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Analyse: Fällt alles zusammen? Urbane Infrastruktur und Permafrost in der russischen Arktis | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Fällt alles zusammen? Urbane Infrastruktur und Permafrost in der russischen Arktis

Nikolay I. Shiklomanov

/ 12 Minuten zu lesen

Die seit den 1960er Jahren in Sibirien errichteten Städte und Infrastrukturen leiden unter der Erwärmung des Permafrostbodens. Große fünf- bis zwölfstöckige Gebäude sind hier die Norm. Bis zu 30 Prozent der Gebäude sind in einem kritischen Zustand.

Winterlicher Blick über die sibirische Stadt Jakutsk und den Fluß Lena. Durch eine Erwärmung des Permafrost-Bodens kommt es hier zu einer Beschädigung der Pfeilerfundamente von Gebäuden. (© picture-alliance/dpa)

Zusammenfassung

Die sowjetische Politik zur Besiedelung des hohen Nordens hat in den 1960er bis 1980er Jahren zu einer massiven Migrationsbewegung dorthin geführt, die in der sowjetischen Arktis ein massives Bevölkerungswachstum und ein atemberaubendes Tempo der Urbanisierung zur Folge hatte. Mehrstöckige Gebäude, Straßennetze und andere Infrastruktur wurden errichtet, die die unberührte Tundra in anthropogene und urbane Landschaften verwandelten. Die – ungeachtet aller Kosten und Schwierigkeiten – starke Konzentration der Sowjetunion auf die Entwicklung der arktischen Gebiete hat dem modernen Russland ein problematisches Erbe hinterlassen. Eines der verbreiteten Probleme, das von vielen urbanen Gemeinschaften aus der Sowjetzeit geteilt wird, ist der fragile Zustand der auf Permafrostböden errichteten Infrastruktur. Dieser Beitrag bietet einen kurzen Überblick über die Herausforderungen, die im Zusammenhang mit urbaner Entwicklung in Permafrost-Gegenden entstehen. Das soll dem Versuch dienen, die Gründe für gegenwärtige Infrastrukturprobleme in vielen Siedlungen des russischen Nordens zu ermitteln.

Einführung

Die geplante sozio-ökonomische Entwicklung in der Sowjetzeit hat eine intensive Migration in die Arktis und eine Konzentration von Arbeitskräften in städtischen Siedlungen vorangetrieben, um den Abbau von mineralischen Rohstoffen und das Transportwesen zu gewährleisten. Diese Politik hat in der sowjetischen Arktis zu einer sehr hohen Urbanisierungsquote geführt. Die harten Umweltbedingungen bedeuten erhebliche und reichlich unikale Herausforderungen für die urbane Entwicklung. Insbesondere die Permafrostböden, die sich unter rund 66 Prozent des Territoriums der Russischen Föderation befinden, bedeuten, dass die Anwendung von standardmäßigen Baumaßnahmen Beschränkungen unterworfen ist. Somit waren innovative technische Lösungen erforderlich. Ungeachtet beträchtlicher technischer Fortschritte hinsichtlich der Permafrost-Bedingungen war in den 1980er Jahren in vielen Kommunen des Nordens ein markanter Schwund der Permafrostböden deutlich geworden, der sich seit den 1990er Jahren beschleunigte und zu einer verbreiteten Deformierung von Gebäuden geführt hat. Somit hat die – ungeachtet aller Kosten und Schwierigkeiten – starke Konzentration der Sowjetunion auf eine Entwicklung der Arktis dem modernen Russland ein problematisches Erbe hinterlassen. Dieser Beitrag bietet einen kurzen Überblick über die Herausforderungen, die im Zusammenhang mit urbaner Entwicklung in Permafrost-Gegenden entstehen. Das soll dem Versuch dienen, die Gründe für gegenwärtige Infrastrukturprobleme in vielen Kommunen des russischen Nordens zu ermitteln.

Permafrostboden

Permafrostboden (russ.: wetschnaja merslota ) wird schlicht als ein Boden definiert, der über mindestens zwei aufeinanderfolgende Jahre hinweg eine Temperatur von unter 0° Celsius aufweist. Der Begriff Permafrost wird unabhängig von der materiellen Zusammensetzung verwendet und bezieht sich ausschließlich auf den thermalen Zustand des Bodens. Trotz der einfachen Definition ist der Prozess seiner Herausbildung, Erhaltung und seines Abbaus ziemlich komplex. Auch wenn die Bodentemperatur letztlich durch die klimatischen Bedingungen bestimmt wird, steht das Vorhandensein oder Fehlen von Permafrostböden stark unter dem Einfluss vieler lokaler Faktoren, die den Wärmeaustausch zwischen der Atmosphäre und dem jeweiligen Boden bestimmen. So wirken natürliche Bodenbedeckungen wie Schnee oder Vegetation als Isolierung, die den Boden vor Erwärmung im Sommer und/oder Abkühlung in der Winterzeit bewahren. Die Fähigkeit des betreffenden Bodens zur Speicherung von Feuchtigkeit und zur Wärmeleitung beeinflusst andere Parameter der Permafrostböden, etwa deren Mächtigkeit und die Temperatur. Je nach Klimabedingungen und der Beschaffenheit der Oberfläche und des Untergrunds kann die Permafrost-Schicht wenige Zentimeter dünn oder aber anderthalb Kilometer dick sein und zwischen ein paar Jahren bis zu vielen Jahrtausenden bestehen. Das Vorhandensein von Eis ist zwar kein Definitionskriterium für Permafrost, doch ist Eis im Untergrund für viele spezifische Merkmale und Probleme in Permafrost-Regionen verantwortlich. Wenn die thermale Stabilität aufrechterhalten wird, können gefrorene eisgebunden Sedimente in der Lage sein, beträchtliche Lasten durch von Menschenhand geschaffener Strukturen tragen. Ein Abschmelzen dieses Bodeneises aufgrund eines erhöhten Wärmeeintrags in unterhalb der Oberfläche liegende, eisreiche Permafrost-Schichten führt zu Bodenverdichtungen und beträchtlichen Oberflächendeformationen. Das kann in Folge einer Klimaerwärmung und/oder durch Eingriffe an der Oberfläche durch menschliche Aktivität geschehen. Daher ist für die Stabilität jedweder menschlicher Infrastruktur, die auf Permafrostböden errichtet wurde, eine Aufrechterhaltung des thermalen Zustandes der eisreichen gefrorenen Sedimente erforderlich. Permafrostböden stellen also selbst unter stabilen Klimabedingungen ein unverwechselbares, höchst herausforderndes Paket an technischen Herausforderungen dar.

Entwicklung der russischen Permafrost-Regionen

Die ersten schriftlichen Zeugnisse über ganzjährig gefrorene Böden stammen aus dem 17. Jahrhundert, als russische Kaufleute begannen, die entlegenen Regionen Sibiriens zu erkunden und eine Reihe von Außenposten in Permafrost-Gegenden errichteten. Die erste bedeutende wirtschaftliche Entwicklung von Permafrost-Regionen in Russland erfolgte allerdings erst an der Wende zum 20. Jahrhundert, und zwar mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Beim Bau der "Großen sibirischen Eisenbahn", der 1916 abgeschlossen wurde, sahen sich die russischen Ingenieure großen Problemen im Zusammenhang mit Permafrostböden gegenüber. So waren Bauwerke und Gleisbette nahezu umgehend nach ihrer Errichtung beträchtlichen Deformierungen unterworfen. Der Grund lag in den Veränderungen des thermalen Regimes im eisreichen Permafrost-Untergrund. Über die folgenden 100 Jahre war ein fortgesetzter Neubau mehrerer Abschnitte der Transsibirischen Eisenbahn notwendig, um einen normalen Betrieb der Bahn gewährleisten und stabilisieren zu können.

In den ersten Jahrzehnten nach dem Bau der Transsib hat man in Russland wertvolle Erfahrungen gesammelt, durch die schrittweise Baumethoden für Permafrost-Regionen entwickelt wurden. Der große Durchbruch erfolgte allerdings erst in den 1950er Jahren und war mit einem weiteren riesigen Infrastrukturprojekt in Permafrost-Gegenden verbunden, nämlich mit der Entwicklung des Bergbau- und Metallurgie-Komplexes in der Stadt Norilsk auf der Tajmyr-Halbinsel im hohen Norden Mittelsibiriens. Der Bauingenieur Michail Kim hat ein System von "Pfeilerfundamenten" für Bauten unter Permafrost-Bedingungen perfektioniert. Diese Pfeilerfundamente bestehen aus mehreren Reihen 8 mal 16 Meter starker Betonpfeiler, die in den Permafrost "eingefroren" sind, sowie einer Anzahl von Betonträgern, die in einer Höhe von 1,2–1,8 Metern über Grund auf den Fundamenten aufliegen. Ein solches Fundament sorgt für eine Luftschicht, die die vom Bauwerk erzeugte Wärme wirksam vom gefrorenen Untergrund isoliert. Dadurch wird eine Erwärmung des eisreichen Permafrostbodens verhindert. Die Fähigkeit der Pfeilerfundamente, die strukturelle Last des Bauwerks zu stützen (die Tragfähigkeit), beruht auf der temperaturabhängigen gefrorenen Bindung zwischen den Pfeilern und dem Permafrostboden: Je niedriger die Temperatur des Permafrostbodens, desto größer die Tragfähigkeit des Pfeilerfundaments. Allerdings wurde das nicht als Problem angesehen, da die Pfeilerfundamente für eine Absenkung der Permafrost-Temperaturen sorgen, und zwar aufgrund der guten Belüftung des Leerraumes zwischen Bauwerk und Boden, der fehlenden Schneedecke und der Schattenbedingungen unter dem Bauwerk. Dadurch wurde es selbst in jenen Gegenden als wirksam eingeschätzt, in denen eisreicher Permafrostboden typisch ist, bei dem die Temperatur in der Nähe des Schmelzpunktes liegt. Am wichtigsten war jedoch, dass Kims Fundamente im Vergleich zu anderen Methoden relativ kostengünstig und sehr zügig gebaut werden konnten. Dieser Umstand fiel mit der Entwicklung der Produktion von vorgefertigten Betonelementen zusammen, die auf einem Pfeilerfundament schnell zu mehrstöckigen Wohn-, Gemeinschafts-, Kultur- oder Industriegebäuden montiert werden konnten. Dadurch stieg die Rate, mit der in Norilsk Wohngebäude errichtet wurden, von jährlich fünf in den 1950er Jahren auf rund 18–20 pro Jahr in den 1960er Jahren bis in die späten 1980er Jahre. Die Bauweise auf Pfeilern wurde als große technische Errungenschaft betrachtet, sodass in den sowjetischen Medien weithin verkündet wurde: "Der Permafrost ist erobert".

Nach dem Experiment in Norilsk verbreiteten sich die Pfeilerfundamente schnell in den riesigen Permafrost-Regionen Eurasiens und trugen ganz erheblich zu einer beschleunigten urbanen und industriellen Entwicklung der sowjetischen Arktis bei. Über 75 Prozent der Gebäude in den russischen Permafrost-Regionen wurden auf Pfeilerfundamenten errichtet.

Hier ist zu erwähnen, dass Pfeilerfundamente auch in Nordamerika die überwiegende Bauweise unter Permafrost-Bedingungen darstellen. Die Entwicklung dort wird allerdings von der in der russischen Arktis weit in den Schatten gestellt. Die Siedlungen in Alaska und Kanada bestehen vorwiegend aus kleinen Häusern aus Holz oder gemischten Materialien, während in Russland selbst in kleinen, entlegenen arktischen Städten große fünf- bis zwölfstöckige Gebäude aus Beton oder Mauerwerk die Norm darstellen.

Erwärmung und Abbau der urbanen Permafrostböden

Ungeachtet des verkündeten "Sieges über den Permafrost" kam es zu immer zahlreicheren Berichten über strukturelle Deformierungen bei Gebäuden, die rund 10–15 Jahre nach dem ursprünglichen Bau durch eine Erwärmung des Permafrost-Bodens versursacht wurden. So wurde beispielsweise der Einsturz von Betongebäuden 1969 und 1971 in der ostsibirischen Großstadt Jakutsk auf eine Erwärmung des Permafrost-Bodens und eine dadurch verringerte Tragfähigkeit der Pfeilerfundamente zurückgeführt. Eine anschließende detaillierte Analyse der städtischen Infrastruktur förderte zutage, dass in Jakutsk rund 100 gemauerte, auf Pfeilerfundamenten errichtete Gebäude Deformationen aufwiesen.

In Norilsk stürzte 1976 ein zweistöckiges Restaurant ein, wobei 12 Personen ums Leben kamen und 30 verletzt wurden. Diese Katastrophe ist auf die schlechte Qualität dieses spezifischen Gebäudes zurückgeführt worden. Allerdings wurden in den 1980er Jahren bei über 30 großen Wohngebäuden in verschiedenen Stadtteilen beträchtliche Deformierungen entdeckt, sodass sie abgerissen werden mussten. Den Temperaturmessungen unterhalb der Wohngebäude in Norilsk zufolge wurde 1989 bei 39 Gebäuden, 1995 bei 145 und 2000 bei 393 Gebäuden ein Schwund der Permafrostböden festgestellt.

Bis Mitte der 1990er Jahre wurde offensichtlich, dass die Probleme mit der Stabilität auf Permafrostböden weit verbreitet sind. Untersuchungen zur Infrastruktur, die Ende der 1990er Jahre durchgeführt wurden, haben ergeben, dass zwischen 10 und 80 Prozent der städtischen Infrastruktur potenziell in einem gefährlichen Zustand ist. Die Quote der permafrostbedingten Schäden an der Infrastruktur hat im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte immer stärker zugenommen. So sind in den 2000er Jahren in Norilsk nur 10 Prozent der Infrastruktur wegen permafrostbedingter Deformierungen in einem kritischen Zustand gewesen. Bis Mitte der 2010er Jahre waren es schon über 30 Prozent. In diesem Wert ist allerdings nicht die große Anzahl von Gebäuden enthalten, die wegen ihres potenziell gefährlichen Zustandes abgerissen werden mussten. Die schwindende Stabilität der Infrastruktur auf Permafrostböden erlangte weltweite Aufmerksamkeit, als im Sommer 2020 der Tank eines Öllagers in Norilsk zusammenbrach, weil die Tragfähigkeit des Pfeilerfundaments nachließ. Dabei flossen 21.000 Tonnen Dieseltreibstoff in nahegelegene Flüsse und Seen.

Gründe für permafrostbedingte Infrastrukturprobleme in den Kommunen der russischen Arktis

Es gibt zwar die Tendenz, permafrostbedingte Probleme mit der Stabilität der Infrastruktur allein klimabedingten Umweltveränderungen zuzuschreiben, doch scheint das Problem etwas komplexer zu sein. Für die zu beobachtende Erwärmung und den Abbau der Permafrostböden zeichnet die beispiellose Geschwindigkeit, mit der die Lufttemperatur in den polnahen Gebieten der Arktis in den letzten Jahrzehnten angestiegen ist, verantwortlich. Dadurch lassen sich die größeren Muster der abnehmenden Infrastrukturstabilität erklären. Allerdings müssen auch menschliche und sozioökonomische Faktoren berücksichtigt werden, um vor Ort den Zustand der Infrastruktur unter Permafrost-Bedingungen zu erklären.

Die Stadtplanung in der Arktis, unter anderem die Anordnung der Straßen und Plätze, die Baudichte, die Standorte und Größe der bewachsenen Flächen und die Art der Bodenbedeckung wurde vor allem von ästhetischen und/oder funktionalen Überlegungen bestimmt. Die Existenz von Permafrostböden wurde vor allem durch die Umsetzung von infrastrukturspezifischen technischen Lösungen berücksichtigt. Die komplexe Interaktion zwischen den verschiedenen Komponenten urbaner Landschaften und deren kombinierter Auswirkungen auf die Temperatur der Permafrostböden sind nie vollständig berücksichtigt worden. Bei der Entwicklung der Städte des hohen Nordens wurde beispielsweise allgemein angenommen, dass wegen der niedrigen Temperaturen und der geringen Niederschläge im arktischen Klima eine Kanalisation des Regenwassers nicht notwendig sei. Allerdings kann sich Schnee ungeachtet der geringen Niederschlagsmengen innerhalb der Stadtblöcke durch veränderte Winde und die Schneeräumung beträchtlich auftürmen. Schneehaufen reduzieren das Abkühlen des Permafrostbodens im Winter beträchtlich und führen zu Ansammlungen von Schmelzwasser in den von den Pfeilerfundamenten gebildeten Senken. Beide Faktoren führen zu einer Erwärmung der Permafrostböden und werden als wichtige Gründe für die strukturelle Deformierung von Gebäuden betrachtet. Darüber hinaus können viele gewöhnliche Funktionen von Städten wie etwa der Bau und die Instandhaltung von Straßen und Versorgungsleitungen, das Anpflanzen oder Entfernen von Vegetation oder Änderungen von Verkehrsmustern alle zu einer beträchtlichen Modifizierung sowohl der mechanischen als auch der thermalen Eigenschaften des gefrorenen Untergrunds führen. Das hat in der Regel negative Auswirkungen auf die Tragfähigkeit der Fundamente. Selbst urbane und industrielle Verschmutzungen können durch eine Versalzung des Bodens und eine damit verbundene Absenkung des Gefrierpunktes sowie eine chemische Zerrüttung der Pfeilerfundamente die Stabilität der Infrastruktur ganz erheblich beeinträchtigen. Es ist also extrem schwierig, in einer höchst komplexen und sich stetig entwickelnden urbanen Umgebung das thermale Regime der Permafrostböden beizubehalten, selbst wenn alle Infrastrukturelemente angemessen entworfen und gebaut wurden.

Die rasante urbane Entwicklung in der russischen Arktis wurde in vielen Fällen auf Kosten der Bauqualität erreicht. Die meisten nach 1960 errichteten Wohngebäude wurden aus vorgefertigten Betonelementen gebaut. Die Bauweise und der Herstellungsprozess glichen stark jenen überall sonst in der Sowjetunion, wobei das extreme Klima des Nordens nicht berücksichtigt wurde. So war etwa der Stahlbeton, der hauptsächlich für die Pfeilerfundamente verwendet wurde, in der Arktis höchst anfällig für schnelle Zerrüttung. Die Konstruktionsstabilität von Strukturen, die für Permafrost-Regionen entworfen wurden, ging von einer Verringerung der Tragfähigkeit der Fundamente aus, die über die Lebenszeit des Gebäudes hinweg (selten mehr als 30 Jahre) nur zwischen fünf und 35 Prozent betragen würde. Beträchtliche Schwankungen der Temperatur der Permafrostböden, die sowohl auf anthropogene wie klimatische Faktoren zurückzuführen ist, kann aber zu einer sehr viel stärkeren Verringerung der Tragfähigkeit führen. Eine Nutzung der Gebäude weit über die Betriebsfristen hinaus kann zu einem Ausfall der Infrastruktur führen.

In vielen russischen Städten ist ein beträchtlicher Teil der Auswirkungen auf die urbanen Permafrostböden auf die sozioökonomische Krise in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurückzuführen. Das politische und wirtschaftliche System der Sowjetunion zerbröckelte, die Förderung für besonders gefährdete Industrien und Städte schmolz dahin. In vielen Kommunen der russischen Arktis war diese Phase von Baustopps und der Aussetzung von Entwicklungsprojekten gekennzeichnet, durch verringerten Umfang und Qualität der Instandhaltung von Infrastruktur sowie durch den Wegzug von Arbeitskräften. Die rasanten marktwirtschaftlichen Reformen führten zu einer Privatisierung wichtiger Funktionen der Städte, etwa der Instandhaltung von Gebäuden, Städten oder Versorgungsleitungen sowie der Schneeräumung und des Monitorings der Permafrostböden. Eine große Zahl privater Auftragnehmer hat häufig Dienste von schwankender Qualität und ohne Berücksichtigung der Permafrost-Bedingungen angeboten. Viele Betriebspraktiken, die das thermale Regime der Böden stabilisieren sollten, wurden vernachlässigt. Diese sozioökonomischen Faktoren haben beträchtlich zum Niedergang der alternden urbanen Infrastruktur in der gesamten russischen Arktis beigetragen. Sie haben zu einer weiteren Erwärmung der Permafrostböden geführt, was wiederum die strukturelle Stabilität der Gebäude beeinträchtigte. Diese negativen Rückwirkungen wurden durch den beschleunigten Wandel der klimatischen Bedingungen weiter verstärkt.

Schlussfolgerungen

Der Klimawandel, der in den arktischen und subarktischen Regionen Russlands zu beobachten ist, führt zu einem Temperaturanstieg und vermehrten Niederschlägen. Dieser Wandel kann zwar dezidierte Auswirkungen auf die Permafrostböden haben, doch können die registrierten Klimasignale die Erwärmung der Permafrostböden und den Niedergang in vielen russischen Kommunen nicht vollständig erklären. Allerdings haben die klimabedingten Veränderungen zusätzliche Belastungen für die alternde städtische Infrastruktur bedeutet, deren Stabilität bereits durch technogene und sozioökonomische Faktoren erheblich beeinträchtigt war. Sicher ist, dass relativ die Bedeutung der Klimafolgen für die Stabilität der Infrastruktur wohl zunehmen wird.

Zwar ist eine Reihe von Konstruktionslösungen verfügbar, um die negativen Auswirkungen der veränderten Permafrost-Bedingungen auf die Infrastruktur abzumildern, doch sind in vielen wirtschaftlich verwundbaren Kommunen Russlands die Kosten für eine stadtweite Anwendung unerschwinglich. Unsicherheiten hinsichtlich detailgenauer Projektionen des Klimawandels machen die Entwicklung angemessener Strategien für eine kostengünstige Anpassung und Schadensbegrenzung noch komplizierter. Es scheint, dass das Problem der Infrastrukturstabilität auf Permafrostböden in Russland auf höchster Ebene wahrgenommen wird. So wurde zum Beispiel der Abbau der Permafrostböden und dessen Auswirkungen auf die Infrastruktur in der 2013 verabschiedeten "Russischen Strategie zur Entwicklung der arktischen Regionen und der Gewährleistung der nationalen Sicherheit bis 2020" (http://government.ru/info/18360) und dann im "Nationalen Plan zur Anpassung an den Klimawandel", der im Dezember 2019 von der russischen Regierung verabschiedet wurde (http://government.ru/news/38739/), als Frage der nationalen Sicherheit eingestuft. Angesichts der gegenwärtigen geopolitischen Prioritäten und der wirtschaftlichen Probleme Russlands bleibt es allerdings höchst ungewiss, ob diese Anerkennung des Problems auch Taten nach sich ziehen wird.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Lesetipps

  • Streletskiy D. A.; L. Suter, N. I. Shiklomanov, B. Porfiriev, D. Eliseev: Assessment of Climate Change Impacts on Buildings, Structures and Infrastructure in the Russian Regions on Permafrost, in: Environmental Research Letters, 14.2019, Nr. 2, 1. Februar 2019; Externer Link: https://iopscience.iop.org/article/10.1088/1748-9326/aaf5e6/pdf.

  • Shiklomanov, N. I.; D. A.Streletskiy, T. B. Swales, V. A. Kokorev: Climate Change and Stability of Urban Infrastructure in Russian Permafrost Regions: Prognostic Assessment based on GCM Climate Projections, in: Geographical Review, Oktober 2016, S. 125–143; Externer Link: https://www.researchgate.net/.

  • Shiklomanov N. I.; D. A. Streletskiy, V. I. Grebenets, L. Suiter: Conquering the permafrost: urban infrastructure development in Norilsk, Russia, in: Polar Geography, Mai 2017, S. 273–290; Externer Link: https://www.researchgate.net/.

  • Shiklomanov, N. I.: From exploration to systematic investigation: Development of geocryology in 19th-and early-20th-century Russia, in: Physical Geography, 26.2005, Nr. 4, S. 249–263.

Fussnoten

Dr. Nikolay I. Shiklomanov ist Professor für Geografie an der George Washington Universität in Washington D. C. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Auswirkungen des Klimawandels auf Regionen mit Permafrost-Bedingungen. Professor Shiklomanov war jüngst an einer internationalen and interdisziplinären Studie zur nachhaltigen urbanen Entwicklung in der Arktis beteiligt.