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"Die alten Bilder kehren zurück" | Sinti und Roma in Europa | bpb.de

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"Die alten Bilder kehren zurück" Interview: Der deutsch-ungarische Künstler André Raatzsch über das Kunstprojekt "Romanistan“

Daniel Bax André Jeno Raatzsch

/ 12 Minuten zu lesen

Der deutsch-ungarische Künstler André Raatzsch hat das Kunstprojekt "Romanistan – Crossing Spaces in Europe" mit initiiert, das mit den Mitteln der Kunst gegen die immer gleichen Stereotype Positionen bezieht und zur Diskussion einlädt. Ein Gespräch über Roma-Kunst, zähe Klischees und Europas Umgang mit seinen Minderheiten.

(© Paula Bulling)

Herr Raatzsch, Ihr Vater ist Deutscher, Ihre Mutter stammt aus Ungarn. Sie sind in der DDR geboren und in Ungarn aufgewachsen. Wie hat Sie das geprägt?

Ich gehöre noch zu der Generation, die mehrere Regime und die Wende in Europa erlebt hat, das prägt mein Weltbild. Meine Mutter hat in Ilmenau in Thüringen in einer Porzellanfabrik gearbeitet. 1981 sind wir dann nach Ungarn gezogen, da war ich drei Jahre alt. An der Schule habe ich erst einmal vier Jahre lang Russisch gelernt und durfte noch diese schönen Pionierhalstücher tragen, Ungarn war ja damals noch sozialistisch. Als ich 15 Jahre alt war, fiel in Berlin die Mauer und mein Vater nahm mich nur deshalb mit, weil ich wie er Anspruch auf das sogenannte Begrüßungsgeld hatte. Mit meinem Vater und meinem Bruder sind wir dann nach Westberlin und sofort in diese bunte, farbige Welt der großen Einkaufszentren eingetaucht. Wenn wir also über Identität und Herkunft reden: In diesem Moment war ich wieder Ostdeutscher, mehr als Ungar oder Roma.

Wie sind Sie in Ungarn aufgewachsen?

Wir haben im Süden von Ungarn gelebt, in der Stadt Komló nahe von Pécs. Das war eine Arbeiterstadt, in dieser Gegend wurde früher, bis in die 1990er-Jahre hinein, Schwarzkohle gefördert. Diese Industrie ist leider komplett weggebrochen. Deswegen haben sich die Städte dort in Geisterstädte verwandelt.

Wurden Sie aufgrund Ihrer Herkunft diskriminiert?

Als Kind habe ich es oft erlebt, dass meine Mutter im Bus oder auf offener Straße diskriminiert wurde. Dazu muss man wissen, dass meine Mutter wie eine Durchschnittsbürgerin aussah, nur, dass sie eine dunklere Hautfarbe hatte. Mein deutscher Vater hingegen wurde in Ruhe gelassen. Jeden Tag diskriminiert zu werden heißt, das Vertrauen in seine Umwelt zu verlieren. Man wartet immer darauf, wann man das nächste Mal wieder beschimpft oder mit Blicken ausgegrenzt wird. Viele möchten sich ja integrieren und dem ausweichen. Aber wenn man eine zu braune Haut hat und andere Charakteristika aufweist, dann ist das schwer. Wobei ich noch zu den "Glücklichen" gehöre, wenn man so will, denen man ihre Herkunft nicht direkt ansieht und die dem alltäglichen Rassismus deshalb nicht so oft ausgesetzt sind. Aber ich besitze zwei Ohren, und ich kann die geflüsterten Wörter gut hören. Und dieses Flüstern, muss man sagen, ist in Ungarn heute zum Schrei geworden.

Wie sind Sie zur Kunst gekommen?

Da steckte kein Plan dahinter. Schon in der Schule habe ich früh aus Knete kleine Skulpturen geformt. Trotzdem wollte ich nach der Schule erst einmal Koch oder Konditor werden, wie sich das für eine bürgerliche Familie gehört. Ich habe mich sogar in Österreich auf eine Lehrstelle beworben, aber ohne Erfolg. Dann habe ich in Pécs eine fünfjährige Ausbildung zum Hochbautechniker gemacht und mit dem Abitur abgeschlossen. Danach habe ich in Budapest eine Ausbildung zum Steinbildhauer absolviert. Dann habe ich eine Weile als Steinbildhauer und Restaurator gearbeitet – erst in Auggen bei Freiburg, dann in Budapest. 2001 habe ich mich dann an der Universität der Künste in Budapest beworben und wurde aufgenommen, ich kam dort in die Klasse von Tamás Körösényi. Bis dahin hatte ich noch nichts von der Roma-Kultur gehört – davon, dass das eine prächtige Kultur mit einer reichen Sprache und lebendigen Künstlern ist. Erst später habe ich das erfahren, im Rahmen der Freien Universität "Romaversitas", die sich speziell an Studenten mit Roma-Hintergrund richtete.

Verstehen Sie sich denn heute als Roma-Künstler?

Der berühmte Maler und Bildhauer Tamás Péli (1948 bis 1994) hat auf die Frage, ob er sich als Roma-Künstler verstehe, immer gesagt: Nein, ich bin ein europäischer Künstler, aber natürlich auch Ungar und Roma, und in seiner Kunst hat er bewusst die Kultur und Traditionen der Roma einfließen lassen. Ich bezeichne mich als einen Roma-Intellektuellen der dritten Generation. Warum die dritten? Weil ich das, was ich über diese Gruppe und ihre Kultur gelernt habe, den Prozessen zu verdanken habe, die von der ersten und zweiten Generation von Roma-Intellektuellen angestoßen worden sind. Aber wenn ich mich mit meinen Kollegen treffe, dann sprechen wir nicht nur über Identität und Kultur der Roma, sondern auch über andere Themen. Zum Beispiel über Europa: Was passiert da zurzeit? Was macht die gemeinsame kulturelle Identität Europas aus? Und wie können die Roma daran als gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen teilhaben?

In der europäischen Kultur und der populären Imagination sind die Roma seit jeher eine populäre Projektionsfläche für romantische Fantasien: von der feurigen Zigeunerin in der Literatur über den Zigeunerbaron in der Operette bis hin zur französischen Zigarettenmarke Gitanes. Wie gehen Sie mit diesen Bildern um?

Man muss diese Klischees hinterfragen, dekonstruieren und im Kontext der vielfältigen kulturellen Identität Europas betrachten. Von den Bayern heißt es ja auch, dass sie immer nur Bier trinken, viel Wurst essen und Lederhosen tragen, und von den Ungarn, dass sie Gulasch und Paprika lieben. Ja, diese Zuschreibungen gehören zum globalen kollektiven Gedächtnis, aber sie sind bestenfalls Halbwahrheiten oder Klischees. Mit den Roma ist es das Gleiche. Nur ist es fast unmöglich, gegen diese Klischees anzukämpfen, da sie sich tief in das europäische Gedächtnis eingegraben haben. Denn worüber reden wir? Es heißt immer, in Europa leben zwölf Millionen Sinti und Roma. Man braucht diese Zahl, um dieser Minderheit den Weg zur gleichberechtigten Teilhabe zu ebnen. Aber sie ist auch ein Konstrukt, das zu sehr großen Missverständnissen führt. Denn diese zwölf Millionen Roma gliedern sich in rund 50 verschiedene, sich selbst aufgrund ihrer Sprache, Herkunft und Geschichte als kulturelle Minderheit verstehende Gruppen, und es gibt auch noch Prozesse der Integration und Assimilation. Darum ist die Sprache der Roma in das rote UNESCO-Buch für gefährdete Sprachen aufgenommen worden – weil sie droht, mit den Riten, Geschichten, Erinnerungen und der Identität, die darin bewahrt wird, zu verschwinden.

Ging es den Roma in Ungarn im Sozialismus besser?

Im Sozialismus war es erwünscht, dass alle arbeiten und Teil der Gemeinschaft sein sollten. Aber als kulturelle Minderheit wurden die Roma, nicht anders als die Donauschwaben oder die Serben, in Ungarn unterdrückt. Sie konnten ihre Kultur nicht frei leben, sie sollten sich assimilieren. Klar ist es wichtig, die Sprache der Mehrheitsgesellschaft zu sprechen. Aber es ist auch wichtig, die eigene Sprache und das eigene kulturelle Erbe zu bewahren und zu pflegen.

Leider existiert in den meisten Ländern – in Deutschland, Ungarn, den Ländern im Osten Europas – bis heute keine klare Vorstellung darüber, welchen Status man dieser Minderheit einräumen will. Denn statt sie zu dieser homogenen Gruppe zu verklären, die in ihrer eigenen Welt lebt, sollten wir sie als das sehen, was sie ist: als eine kulturelle Minderheit, die ein integraler Teil jener Gesellschaften ist, in denen sie schon seit Jahrhunderten lebt, in deren lokalen Kulturen sie verwurzelt ist, deren Sprache sie beherrscht und deren Schulen ihre Kinder besuchen. Es gibt ja keine eigenen Schulen für Roma, oder nur sehr wenige. Es wäre interessant, sich mal zu fragen, was es für die staatlichen Schulen in Ungarn bedeuten würde, wenn dort neben Ungarisch auch Romanes als Minderheitensprache zugelassen und anerkannt würde. Würde es die Integrationsdebatte befördern? Was würden die Roma dazu sagen?

Was glauben Sie?

Der Prozess der Nationenbildung in Europa hat dazu geführt, dass wir einen großen Teil der Folklore der Deutschen und Franzosen im Völkerkundemuseum oder im Geschichtsmuseum wiederfinden. Aber bei vielen Roma stellen wir fest, dass sie ihre Sitten und Bräuche noch heute leben. Das kommt von ihrem Status als Minderheit, deren Geschichte häufig von Absonderung geprägt ist. Es ist auch eine Reaktion auf die Forderungen nach Assimilation und Integration, dass man sich fragt: Wie kann ich mein kulturelles Erbe und meine Identität bewahren, die mir von den Eltern überliefert worden ist? Muss ich sie einfach hinter mir lassen? Oder bleibe ich meinem Kulturkreis treu und schütze ihn? Die Globalisierung der Welt wirft viele neue Fragen nach Identität und individueller Teilhabe auf. Das betrifft nicht allein die Minderheiten im Allgemeinen oder die Roma im Besonderen. Auch die türkische Diaspora in Berlin steht vor ähnlichen Fragen. Ich habe in Ungarn viele Freunde, die aus der Minderheit der Donauschwaben stammen. Auch sie leiden darunter, dass ihre Sprache und Kultur, die sich in Sitten, Kleidung und lebendiger Folklore spiegelt, immer mehr verschwindet.

Ist das nicht einfach der Lauf der Dinge?

Natürlich waren Integration und Assimilation schon immer eine Option, warum auch nicht? Aber warum kann man es sich nicht vorstellen, dass aus den sogenannten Roma-Slums, in denen die Menschen nach ihren alten Sitten und Gebräuchen leben, mit der nötigen Infrastruktur im Laufe der Zeit Dörfer und Städte werden und sie so die Art und Weise ihrer Integration selbst bestimmen? Im jüdischen Viertel von Budapest eröffnen jetzt wieder jüdische Restaurants und Buchläden, in Städten wie London gibt es Chinatown. Ist das eine Gefahr? Nein, das gehört zum Prozess der Globalisierung und zur kulturellen Vielfalt Europas dazu.

Wie sieht man das in Ungarn?

Ungarn ist derzeit von einer Verwirrung und einem nationalistischen Fieber erfasst, es ist eine tief gespaltene Gesellschaft. Die Mehrheit dort weiß selbst nicht: Will sie zu Europa gehören oder möchte sie wieder neue Mauern errichten? Die ungarischen Roma sind deshalb heimatlos geworden. Sie müssen aber selbst bestimmen, was sie sein wollen: Ungarn, Roma oder Europäer. Denn Ungarn ist mein Land: Ich besitze keine zweite Heimat in Indien. Und ich empfinde eine Verantwortung für das, was in Ungarn passiert – und nicht nur, was die Roma dort betrifft, sondern ganz allgemein.

Wo müsste eine emanzipatorische Politik ansetzen?

Die Frage ist: Wie kann eine kulturelle Minderheit wie die Roma in Europa aus ihrer Ohnmacht heraus finden, wenn ihr die Mittel, die Institutionen und die Anerkennung durch die Politik fehlen? Ich zum Beispiel habe das ungarische Bildungssystem durchlaufen, von der Grundschule bis zur Universität. Aber ich kann nicht behaupten, dort eine Anerkennung meiner kulturellen Identität erfahren zu haben. Man sagt, die Roma sind unsichtbar. Aber das stimmt nicht. Es ist nur so, dass sie an der Universität und im Bildungskanon nicht vorkommen. Erst an der Sommeruniversität, an der ich teilgenommen habe, gab es die Möglichkeit, Lesungen und Kurse zur Roma-Kunst und -Kultur zu besuchen. Die Soros Foundation ist in Ungarn im Bereich Bürgerrechte- und Roma-Minderheit sehr aktiv, sie hat wichtige Impulse für eine emanzipatorische Politik gegeben. Ohne sie wäre ich vermutlich nicht da, wo ich jetzt bin. Leider gibt es bis heute keine Bildungs- oder Kulturinstitutionen, die legitimes Wissen über die Kultur der Roma produzieren.

Was müsste passieren?

Die Bildungseinrichtungen und die Medien müssen endlich mehr Verantwortung übernehmen für die Bilder, die sie reproduzieren und die sich in den Köpfen festsetzen. Denn es geht hier um Menschenleben. Und wenn jetzt wieder solche Bilder die Runde machen wie das von dem blonden Mädchen, das angeblich von einer Roma-Familie gestohlen worden war, oder von dem Roma-Jungen mit der Pistole wie auf dem Titelblatt der Schweizer "Weltwoche", dann werden diese uralten Bilder wieder neu in unseren Köpfen zementiert. Denn dort klafft eine riesige Lücke. Weil es ansonsten kaum Wissen über die Roma-Minderheit gibt. Diese Bilder funktionieren deshalb, nach Vilém Flusser, so wie Automatismen, die einfach wieder freigeschaltet werden, ohne kritisch reflektiert zu werden. Heute steht das Wort "Zigeuner" und vielleicht auch das Wort Roma deshalb für den Mainstream wieder für die gleichen, alten Stereotype wie früher.

Können Initiativen wie das Kunstprojekt "Romanistan", an dem Sie mitgewirkt haben, dazu beitragen, solchen Stereotypen entgegenzuwirken?

Ja, denn es geht dabei um Selbstermächtigung und Empowerment. Aber egal, wie gut solche Kulturprojekte sind – solange es nicht parallel dazu einen politischen Prozess gibt, werden diese Projekte ihrer Zeit weit voraus sein, aber die Probleme nicht lösen. Ich wünsche mir, dass man sich eines Tages den Film eines Roma-Regisseurs nicht mehr anschaut, um darin die Roma zu finden. Sondern dass man sich fragt: Was ist das eigentlich für ein Europa, durch die Augen dieses Regisseurs betrachtet? Denn wenn ich mir die Lage der Roma anschaue, dann sehe ich persönlich darin vor allem die Beschränktheit und die demokratischen Defizite der Europäischen Union und wie sie sich um ihre Minderheiten kümmert.

Als Minderheit wurden sie oft verachtet, als Musiker aber häufig hoch geschätzt. Welche Rolle spielt Musik für das Roma-Selbstverständnis?

Um als Musiker zu überleben, musste man besser sein als andere, und das ist auch heute noch so. Das hat mit Ethnizität erst einmal wenig zu tun. Aber die Roma-Musik ist auch ein lebendiges Archiv: In den 1960er- und 1970er-Jahren, als in Ungarn eine neue Folklore-Bewegung aufkam, stellte man fest, dass man an den Universitäten und Konservatorien gar nicht mehr wusste, wie man die Geige in der Volksmusik hält. Also sind sie losgegangen, in die Berge, und haben sich dort bei den Dorfmusikern umgehört, weil dort diese Tradition noch lebendig war. Roma sind als Musiker gefragt und berühmt, weil sie die alten Weisen noch spielen und beherrschen. Nur die Besten schaffen es, sich damit durchzusetzen. Aber natürlich trägt das zu ihrer Identität und Kultur bei, nicht anders als manche Volkslieder in Deutschland. Das ist wie beim Jazz in der afroamerikanischen Kultur – das gehört nicht nur Identität, das stiftet auch Gemeinschaft, immer wieder aufs Neue, wenn man alte Volkslieder gemeinsam singt und an die nächste Generation weitergibt.

Es gibt immer mehr Künstler, die sich wie Sie mit ihrer Roma-Herkunft auseinandersetzen. Kann man von einer neuen Generation reden?

Neue, hybride Kulturen und Ethnien bilden sich heraus, das ist ein wunderbarer Prozess. Junge Roma-Künstler, -Schriftsteller und -Musiker erfinden sich neu, und auch Europa kann sich dadurch neu definieren. Sie schreiben auf Ungarisch, Deutsch, Englisch, Französisch und Romanes und bewegen sich in der Sphäre der Weltkultur. Aber Kunst und Minderheitenpolitik passen nicht gut zusammen. Und es wäre fatal, uns auf unsere Roma-Herkunft zu reduzieren, das wäre ein Stigma. Denn Kunst kann man nicht in ethnische Kategorien pressen. Das sind einfach Menschen, die etwas zu sagen haben. Aber wenn man als Minderheit wahrgenommen wird, dann muss man natürlich immer aufpassen, mit welchen Bildern man es zu tun hat – und was man selbst vermittelt.

Die Roma haben kein eigenes Territorium. Aber wir haben eine Kultur und das Bedürfnis, diese Kultur zu leben und unsere Hybridität in Europa einzubringen. Deshalb gibt es heute mehrere Bewegungen, die parallel zueinander existieren. Manche knüpfen an dieses alte Bild von den Roma an, mit fliegenden Röcken und feuriger Musik. Andere wollen all diese Vorstellungen ganz über Bord werfen, in Europa ankommen und endlich hier zu Hause sein.

Worum geht es bei Ihrem Projekt "The Roma Image Studio", an dem Sie derzeit im Rahmen Ihrer Dissertation arbeiten?

Eine Minderheit, die so oft von anderen beschrieben wurde wie die Roma, die muss ihre eigene Geschichte schreiben können. Denn es gibt ein kulturelles Gedächtnis der Roma, und es ist wichtig, das zu bestimmen und als Kultur wahrzunehmen. Ähnliches passiert ja jetzt auch in der arabischen Welt: Dass Künstler, Museen und Archivare jetzt die Bilder und Schwarz-Weiß-Fotografien aus der Kolonialzeit zurückkaufen, weil sie selbst keine Bilder von sich aus dieser Ära haben. Aber sie haben ein historisches Gedächtnis, daran wollen sie anknüpfen.

Mir geht es darum, die Roma-Kunst, -Kultur und -Ästhetik aus ihrer ethnischen Nische zu befreien. Es geht hier nicht um eine gönnerhafte Fürsorge gegenüber einer armen, sich in einer prekären Lage befindlichen Minderheit. Es geht um die gleichberechtigte Anerkennung von schöpferischer Arbeit. Hier will sich eine Minderheit mittels ihrer Kulturproduktion präsentieren und emanzipieren – aber gleichberechtigt, auf Augenhöhe. Nur dann können die Roma wirklich an Europa teilhaben.

Was kann Deutschland, was kann Europa für die Roma-Kultur tun?

Der deutsche Staat oder die Europäische Union investieren eine Menge Geld in diesen Bereich. Aber diese Strategien sind für mich oft sehr abstrakt – und nicht nachhaltig. Das verstehe ich nicht. Die Roma sind doch nicht die erste Gruppe, deren Kultur und Entwicklung gefördert wird. Warum begeht man immer dieselben Fehler? Dass man Geld gibt, aber nicht untersucht, welche Auswirkungen das hat – und dann nach zehn Jahren merkt, dass das so nicht funktioniert. Viel Geld versickert, es bleibt nur wenig hängen. Warum schafft man keine stabilen Institutionen, die auch noch handlungsfähig bleiben, wenn die Förderzeit um ist? Für die Emanzipation der Roma braucht es Theater, Verlage, Kultureinrichtungen und staatliche Prozesse, etwa einen Wandel in der Bildungspolitik, um eine offenere Gesellschaft zu schaffen. Aber ich mache mir keine Illusionen. Die Emanzipation einer Minderheit ist nicht etwas, das schnell geht. Dazu braucht es einen Bewusstseinswandel und mehrere Generationen, auf jeden Fall mindestens hundert Jahre.

Das Interview führte Daniel Bax.

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Daniel Bax, Jahrgang 1970, ist Redakteur im Inlandsressort der tageszeitung, die taz. Seine Schwerpunkte sind Migration und kulturelle Vielfalt, Minderheiten und Rassismus. Veröffentlichungen in der ZEIT, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung oder dem amnesty journal. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

André Jeno Raatzsch, Jahrgang 1978, lebt als bildender Künstler in Berlin und Budapest. Seit 2005 hat er an zahlreichen ungarischen und internationalen Ausstellungen teilgenommen. Er hat 2007 auch am ersten Roma-Pavillon "Paradies Lost" der Biennale Venedig mitgewirkt. Derzeit arbeitet er im Rahmen eines Doktorandenprogramms der Ungarischen Hochschule für bildende Künste an dem Projekt "The Roma Image Studio", einer künstlerischen und kritischen Auseinandersetzung mit der fotografischen Repräsentation der europäischen Roma.