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Die türkische Frauenrechtsbewegung | Türkei | bpb.de

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Die türkische Frauenrechtsbewegung

Hürcan Aslı Aksoy

/ 10 Minuten zu lesen

Die Geschichte der modernen Frauenrechtsbewegung in der Türkei ist eng verknüpft mit der Gründung der türkischen Republik vor fast einhundert Jahren. Schon Staatsgründer Atatürk führte zahlreiche gleichstellende Maßnahmen durch: das Wahlrecht für Frauen führte die Türkei vor Frankreich und Italien ein. Und dennoch rangiert die Türkei in der aktuellen Gender Gap-Studie auf Platz 120 von 136.

Frauen demonstrieren auf dem 12. Istanbuler "Feminist Collective Night Walk" am internationalen Frauentag. (© picture-alliance)

Frauen demonstrieren auf dem 12. Istanbuler "Feminist Collective Night Walk" am internationalen Frauentag. (© picture-alliance)

Artikel 10 der türkischen Verfassung legt fest: "Männer und Frauen haben gleiche Rechte. Der Staat ist verpflichtet alle Maßnahmen zu ergreifen, um die Gleichberechtigung zu verwirklichen". Trotz dieser rechtlichen Gleichberechtigung sieht die Realität im Land anders aus. In der letzten Gender Gap Studie 2013 des Weltwirtschaftsforums, welche die bestehende Kluft zwischen den Geschlechtern in 136 Ländern untersucht hat, belegte die Türkei den 120. Rang - die Studie erforscht die Stellung der Frauen in vier Bereichen: politische Repräsentation, Bildung, Gesundheitsversorgung und wirtschaftliche Beteiligung. Die moderne, säkulare Türkei lag somit hinter den streng muslimischen Vereinigten Arabischen Emiraten, Katar oder Kuwait.

Die Geschichte der rechtlichen Gleichberechtigung in der Türkei begann in den Gründungsjahren der türkischen Republik. In den 1920er-Jahren führte der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) ein Modernisierungsprojekt mit zwei wichtigen Ziele durch: die Verwestlichung des politischen, ökonomischen und sozialen Lebens und die Verbannung des Islams aus dem öffentlichen Raum. Die Säkularisierung (Trennung von Staat und Religion) war dabei das effektivste Instrument, um mit dem alten islamischen Regime zu brechen und die Öffentlichkeit zu modernisieren.

Frauenrechte in den Gründungsjahren der türkischen Republik

Ein wichtiger Bestandteil dieses Modernisierungsprojekts war die Aufwertung der Stellung der Frau. Um das umzusetzen, begann der neugegründete Staat unter der Führung Atatürks mit Reformen im islamisch geprägten Bildungswesen. 1924 wurden die Bildungsstätten säkularisiert, religiösen Schulen verboten und die Schulpflicht, die gleichermaßen für Jungen und Mädchen gilt,

Frauen feiern in Istanbul 1930 die Einführung des Frauenwahlrechts. (© Public Domain)

eingeführt. 1926 trat ein modernes säkulares Zivilrechtsbuch in Kraft, welches sich größtenteils am schweizerischen Zivilrecht orientierte und das islamische Gesetz Scharia ersetzte. Dieses Zivilgesetzbuch verbot die Polygamie, etablierte die Zivilehe als Norm und erkannte den Frauen das Scheidungsrecht sowie Vormundschaft für die Kinder an. Im starken Gegensatz zur Scharia, in der die Frauen den Männern untergeordnet sind, stellte das neue Zivilrecht die Frauen auch vor Gericht, beim Erb- und Eigentumsrecht mit den Männern gleich. Der nächste Schritt war die Etablierung politischer Rechte für Frauen. Dafür stand die Türkei den Frauen 1930 zuerst das kommunale Wahlrecht zu. Noch im selben Jahr trat mit Sadiye Ardahan in Artvin-Yusufeli am Schwarzen Meer die erste weibliche Bürgermeisterin ihr Amt an. Im Dezember 1934 führte dann das türkische Parlament das aktive und passive Wahlrecht für Frauen auf nationaler Ebene ein, vor Frankreich (1944), Italien (1949) und der Schweiz (1971). Nach den ersten nationalen Parlamentswahlen im 1935 wurden 18 Frauen in die Große Nationalversammlung gewählt (4,6 Prozent) - ein Anteil der bis zur Wahl 1999 nicht überschritten wurde.

Diese "von oben" durchgesetzte Gleichstellung, die in der Politikwissenschaft als "Staatsfeminismus" definiert wird, erfasste ein neues weibliches Idealbild: die pro-westliche, modern gekleidete und gut ausgebildete türkische Frau. Das Tragen des islamischen Schleiers wurde zwar nicht gesetzlich verboten, aber propagandistisch bekämpft. Die moderne türkische Frau sollte die jungen Generationen für die Republik erziehen und auf diesem Weg an der Konstruktion der türkischen Nation mitarbeiten.

Mittig in Uniform, die erste Luftwaffenpilotin der Türkei, Sabiha Gökçen in Athen. (© Public Domain)

In seinen ersten Amtsjahren hat Atatürk zahlreiche Mädchen aus einfachen Familien adoptiert und ihnen eine gute Ausbildung ermöglicht. Er wollte seinem Volk zeigen, wie die moderne türkische Frau sein sollte. Die berühmteste Adoptivtochter Sabiha Gökçen, die Atatürk mit 13 Jahren adoptiert hatte, studierte an der militärischen Akademie. Sie wurde 1936 die erste Kampfpilotin der Welt und agierte in wichtigen militärischen Operationen der türkischen Luftwaffe. Sabiha Gökçen wurde die Leitfigur für die jungen Türkinnen ihrer Generation. Einer der Istanbuler Flughäfen ist heute nach ihr benannt.

Die rechtliche Gleichberechtigung der Geschlechter ermöglichte den Frauen die Sichtbarkeit und Teilhabe am öffentlichen Leben. Das kemalistische Frauenbild prägte Generationen von Frauen der Mittel- und Oberschichten, die über die ökonomischen und familiären Bedingungen verfügten, die neuen Handlungsspielräume wahrnehmen zu können. Dennoch blieb die Reichweite der Reformen begrenzt. Die patriarchalischen Strukturen bestanden in den ländlichen Gebieten fort und die Mehrheit der Frauen und Männer hielt an den traditionellen Werten fest. Trotzdem stellte der "Staatsfeminismus" die türkische Frau in Medien und Öffentlichkeit als emanzipiert dar und betrachtete die Frage nach der Gleichberechtigung der Geschlechter als gelöst.

Frauenbewegungen in der Türkei

Eine kleine Anzahl von Frauen war schon lange vor der Gründung der Republik organisiert. 1908 wurde der erste türkische Frauenverein "Osmanische Wohlfahrtsorganisation der Frauen" von gebildeten Istanbuler Frauen gegründet. Sie beschäftigten sich mit kulturellen Aktivitäten und betätigten sich wohltätig. Während des Ersten Weltkrieges und des Befreiungskrieges (1919-1922) schlossen sich viele politisch aktive Frauen der nationalistischen Bewegung an. 1923, kurz vor Gründung der Türkischen Republik, versuchten sie unter der Führung von Nezihe Muhiddin die "Frauen Volkspartei” zu gründen. Die Partei erhielt jedoch keine Erlaubnis zur politischen Betätigung, da Frauen kein Wahlrecht hatten. Aus dieser Initiative ging der "Türkische Frauenverein” hervor, der bis heute als einflussreiche Frauenorganisation agiert. Die Entstehung einer autonomen Frauenbewegung wurde jahrzehntelang durch den von oben geleiteten Staatsfeminismus verhindert.

In den 1970er-Jahren engagierten sich die politisch aktiven Frauen zuerst in der linken Bewegung, jedoch beschäftigten sie sich nicht exklusiv mit der Stellung der Frau. 1980 eröffnete der Militärputsch den politischen Raum für die Entfaltung einer autonomen Frauenbewegung. Zu Beginn der 1980er-Jahre verbot die Militärregierung jegliche politischen Vereinigungen und Parteien. Deshalb begannen Frauen aus dem urbanen und akademischen Milieu, die größtenteils in der linken Bewegung politisiert waren, sich in Leserunden zu treffen und gemeinsam feministische Literatur zu diskutieren. In den sogenannten "bewusstseinsfördernden Gruppen" in den Großstädten (hauptsächlich in Istanbul und Ankara) diskutierten sie die patriarchalen Verhältnisse innerhalb der türkischen Gesellschaft und Politik und entwickelten eine feministische Perspektive.

Zunächst stellten Feministinnen den kemalistischen Geschlechterdiskurs in Frage. Gemäß dem Zivilgesetzbuch konnten die Frauen nur mit der Zustimmung ihres Vaters oder ihres Ehemannes arbeiten und der Mann galt als das Oberhaupt der Familie. Feministinnen kritisierten die geschlechterspezifische Rollenverteilung in der Familie und verlangten grundlegende Reformen im Familienrecht. Im Gegensatz zum kemalistischen "Staatsfeminismus" thematisierten sie nicht nur ihre Rolle im öffentlichen Leben sondern auch ihre Rolle im Privatleben; erstmals in der türkischen Geschichte. Sie engagierten sich, ähnlich wie die feministischen Bewegungen im Westen, im Kampf gegen Gewalt und gegen Diskriminierung von Frauen. 1987 organisierten sie eine Massendemonstration in Istanbul gegen häusliche Gewalt. Die Demonstration gilt als erste offene demokratische Opposition während der vom Militär dominierten türkischen Politik der 1980er-Jahre. Eine direkte Folge dieses Engagements war ein Gesetz, das das Parlament 1988 erließ und das häusliche Gewalt unter Strafe stellte.

In den 1990er-Jahren begann die Institutionalisierung der feministischen Bewegung und Vereine wie "Violette Dach Frauenhaus Verein" (Mor Çatı Kadın Sığınma Vakfı), "Frauen Solidaritätsverein" (Kadın Dayanışma Derneği), "Frauen für Frauenrechte Verein" (Kadının İnsan Hakları için Yeni Çözümler Derneği) wurden gegründet, Einrichtungen wie Frauenbibliotheken eröffnet und Frauenstudien an den Universitäten begonnen. Feministinnen forderten Selbstbestimmung über ihre eigenen Körper

Tansu Çiller, die erste türkische Ministerpräsidentin regierte von 1993 bis 1996. Interner Link: Bildergalerie: Ministerpräsidenten der Türkei (© picture-alliance/dpa)

und lehnten jede Form des religiösen und patriarchalen Verständnisses von Geschlechterrollen ab. Ein Etappenziel auf diesem Weg war auch die Wahl von Tansu Çiller von der konservativen DYP (Doğru Yol Partisi, türkisch für: Partei des Rechten Weges) zu ersten Ministerpräsidentin der Türkischen Republik am 13 Juni 1993.

Ebenfalls in den 1990er-Jahren sah sich die Türkei mit gravierenden innergesellschaftlichen Konflikte konfrontiert: verantwortlich dafür waren vor allem der Aufstieg des politischen Islams und die kurdischen Autonomiebestrebungen. Das kemalistische Establishment (die militärische und bürokratische Elite) betrachtete diese innenpolitischen Konfliktlinien als Gefahr für die nationale Integrität und das säkulare Regime. Sie hatten unmittelbare Auswirkung auf die Zivilgesellschaft und führten zur Diversifizierung der Frauenbewegung. Die in der kurdischen oder islamistischen Bewegung politisierten Frauen begannen ihre eigenen Organisationen zu gründen. Während die kurdischen Frauen Anerkennung ihrer ethnischen Identität und Sprache verlangten, forderten die streng-muslimischen Frauen die Freiheit, ihre Kopftücher im säkularen öffentlichen Leben, also etwa an Schulen, Universitäten und in öffentlichen Ämtern tragen zu dürfen. Die kurdischen Frauen wurden öffentlich sichtbar als "Samstagmütter", die wöchentlich friedlich in der Istanbuler Innenstadt demonstrierten und die Aufklärung der Schicksale ihrer "verschwundenen" Angehörigen forderten. Die regimetreuen kemalistischen Frauen stellten sich den Forderungen der organisierten islamistischen Frauen entgegen und betonten die Notwendigkeit des Säkularismus für die Gleichstellung. Diese diversen Frauenorganisationen (feministische, kurdische, islamistische und kemalistische) rückten erfolgreich ihre geschlechterspezifischen Probleme in die politische Öffentlichkeit und erhoben unterschiedliche Forderungen. Trotz der politischen Uneinigkeiten zwischen den verschiedenen Gruppen, positionierte sich die gesamte Frauenbewegung gegen die zentralen Institutionen hegemonialer Männlichkeit in der türkischen Gesellschaft und verlangte die Beseitigung jeglicher Diskriminierung von Frauen.

In der ersten Hälfte der 2000er-Jahren, auch im Zusammenhang mit den Beitrittsprozess der Türkei zur Europäischen Union, konnten Frauenrechtsorganisationen beachtlichen Einfluss auf die geschlechterspezifische Politik ausüben: 2001 wurde das Zivilrecht reformiert. Der Mann war nicht mehr Oberhaupt der Familie (der Artikel 152 wurde gestrichen und im Artikel 180 wurde die Geschlechtergleichheit in der Ehe festgelegt) und die Gleichbehandlung von Frauen und Männern wurde im Ehe-, Scheidungs- und Eigentumsrecht festgeschrieben. 2002 übernahm die islamisch-konservative AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, türkisch für: Gerechtigkeit und Entwicklungspartei) die Macht und setzte den EU-Reformprozess fort. 2004 wurden dann grundlegende Reformen im Strafrecht eingeführt: Dadurch wurde das Konzept der "Familienehre", die nach traditionellem Verständnis die ‚Tugendhaftigkeit’ und ‚sexuelle Reinheit’ der weiblichen Familienmitglieder darstellt, aufgehoben und der Schutz der Rechte und Freiheiten des Individuums zum Zweck des neuen Strafgesetzes erklärt. Die Reformen im Arbeitsrecht (2003) und die Schaffung von Familiengerichten (2003) verbesserten den rechtlichen Status von Frauen grundlegend. Dank der Bemühungen von Frauenrechtsorganisationen, und auch des internationalen Drucks seitens der Vereinten Nationen und der EU, wurden die Ziele der Gleichberechtigung als konkrete Zielsetzungen in der Politik formuliert.

In den letzten Jahren kämpfen die Frauenrechtsorganisationen sowohl gegen die frauenspezifischen Probleme in der Gesellschaft als auch gegen das konservative Frauenbild der AKP-Regierung. Körper und Sexualität der Frauen und das private Leben waren zu politischen Metaphern geworden: Am 25. Mai 2012 verglich z.B. Premierminister Recep Tayyip Erdoğan während einer Rede bei der internationalen Konferenz für Population und Entwicklung Abtreibung mit Mord und brachte Frauenrechtlerinnen damit gegen sich auf. Überdies propagierte er, jede türkische Frau solle mindestens drei Kinder gebären. Trotz solcher Angriffe und Rückschläge kämpfen unterschiedliche Frauenorganisationen verschiedener Gruppen gegen den konservativen Geschlechterdiskurs der AKP und versuchen die erworbenen Rechte aufrechtzuerhalten.

Der aktuelle Stand

Die Stellung der Frau und die Geschlechterverhältnisse in der heutigen Türkei sind von großen Widersprüchen und Ungleichheiten gekennzeichnet. Einerseits sind laut dem Türkischen Statistik Institut 40 Prozent der Universitätsprofessoren (in Deutschland, in der Schweiz oder Österreich weniger als 20 Prozent), 26 Prozent der Anwälte, 28,7 Prozent der Ärzte, und 15,6 Prozent der Richter Frauen (mehr als in einigen europäischen Ländern), weiblich, andererseits sind ungefähr 7 Prozent der türkischen Frauen Analphabeten im Gegensatz zu nur 1,4 Prozent der männlichen Bevölkerung (Stand 2012). Dem gegenüber ist auch die Erwerbsquote der Frauen im Vergleich zu den meisten EU-Ländern mit knapp 32 Prozent sehr niedrig. Oft arbeiten Frauen jedoch in der Schattenwirtschaft oder als unbezahlte Familienkraft in der Landwirtschaft. Auch sind sie in Politik und Bürokratie unterrepräsentiert. Dank der Quotenregelung der kurdischen Partei BDP (Barış ve Demokrasi Partisi, türkisch für Partei für Frieden und Demokratie) und der unermüdlichen Arbeit der Frauenorganisationen wie KADER (Kadın Adayları Destekleme Derneği, Verein für Forderung der Frauenkandidatin) ist der Anteil der Frauen im Parlament in den vergangenen zwei Legislaturperioden angestiegen: Heute sind 78 von 549 Abgeordneten Parlament weiblich.

Grundlegende Differenzen sind zwischen Arm und Reich sowie zwischen Städtisch und Ländlich zu verzeichnen. Welten liegen zwischen dem Alltag und den individuellen Freiheitsspielräumen von Frauen der Oberschicht in Metropolen und dem Leben junger Frauen in traditionellen Familien, die in den Randgebieten der Großstädte oder in den Dörfern in Ostanatolien leben. Mit dem Verfassungsreferendum 2010 wurde positive Diskriminierung für Frauen auf dem Arbeitsmarkt rechtlich ermöglicht. Doch obwohl sich die Lage der Frauen auf dem Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren insgesamt verbessert hat, liegt der Anteil von Frauen am Arbeitsmarkt bei nur 29,4 Prozent (zum Vergleich: in Deutschland liegt der Anteil bei 46 Prozent).

Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist eins der am weitesten verbreiteten Probleme in der Türkei. Frauenrechtlerinnen sagen, dass die Zahl der Straftaten gegen Frauen in den letzten zehn Jahren um 1400 Prozent gestiegen ist, was das Justizministerium zuletzt 2009 bestätigte. Eine so drastische Steigerung kann auch mit der einsetzenden gesellschaftlichen Sensibilisierung für das Thema und der höheren Bereitschaft solche Taten zu melden, verbunden sein. Am 08. März 2012 verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz zum "Schutz der Familie und Prävention der Gewalt gegen Frauen" (Gesetz 6284), das nach Beratungen mit Frauenorganisationen formuliert wurde. Obwohl die Türkei die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) unterzeichnet und Gesetze zum Schutz der Familie verabschiedet hat, bleibt Gewalt gegen Frauen weiterhin an der Tagesordnung. Auch Zwangsheirat oder sogenannte "Ehrenmorde" zählen zum Feld der Gewalt gegen Frauen. Insbesondere in östlichen und südöstlichen kurdischen Gebieten liegt der Anteil der rein religiösen, rechtlich nicht anerkannten, Ehen mit 8,3 Prozent (Stand 2011) besonders hoch. In diesen Gebieten sind zudem die meisten Opfer sogenannter "Ehrenmorde" zu beklagen. Viele Frauenrechtlerinnen sagen, dass das Fehlen des politischen Willens auf höchster Ebene weitere Gesetzesänderungen verhindert. Die bekannte Frauenrechtlerin Hülya Gülbahar stellt fest: "Die türkischen Behörden vorenthalten Betroffenen von häuslicher Gewalt grundlegenden Schutz. Auf dem Papier sind wichtige Reformen eingeführt, aber bei der Implementierung erleben Frauen immer noch Probleme. Polizei, Staatsanwälte, Richter und Sozialarbeiter müssen sich gesetzeskonform verhalten und die Regelungen umsetzen."

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Hürcan Aslı Aksoy ist Doktorandin und Lehrbeauftragte am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen. Sie promoviert zur "Rolle der Frauenrechtsorganisationen im Demokratisierungsprozess unter der AKP-Regierung in der Türkei".