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Analyse: Russland im Sicherheitsradar 2019 | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Russland im Sicherheitsradar 2019

Alexandra Dienes Wien) Alexandra Dienes (FES Regionalbüro für Zusammenarbeit und Frieden in Europa

/ 12 Minuten zu lesen

Der Zerfall der UdSSR spielt für die Selbstwahrnehmung Russlands im globalen Kontext auch heute noch eine zentrale Rolle. So empfindet die Mehrheit der russischen Befragten die Stellung, die Russland in der Welt einnimmt, als nicht ausreichend. Als potentielle Bedrohung werden an erster Stelle die USA und die NATO genannt.

Die Flagge der Europäischen Union und die russische Flagge nebeneinander (Illustration). Das Verhältnis zwischen Russland und anderen europäischen Staaten ist seit dem Ukraine-Konflikt angespannt. (© picture alliance/blickwinkel)

Zusammenfassung

Fünf Jahre nach dem Ausbruch des Konflikts in der Ukraine und der Annexion der Krim durch Russland untersucht die neue Umfrage "Sicherheitsradar 2019: Weckruf für Europa", die das FES Regionalbüro für Zusammenarbeit und Frieden in Europa anhand ausgewählter Staaten durchgeführt hat, welche Risiken für Frieden und Sicherheit aus Sicht von Bürgern und Experten bestehen. Für Russland zeigt das "Sicherheitsradar", dass die Befragten mit dem internationalen Status ihres Landes unzufrieden sind, eine aktive Außenpolitik wünschen und nationale Interessen und nicht Werte verfolgt sehen wollen.

Einleitung

Die dreißig Jahre seit dem Fall der Berliner Mauer waren einerseits durch einen scheinbar stabilen und friedlichen Weg hin zu einer europäischen Einheit gekennzeichnet. Andererseits haben sich aber auch neue Spaltungen entwickelt, in Europa und sogar innerhalb der Europäischen Union. Europa erscheint heute sogar teilweise in einer gefährlicheren Situation als im Kalten Krieg, trotz einer geringeren Menge konventioneller und nuklearer Waffen auf seinem Territorium. Denn das gemeinsame Verständnis für Gefahren und die Regeln, die einst die Welt durch gefährliche Situationen navigierten, werden zunehmend irrelevant. Einer der Grundpfeiler der Rüstungskotrolle, der Vertrag über nukleare Kurz- und Mittelstreckenraketen von 1987 (INF Vertrag), steht vor dem Aus. Ein großer militärischer Konflikt kann nicht mehr mit derselben Gewissheit wie noch vor einem Vierteljahrhundert ausgeschlossen werden.

In der Tat sehen Europäer neue Kriege und Konflikte in Europa als größte Bedrohung. Das ergibt die repräsentative Umfrage "Sicherheitsradar 2019: Weckruf für Europa" des FES Regionalbüros für Zusammenarbeit und Frieden in Europa mit Sitz in Wien. Die Umfrage wurde in Kooperation mit dem Meinungsforschungsinstitut "Ipsos" in sieben europäischen Staaten im Sommer 2018 durchgeführt: in Deutschland, Frankreich, Lettland, Polen, Russland, Serbien und der Ukraine. Die Umfrage untersucht systematisch die Haltungen und Wertevorstellungen bezüglich der aktuellen außen- und sicherheitspolitischen Situation in Europa, fünf Jahre nach dem Ausbruch der Krise in der Ukraine und der Annexion der Krim durch Russland.

Die Auswahl der teilnehmenden Länder wurde aufgrund ihrer Bedeutung für die europäische Sicherheit getroffen: Frankreich und Deutschland sind Gründungsmitglieder der EU, deren Unterstützung für jede außenpolitische Initiative wichtig ist; Polen ist der bevölkerungsstärkste mittelosteuropäische EU-Mitgliedsstaat; Lettland ist Mitglied des historisch volatilen Baltikums und eine ehemalige Sowjetrepublik; Serbien ist ein bedeutendes Land im Südosten Europas, seit 2013 ein EU-Beitrittskandidat mit vielen Verbindungen zur EU, aber auch mit einer kulturellen Affinität zu Russland; Ukraine ist das größte Land des Programms der Östlichen Partnerschaft, das ein Assoziierungsabkommen und ein umfassendes Freihandelsabkommen mit der EU unterzeichnet hat (die territoriale Integrität der Ukraine ist durch die von Russland unterstützten Separatisten bedroht). Die Umfrage schließt Russland mit ein, weil ohne Russland jede Diskussion über Sicherheit in Europa sinnlos wäre.

Zusätzlich zur Umfrage wurden Gruppendiskussionen mit lokalen Experten und Politikberatern durchgeführt. Das Ziel war es, die typische Denkweise der lokalen Expertengemeinschaft zu ermitteln: Wie evaluieren Experten die aktuelle sicherheitspolitische Situation, und welche Maßnahmen empfehlen sie dementsprechend? Wie unterscheidet sich die Denkweise der Experten von der öffentlichen Meinung? In jedem Land nahm eine kleine Gruppe von ungefähr fünf Personen an einer angeleiteten offenen Diskussion teil.

Europas Bürger fühlen sich bedroht

Die Umfrage zeigt, dass Europas Bürger besorgt sind: 69 % aller Befragten glauben, dass auch ihr Land durch potentielle neue Kriege und Konflikte betroffen sein könnte. In der Ukraine ist die Kriegsangst Folge von Russlands gewaltsamen Eingreifen auf der Krim und in der Ostukraine sowie dem daraus resultierten und bis heute anhaltenden Konflikt. In Deutschland und Frankreich ist die Kriegsangst eher diffus. Als Gefahren für die Sicherheit werden sowohl die USA als auch Russland genannt. Für Polen hingegen stellt eindeutig Russland die Hauptbedrohung dar, Deutschland rangiert hier als Gefahr vor den USA. Auch in Lettland wird Russland am meisten gefürchtet. In Serbien erinnert man sich an den jugoslawischen Bürgerkrieg und den Einsatz der NATO im Kosovo-Konflikt 1999. Insofern werden hier in erster Linie Albanien, die USA und Kroatien als Bedrohung genannt. In Russland sieht man die USA als Hauptbedrohung. Offenbar wirkt das militärische Engagement in der Ukraine und in Syrien im öffentlichen Bewusstsein nicht angstauslösend. Hier sind die sowjetische Tradition und die Feindbildpropaganda seit 2012 wirksam. Gefragt nach den Gefahren für die Sicherheit in Europa, werden von den Befragten in allen Ländern zusammengenommen vor allem USA (50 %) und Russland (43 %) genannt, aber auch die Osterweiterung der NATO und die EU-Erweiterung (s. Grafik 1 auf S. 6).

Das konventionelle Militärpotential Russlands ist groß genug, um kleinere Nachbarn zu bedrohen. Das hat sich 2008 im Krieg mit Georgien gezeigt, aber auch 2014 bei der Angliederung ukrainischen Territoriums durch Russland. Daher sind strukturell alle Nachbarstaaten Russlands bedroht. Das trifft auch auf die baltischen und ostmitteleuropäischen Staaten zu, doch wird diese Bedrohung durch die Zugehörigkeit zur NATO neutralisiert. Russland ist strukturell durch die Existenz eines Militärbündnisses in Europa bedroht. Das Potential der NATO lässt aber gegenwärtig einen erfolgreichen konventionellen Militärschlag gegen Russland nicht zu.

Viele europäische Staaten sind unzufrieden mit ihrem Status

Eine große Herausforderung für die Sicherheit in Europa ist die Unzufriedenheit mit dem politischen Status einiger Staaten (s. Grafik 2 auf S. 6). Insbesondere Serben, Ukrainer und Polen (85 %, 74 % und 67 %) halten ihr jeweiliges Land für nicht angemessen anerkannt, während Deutsche und Franzosen mit dem Stellenwert ihres Landes zufrieden sind (71 % bzw. 59 %). Zudem sind vor allem Serben (75 %) und Russen (69 %) der Meinung, dass andere Staaten die Entwicklung ihres eigenen Landes aktiv behindern. Daraus folgt vor allem in Serbien, Polen und der Ukraine das politische Ziel, die Militärausgaben zu erhöhen (77 %, 68 % und 60,5 %). Nur 43 Prozent der Deutschen wünschen sich eine solche Entwicklung (s. Grafik 3 auf S. 7).

Die Befragten halten für die entscheidenden Faktoren, die das Verhältnis zu Russland ausmachen, den Ukraine-Konflikt (72 %) und die USA (68 %) (s. Grafik 4 auf S. 8). Dabei sind die Meinungsunterschiede zwischen Deutschen und Polen in beiden Fragen gering. 69 Prozent aller Befragten sind überzeugt, dass zu wenig Kooperation mit Russland ebenso ein Faktor ist, der das Verhältnis zu Russland bestimmt. Interessant ist, dass gerade Letten und Polen über diesem Durchschnitt liegen und Deutsche knapp darunter. Für die Zukunft stellt sich über die Hälfte der insgesamt Befragten mehr Kooperation mit Russland vor, wobei dieser Wert in der Ukraine sogar bei 27 Prozent liegt.

Internationale Organisationen sind wichtig

Die EU ist die Organisation, die laut der Umfrage in Zukunft eine größere Rolle spielen sollte, sie rangiert dabei knapp hinter den Vereinten Nationen (UN) und ein wenig vor der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Für eine werteorientierte Außenpolitik stimmen im Schnitt 61 Prozent der Befragten, nur bei Russen und Serben lag der Wert weit niedriger (s. Grafik 5 auf S. 9). Für eine rein interessenorientierte Außenpolitik stellt sich das Bild genau andersherum dar, Deutschland und Frankreich liegen hier unter dem Durchschnitt von 78 Prozent (s. Grafik 6 auf S. 9).

Der Ukraine-Konflikt

Die Herausforderungen in der und um die Ukraine, meinen bemerkenswerte 63 Prozent der Ukrainer, sollten vom eigenen Land gelöst werden. 56 Prozent von ihnen wünschen sich eine NATO-Mitgliedschaft (s. Grafik 8 auf S. 10). In Polen wünschen sich noch mehr Menschen eine ukrainische NATO-Mitgliedschaft, nämlich ganze 66,5 Prozent. In Deutschland sind es weitaus weniger: Nur 23 Prozent unterstützen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Eine EU-Mitgliedschaft erhoffen sich 73 Prozent der Ukrainer (in Deutschland sind es nur 26 %) (s. Grafik 7 auf S. 10). Die Befragten in Russland lehnen wenig überraschend eine EU- und vor allem eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ab (mit 55 und 75 %) (s. Grafiken 7 und 8 auf S. 10).

Russland im Sicherheitsradar

Für die Gesellschaft des heutigen Russland wird der Zerfall der UdSSR nach wie vor als eine traumatische Erfahrung wahrgenommen. Die Eliten und die Mehrheit der Bevölkerung erinnern sich sehr wohl daran, dass die Sowjetunion neben den USA "die andere Supermacht" war sowie die Führungsmacht des "sozialistischen Lagers". Der Verlust dieser Position und die Erfahrung ökonomischen und sozialen Niedergangs in den neunziger Jahren bestimmen die Haltung der russischen Gesellschaft bis heute. Die Haltung des "Westens" wurde als feindselig empfunden, die Erweiterung von EU und NATO wird als eine gegen Russland gerichtete Politik aufgefasst.

Wahrnehmung der eigenen Stellung

Daher geht bei der Umfrage die Mehrheit der Befragten davon aus, dass Russland nicht einen ihm angemessenen Platz in der Welt einnimmt (56 %), und dass es Mächte gibt, die Russlands internationale Rolle aktiv einschränken wollen (69 %). Doch wird auch wahrgenommen, dass Russland auf internationale Kooperation angewiesen ist (62 %). Drei Viertel der Befragten sehen sich als Teil Europas. Zugleich besteht noch ein größerer Anteil darauf, dass Russland eine ganz eigene Kultur hat.

In der russischen Gesellschaft gibt es einen beträchtlichen Anteil von Menschen (44 %), die davon ausgehen, dass Russland Gebietsansprüche an seine Nachbarn hat. Andererseits vertritt eine knappe Mehrheit von 54 Prozent die Meinung, dass Grenzen unverletzlich sind, und 52 Prozent sind der Meinung, dass ethnische Minderheiten kein Recht darauf haben, einen Staat über eine Unabhängigkeitserklärung zu verlassen. Das widerspricht der Haltung der russischen Regierung in der Ukraine und in Georgien. Allerdings entspricht es den Grundsätzen sowjetischer Außenpolitik, wie sie in der Schlussakte von Helsinki festgeschrieben wurden.

Insgesamt blickt man in Russland recht optimistisch in die Zukunft. Sowohl im politischen wie im wirtschaftlichen Bereich erwarten 38 Prozent der Befragten in den nächsten fünf Jahren positive Entwicklungen. In einem krassen Gegensatz hierzu stehen allerdings die Erwartungen für die persönliche Zukunft. Hier äußert eine Mehrheit der Befragten (81 %) erkennbar Sorgen.

Bedrohungsvorstellungen und europäische Sicherheit

Kriegsgefahr und Angst vor Terrorismus werden in Russland ebenso stark empfunden wie in anderen Ländern. Eine Mehrheit erwartet, dass potentielle Kriege Auswirkungen auf das eigene Land (70 %) oder auf Europa (59 %) haben werden. Angesichts des militärischen Engagements Russlands in Syrien und der Ostukraine ist das kein überraschendes Ergebnis, sondern eine realistische Einschätzung. Die Experten sind beunruhigt von der Krise des Systems der Rüstungskontrolle (Kündigung des INF-Vertrages).

In der aktuellen Situation nennen knapp 80 Prozent der russischen Befragten eine Bedrohung durch die USA und die NATO an erster Stelle. Über die Hälfte bewerten auch die Erweiterung der EU negativ. Die Annexion der Krim wird von fast 90 Prozent der Befragten befürwortet. Nach Ansicht der Befragten werde eine bessere Zusammenarbeit mit der EU gegenwärtig durch die Ukraine-Krise und die Sanktionen (77 %), durch die USA (82 %) und durch eine Einmischung der EU in die inneren Angelegenheiten Russlands (74 %) behindert.

Ähnlich wie in anderen Staaten empfindet man in Russland eine Bedrohung durch Desinformationskampagnen (73 %). Nationalismus wird als Bedrohung wahrgenommen – trotz der staatlichen Propaganda der letzten Jahre, die stark nationalistische Züge trägt.

Die Verantwortung für den Ukraine-Konflikt wird der Ukraine (83 %) und den USA (82 %) gegeben, es folgen die Separatisten (55 %) und die EU (57 %). Der Konflikt sollte einer diplomatischen Lösung zugeführt werden – dafür spricht sich die überwiegende Mehrheit der Befragten aus. Zu konkreteren Ansätzen bestehen offenbar keine besonderen Präferenzen: Zwei Drittel der russischen Befragten wollen die Lösung der Ukraine überlassen (wie im Übrigen die ukrainischen Befragten auch). Eine militärische Intervention wird von 70 Prozent abgelehnt. Dies widerspricht dem Verhalten der russischen Führung in Bezug auf die Ostukraine, zeigt aber auch, dass aggressives russisches Vorgehen in dieser Region nicht von der Gesellschaft ausgeht.

Politische Perspektiven

Mehr als die Hälfte (58 %) der befragten Russen lehnen eine stärkere internationale Rolle ihres Landes ab (Die Aussage lautete: "Mein Land soll international Verantwortung übernehmen und anderen Staaten helfen, auch wenn es meinem Land keine Vorteile bringt"). Allerdings plädiert die überwiegende Mehrheit für eine Führungsrolle einflussreicher Staaten. Hier kann man annehmen, dass sie Russland als einen einflussreichen Staat sehen. Jedenfalls wollen 83 Prozent eine aktive Außenpolitik und eine bedeutende Rolle Russlands bei der Lösung von Konflikten.

Inhaltlich will eine Mehrheit von 84 Prozent der russischen Befragten in der Außenpolitik nationale Interessen verfolgt sehen (s. Grafik 6 auf S. 9) und lehnt es zu 56 Prozent ab, die Außenpolitik an der Durchsetzung von Werten zu orientieren (s. Grafik 5 auf S. 9). Dies wurde auch von den Experten bekräftigt, wobei sich die Diskussion um interessensbasierte Deals drehte (dazugehöriges russisches Schlüsselverb war "dogoworitsja", dt.: "einen Deal oder ein Arrangement treffen"), was einen transaktionalen Ansatz in der Außenpolitik illustriert. Zwei Drittel der Befragten wollen eine klare Positionierung in Konflikten. Damit deckt sich die Einstellung der Bevölkerung mit der Großmachtpolitik, die die russische Führung verfolgt. Diese kann sich offenbar auf einen starken Rückhalt in der Gesellschaft stützen.

Bei der Gewährleistung von Sicherheit setzt die Mehrheit der Befragten in Russland vor allem auf die Vereinten Nationen (UN), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die postsowjetischen Zusammenschlüsse wie die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) und die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS). Immerhin wünschen überraschenderweise 40 Prozent eine wichtige Rolle der NATO. Mit der EU besteht offenbar ein erhebliches Konfliktpotential, trotzdem optieren zwei Drittel der Befragten für eine engere Kooperation (s. Grafik 9 auf S. 11).

Eine überwältigende Mehrheit der russischen Befragten spricht sich für eine diplomatische Lösung von Konflikten aus, indes hält etwa die Hälfte der Respondenten auch den Einsatz militärischer Gewalt für zulässig. Folgerichtig spricht sich auch eine Mehrheit von 53 Prozent für eine Steigerung der Militärausgaben aus. Experten in Russland unterstützten die Ansicht, die Lösung der Ukraine-Krise sei eine Voraussetzung für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen.

In dieser schwierigen Situation konzentrieren sich die Lösungsvorschläge, die die Experten diskutiert haben, auf realistische Schritte. Insbesondere besteht man auf einer Aufrechterhaltung des Dialogs, sowohl im Rahmen des NATO-Russland-Rates als auch in anderen Formaten. Eine Rückkehr zu den Prinzipien von Helsinki und zur Rüstungskontrolle wird als sinnvoll erachtet. Dabei wird auch eine Wiederherstellung der "Bipolarität" diskutiert, also eine Rückkehr zu einem internationalen Modell, wie es in Jalta 1945 formuliert wurde, jedoch als Ansatz zur Kooperation, nicht Konfrontation. Gleichzeitig haben die Experten den Handlungsspielraum als gering eingeschätzt. Russland sei nicht bereit, Fehler zuzugeben, zum Beispiel die militärische Präsenz in Donbass. Kompromisse werden grundsätzlich als Zeichen der Schwäche gewertet. In Anlehnung an die recht pragmatische europäische China-Politik wurde erwogen, den "Stolperstein namens Demokratie" aus dem Weg der Beziehungen zwischen der EU und Russland zu räumen, indem Unterschiede zwischen den jeweiligen Regimetypen akzeptiert werden. In jedem Fall erwartet man – das kommt auch in den Umfragen zum Ausdruck – ein Gespräch "auf Augenhöhe", eine Akzeptanz Russlands als Großmacht und die Berücksichtigung seiner Interessen.

Fazit

Eine abschließende vergleichende Analyse des Antwortverhaltens der Befragten aus sieben Ländern zeigt, dass sie einerseits klaren – wenn auch den ehemaligen Ost-West Gegensatz durchbrechenden – Gruppen zugeordnet werden können. Andererseits fallen die sicherheitspolitischen Einstellungen weniger unterschiedlich aus, als man es vielleicht erwartet hätte.

Wenn man die Länder anhand zweier Fragen in ein Vier-Quadrate-System platziert, ergibt sich ein interessantes Bild (s. Grafik 10 auf S. 12). Die X-Achse bildet die Einstellung zur Aussage ab "Mein Land soll international Verantwortung übernehmen und anderen Staaten helfen, auch wenn es meinem Land keine Vorteile bringt". Die Y-Achse stellt die (Un)zufriedenheit mit dem eigenen Status dar ("Mein Land hat nicht den Stellenwert auf der Welt, den es verdient"). Deutschland und Frankreich erscheinen als einzige Länder, die mit ihrem Status zufrieden und gleichzeitig bereit sind, international Verantwortung zu übernehmen. Diese Ländergruppe ist gewillt und fähig, die Führung beim Aufbau einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsordnung zu übernehmen.

Die Länder Polen, Lettland, Ukraine – die Gruppe der "Besorgten" – erscheinen mit ihrem Status mehr oder weniger unzufrieden, sind jedoch bereit, internationale Verantwortung zu übernehmen. Sie hätten ein Potential, beim deutsch-französischen Motor "mitzuziehen" und die europäische Sicherheit mitzugestalten. Russische Befragte dagegen sind weder mit dem Status ihres Landes zufrieden noch haben sie Interesse an einer Außenpolitik, die international Verantwortung übernimmt und anderen Staaten hilft. Russland fällt somit in die Kategorie der "Frustrierten".

Es fällt jedoch auf, dass Russland nicht allzu weit weg von der Mitte des Koordinatensystems liegt; bei anderen Fragen zeigen russische Befragte durchaus Bereitschaft, eine aktive Außenpolitik zu betreiben. Gleichwohl oszillieren die lettischen, polnischen oder serbischen Einstellungen je nach Frage zwischen den deutschen und russischen Haltungen. Die Umfrage zeigt, dass die Ländergruppen nicht in Stein gemeißelt sind und dass es durchaus Handlungsspielraum und Gestaltungspotential gibt. Dies ist ein entscheidender Unterschied zum Kalten Krieg: Bei der Schaffung einer nachhaltigen Friedensordnung sind heute weitaus mehr Länder beteiligt. Es handelt sich nicht mehr allein um die beiden Supermächte von einst, die vornehmlich die Sicherheitsordnung bestimmten, sondern nun auch um die EU-Mitgliedsstaaten in Mittelosteuropa sowie die Länder der Östlichen Partnerschaft wie auch Russland.

Lesetipp

Krumm, Reinhard; Alexandra Dienes, Simon Weiss, Hans-Henning Schröder, Sebastian Starystach, Stefan Bär: Security Radar: Wake-Up Call for Europe! Vienna: Friedrich-Ebert-Stiftung 2019; Externer Link: http://library.fes.de/pdf-files/bueros/wien/15176-20190412.pdf.

Fussnoten

Dr. Alexandra Dienes hat in Politikwissenschaft an der Universität Amsterdam promoviert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Regionalbüros für Zusammenarbeit und Frieden in Europa der Friedrich-Ebert-Stiftung (Wien).