßig und warf "Sistema" Hehlerei (den Kauf gestohlenen Vermögens) sowie Geldwäsche (die Legalisierung der ungesetzlichen Einnahmen des Verkäufers) vor. Während Ural Rachimow, der 2010 nach Österreich übersiedelt war, sich einer Bestrafung entziehen konnte, wurde Jewtuschenkow im September 2014 unter Hausarrest gestellt. Das Moskauer Wirtschaftsgericht verurteilte ihn zur Übertragung der von Sistema verwalteten Baschneft-Aktien an Russlands Staatsvermögensverwaltung. Danach wurde Jewtuschenkow im Dezember 2014 aus dem Hausarrest entlassen.

Sistema verlangte von der Familie Rachimow Schadenersatz für die den Baschneft-Aktionären entstandenen Verluste. Im Zuge dieser Auseinandersetzung urteilte das Wirtschaftsgericht im Februar 2015, dass Sistema gutgläubiger Erwerber des Baschneft-Vermögens war, und nahm damit die Vorwürfe der Hehlerei und der Geldwäsche zurück. Im Dezember 2015 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Jewtuschenkow mit der Begründung ein, dass bei ihm kein strafbarer Tatbestand vorgelegen habe. Dennoch gab der Staat die Baschneft-Aktien nicht an Sistema zurück, sondern verteilte sie anderweitig: Ein Viertel des Baschneft-Kapitals erhielt die Republik Baschkortostan, eine Hälfte sollte privatisiert werden. Am 30.09.2016 erklärte das Wirtschaftsministerium seine Zustimmung zum Verkauf von 50,1 Prozent des Baschneft-Aktienkapitals für 330 Milliarden Rubel (rund fünf Milliarden US-Dollar) an Rosneft, der am 8.10.2016 erfolgte. Persönlich war Uljukajew allerdings – wie andere "Systemliberale" auch – der Ansicht, dass Baschneft nicht durch die halbstaatliche Rosneft übernommen werden sollte, weil damit keine echte Privatisierung verbunden wäre.

Mit dem Erwerb der Sistema-Anteile wollte sich Setschin noch nicht zufriedengeben: Rosneft und die nun von Rosneft geführte Baschneft verklagten am 15.05.2017 Sistema auf Schadenersatz in Höhe von 107 Milliarden Rubel für eine angebliche Wertminderung durch die von Sistema vorgenommene Umstrukturierung von Baschneft. Diese Forderung wurde bis Dezember auf 302 Milliarden Rubel (fünf Milliarden US-Dollar) erhöht, was Sistema im Erfolgsfall der Klage in den Bankrott getrieben hätte. Jewtuschenkow musste kapitulieren: Am 27.12.2017 erzielten Rosneft und Sistema einen Vergleich, wonach Sistema zusätzlich zum Verlust von Baschneft noch 100 Milliarden Rubel (1,7 Milliarden US-Dollar) an Rosneft zu bezahlen hat.

Chronologie des Falls Uljukajew

Am 15.10.2016, also eine Woche nach dem Verkauf der Baschneft-Aktien an Rosneft, unterhielt sich Uljukajew auf dem BRICS-Gipfeltreffen auf Goa wenige Minuten mit Setschin. Dabei forderte er nach Setschins Darstellung, indem er zwei Finger in die Höhe streckte, zwei Millionen US-Dollar als Dank für die Kooperation seines Ministeriums bei der Abwicklung der Baschneft-Transaktion. Setschin unterrichtete den Inlandsgeheimdienst FSB und Putin über den Vorgang. Der Präsident hätte Uljukajew sofort wegen mangelnden Vertrauens entlassen und damit die Ausweitung der Affäre verhindern können – stattdessen gab er sein Einverständnis, diesen der Bestechlichkeit zu überführen.

Zu diesem Zweck bereitete der FSB-General Oleg Feoktistow, den Setschin einen Monat zuvor zum Leiter des Rosneft-Sicherheitsdiensts berufen hatte, in Zusammenarbeit mit dem FSB ein "Ermittlungsexperiment" (gem. § 181 Strafprozessordnung der Russischen Föderation) vor. Es wurde am 14.11.2016 in Gang gesetzt, indem Setschin Uljukajew telefonisch um ein Gespräch im Rosneft-Hauptquartier bat. Für Uljukajew wurde auf dem Parkplatz ein verschlossener, 20 kg schwerer Koffer bereitgestellt, den dieser nach einer kurzen Unterhaltung mit Setschin in seinen Dienstwagen lud. Danach erörterten Setschin und Uljukajew bei Tee wirtschaftliche Fragen, ohne den Koffer und seinen Inhalt zu erwähnen. Zum Abschied schenkte Setschin, wie man es von ihm gewohnt ist, Uljukajew einen Korb mit Würsten.

Bei der Ausfahrt aus dem Rosneft-Gelände wurde Uljukajew von Polizisten, die in dem Koffer zwei Millionen US-Dollar in 100-Dollar-Noten fanden, verhört und festgenommen. Am 15.11.2016 entließ Putin Uljukajew wegen mangelnden Vertrauens. Uljukajew musste im Hausarrest auf seinen Prozess warten, der am 08.08.2017 vor einem Moskauer Bezirksgericht begann. Die Anklage lautete auf "Bestechlichkeit im Amt in einem besonders schweren Fall", was gemäß § 290 Abs. 6 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation mit Freiheitsentzug zwischen 8 und 15 Jahren bestraft wird. Das (für russische Verhältnisse bescheidene) Vermögen der Familie Uljukajew in Höhe von 500 Millionen Rubel (rund 8 Millionen US-Dollar) wurde als Sicherheitsleistung arretiert.

Das Gerichtsverfahren litt darunter, dass der Hauptzeuge Setschin sich viermal der Vorladung entziehen und daher nicht von der Verteidigung befragt werden konnte, was aber wahrscheinlich (wie Putin auf eine Frage in seiner Jahrespressekonferenz 2017 antwortete) an der Beweislage nichts geändert hätte, weil Setschin wohl nur die gegenüber den Ermittlern abgegebenen Behauptungen wiederholt hätte. Uljukajew blieb ebenfalls bei seiner Version, wonach Setschin ihm auf Goa besonders guten Wein versprochen hätte, den er in dem für ihn auf dem Rosneft-Parkplatz bereitgestellten Koffer vermutet habe.

Der Staatsanwalt forderte zehn Jahre Haft in einem Straflager und eine Geldstrafe von 500 Millionen Rubel (rund 8 Millionen US-Dollar). Am 15.12.2017 verurteilte das Gericht, das strafmildernde Umstände wie das hohe Alter seiner Eltern anerkannte, Uljukajew zu acht Jahren Lagerhaft sowie 130 Millionen Rubel (zwei Millionen US-Dollar) Geldstrafe. Uljukajew wurde in das Prominenten-Untersuchungsgefängnis Nr. 1 in Moskau eingeliefert. Im Dezember 2017 legten seine Anwälte Berufung ein.

Indizien und Zweifel

Bezeugt ist, dass Uljukajew und Setschin sich am 15.10.2016 kurz unterhalten haben. Dass Uljukajew bei dieser Gelegenheit von Setschin Geld gefordert haben soll, konnte jedoch nicht bewiesen werden, da hierbei Aussage gegen Aussage steht. Auch dass Uljukajew, wie Setschin sagte, zwei Finger hochhielt, wurde von den Augenzeugen des Gesprächs nicht bestätigt.

Sowohl der Inhalt des Telefonats am Mittag des 14.11.2016, als auch die Abschriften von vier verschiedenen Tonaufnahmen der Gespräche zwischen Uljukajew und Setschin (eine davon entstand durch ein von Setschin am Körper getragenes Gerät), wurden vor Gericht verlesen und gelangten an die Öffentlichkeit (siehe "Wedomosti" in den Lesetipps). Demnach sagte Setschin beim Eintreffen Uljukajews: "Wir haben den Betrag ("objom", auch: "die Summe"/"die Menge") zusammenbekommen. Damit kannst Du den Auftrag als erfüllt ansehen." Uljukajew antwortete darauf mit "Ja". Diese knappe Reaktion Uljukajews bedeutete nach Auffassung der Anklage, dass er annahm, dass es sich beim Inhalt des Koffers um die von ihm geforderte Geldsumme handelte.

Die von Anklage und Verteidigung herangezogenen Sachverständigen widersprachen sich bei der Interpretation der zwischen Uljukajew und Setschin geführten Unterhaltung. Wenn aber Zweifel an der Schuld des Angeklagten möglich sind, gilt die in Art. 49 Abs. 3 der Verfassung sowie § 14 der Strafprozessordnung garantierte Unschuldsvermutung und das Gericht hätte Uljukajew freisprechen müssen. Wie Maria Shklyaruk in der Zeitschrift "Osteuropa" darlegte (Nr. 9–10/2017), entspricht die Missachtung dieser Rechtsnorm freilich gängiger Gerichtspraxis in Russland.

Setschin hat mit seinem zwar nicht eindeutig bewiesenen, aber auch schwer widerlegbaren Vorwurf einen – wenn auch machtlosen – Störenfried aus dem Amt entfernt und seinen Ruf als unangreifbar, weil anscheinend über dem Gesetz stehend, gefestigt. Der Präsident gab eine weniger glückliche Figur ab: Er musste auf seiner Jahrespressekonferenz am 14.12.2017 Setschins Fernbleiben vom Prozess verteidigen und wird als Verantwortlicher für eine weitere Verschlechterung der Rechtsicherheit und des Investitionsklimas in Russland angesehen.

Zum Wohle Russlands?

Zum Wohle Russlands! So lautet das Motto des Rosneft-Jahresberichts 2016. In diesem Sinne auch versteht Rosneft-Chef Setschin sein Wirken an der Spitze des vom Staat beherrschen, größten Ölkonzern Russlands (siehe dazu die auf diesen Beitrag folgenden Tabellen).

Vergleichsweise "zivilisiert" war es zugegangen, als Rosneft 2013 den Tjumener Ölkonzern TNK-BP von BP und der Gruppe AAR ("Access Industries" von Leonard Blavatnik, "Alfa Group" von Michail Fridman und "Renova Group" von Wiktor Wekselberg) kaufte. Das freilich deshalb, weil Setschin beabsichtigte, BP als Sprungbrett für Rosnefts globale Expansion zu nutzen (siehe dazu Jonas Grätz in den Lesetipps).

Mit dem Erwerb der Baschneft-Anteile 2016 setzte Rosneft dagegen seine Strategie der Expansion durch Annexion fort, die 2004 mit der Übernahme von "Jukos" begonnen hatte. In beiden Fällen hatte die Staatsanwaltschaft den Hauptaktionär grundlos eines Verbrechens beschuldigt (zum Jukos-Fall siehe Otto Luchterhandt in den Lesetipps). In beiden Fällen wurden Unternehmen entschädigungslos vom Staat konfisziert und wenig später an Rosneft verkauft. Wie Michail Sygar in seinem Buch "Endspiel" (Köln 2015) schreibt, soll Setschin bei der Ingangsetzung der Verfahren gegen Chodorkowskij und Jewtuschenkow die treibende Kraft gewesen sein (S. 211/212). Er sei die zentrale Figur eines Kreises von Beamten mit Geheimdienstkarriere, die es für ihre Pflicht halten, die "Oligarchen" dazu zu zwingen, von ihrem Reichtum etwas an den Staat abzugeben.

Setschin entspricht, auch wenn er hundertfacher Dollarmillionär ist, nicht dem Typus des "Oligarchen" der 1990er Jahre, der seinen Aufstieg der Überführung von Staatsvermögen in Privatkapital verdankte, sondern dem des unternehmerisch tätigen Staatsfunktionärs, der – im Einklang mit dem in Russland verbreiteten holistischen Denken, aber unter Missachtung rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Prinzipien – die Verschmelzung von Staat und Wirtschaft anstrebt. Kaum wird er sich damit zufrieden geben, dass der Anteil von Rosneft an der Ölförderung in Russland zwischen 2000 und 2017 von vier auf 42 Prozent anstieg.

Lesetipps

Fussnoten

Dr. Roland Götz hat sich am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln und bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin mit der Sowjetwirtschaft und den Volkswirtschaften der GUS beschäftigt.