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Das Menschenrecht auf Gesundheit | Themen | bpb.de

Das Menschenrecht auf Gesundheit

Andreas Wulf

/ 7 Minuten zu lesen

Bereits bei Ihrer Gründung 1946 hat sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die "Gesundheit für Alle" auf die Fahnen geschrieben. Konkret bedeutet das "Recht, gesund zu sein", dass allen Menschen Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglicht werden muss. In der Praxis gibt es global große Unterschiede. Finanzielle Ausgleichsmechanismen für die ärmsten Länder sollen dabei helfen, das Menschenrecht auf Gesundheit zu erfüllen – bisher wird dies allerdings nur auf freiwilliger Basis realisiert.

Dieses Mädchen aus dem Großraum Kalkutta wurde erfolgreich gegen Tuberkulose behandelt. (© picture-alliance/dpa, Denis Meyer)

Das Menschenrecht auf den "höchsten erreichbaren Stand an körperlicher und geistiger Gesundheit" gehört zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten ("WSK-Rechte"), wie sie von der UN im Sozialpakt 1966 (Art. 12) formuliert und von der großen Mehrheit der Staaten auch verabschiedet wurden.

Die zunächst kompliziert klingende Formulierung soll deutlich machen, dass es nicht das "Recht, gesund zu sein" geben kann, weil Krankheit und Behinderung ein Teil des menschlichen Lebens sind.

Gerade die Erfahrungen mit eugenischen Konzepten einer "Welt ohne Schwäche und Krankheit", wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutiert und im nationalsozialistischen Deutschland in hunderttausendfachem Mord an geistig und körperlich behinderten Menschen realisiert wurden, macht diese Präzisierung notwendig.

Konkret bedeutet der "höchste erreichbare Stand", dass allen Menschen im Krankheitsfall Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglicht werden muss. Darüber hinaus müssen gesundheitsförderliche Lebensbedingungen sichergestellt werden, die als "soziale Determinanten der Gesundheit" zusammengefasst werden. Diese Bedingungen, so die Weltgesundheitsorganisation, werden durch die Verteilung von Geld, Macht und anderen Ressourcen auf globaler, nationaler sowie lokaler Ebene beeinflusst.

Respektieren, schützen, erfüllen

Es ist hilfreich, sich die Rolle des Staates bei der Realisierung der komplexen sozialen Menschenrechte genauer anzuschauen: Er verpflichtet sich im Rahmen des Sozialpaktes, die Rechte der Menschen zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen.

Dies sind wichtige Unterscheidungen. Es existieren seit den Debatten in den 1960er Jahren immer wieder Bedenken gegen soziale Menschenrechte: vor allem arme, sogenannte "weniger entwickelte" Länder hätten kaum Kapazitäten, um eine umfangreiche Gesundheitsversorgung – unabhängig von individuellen Vermögensverhältnissen – zu ermöglichen.

Zum Beispiel werden nicht alle Staaten die Mittel haben, aufwendige Herzoperationen oder Organtransplantationen flächendeckend durchzuführen. Vor diesem Hintergrund wurde eine erst allmählich voranschreitende (progressive) Realisierung dieser zum Erfüllungsauftrag gehörenden Gesundheitsversorgung in die Formulierung der WSK-Rechte mit aufgenommen. Allerdings muss diese Gesundheitsversorgung diskriminierungsfrei verfügbar sein. Es dürfen etwa nicht nur die Bevölkerung einer Hauptstadt oder die Unterstützer einer Regierungspartei von den staatlich finanzierten Diensten profitieren.

Zugleich sind die Aspekte der Respektierung und des Schutzes der Gesundheitsrechte nicht weniger wichtig: Zu respektieren – der Staat darf selbst keine Menschenrechtsverletzungen begehen – und zu schützen – er muss andere daran hindern, Menschenrechtsverletzungen zu begehen – ist zum Beispiel das Recht auf Zustimmung zu medizinischen Prozeduren. Patientinnen und Patienten müssen also informiert werden und zustimmen, was zusätzlich dokumentiert werden muss.

Zu diesem Themenkomplex gehören auch die Zwangsmaßnahmen, die staatliche Organe wie Polizei und Psychiatrie gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen anwenden: zum Selbstschutz, um Suizide zu verhindern, und Fremdschutz, also zum Schutz anderer. Solche Zwangsmaßnahmen bedürfen immer der richterlichen Überprüfung, um klare Kontrollmechanismen zu haben und die Freiheitsrechte der Betroffenen nur im gerechtfertigten Notfall und so gering wie unbedingt notwendig einzuschränken.

Ebenso führten die Debatten um operative "Angleichungen" an das männliche oder weibliche Geschlecht bei Neugeborenen ohne "eindeutige" Geschlechtszugehörigkeit zu einer stärkeren Thematisierung des Rechts auf Unversehrtheit. Besonders die Nicht-Einwilligungsfähigkeit der Neugeborenen wurde hier zur Sprache gebracht.

Ein anderer wichtiger Aspekt ist die bereits erwähnte Nicht-Diskriminierung, wenn es um den Zugang zur Gesundheitsversorgung geht. Dies kann zum einen ethnische oder religiöse Minderheiten sowie Nicht-Staatsbürger oder Migranten betreffen; zum anderen ist dieses Recht auch im großen Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit relevant. Dieser ist in vielen Gesellschaften mit starken moralischen Verurteilungen belegt. So ist häufig ein sicherer Schutz vor Krankheiten (besonders HIV, Hepatitis) für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, homosexuelle oder drogenkonsumierende Menschen durch Kriminalisierung bzw. starke moralische Verurteilungen nicht gewährleistet. Gleiches gilt für den sicheren Zugang zu Empfängnisverhütung und Behandlung von sexuell übertragbaren Krankheiten für junge, unverheiratete Frauen und Männer.

Zugang zur Gesundheitsversorgung

Während es sich hierbei also um klassische "Freiheitsrechte" zum Schutz vor Diskriminierung und Übergriffen handelt, sind die "Anspruchsrechte" (Entitlements) zur Sicherung des Zugangs zu einer guten, umfassenden Gesundheitsversorgung im Krankheitsfall stärker von politischen Entscheidungen abhängig. Dabei ist maßgeblich, wie stark ein Staat und eine Gesellschaft sich sozialpolitisch engagieren und entsprechende Ressourcen bereitstellen bzw. bereitstellen können, damit eine gute Gesundheitsversorgung auch tatsächlich für alle Menschen unabhängig von ihrem individuellen Einkommen erreichbar ist.

So hat beispielsweise Thailand seit 2002 starke Fortschritte dabei gemacht, landesweit ein öffentliches Gesundheitssystem aufzubauen, um den universellen Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle Bürgerinnen und Bürger zu sichern. Der Staat investierte etwa im Jahr 2011 über 14 Prozent seines Budgets in diesen Sektor. Nur knapp 25 Prozent aller Gesundheitsausgaben zahlen Patientinnen und Patienten direkt. Im Gegensatz dazu investiert Indien nur eine minimale Summe seiner Haushaltsmittel (3,7 Prozent) in die öffentlichen Gesundheitsdienste, sodass Patientinnen und Patienten über 70 Prozent aller Kosten selbst tragen müssen. 25 Millionen Menschen in Indien verarmen dadurch jedes Jahr.

Sind solche solidarischen Finanzierungen von sozialer Infrastruktur traditionell nur innerhalb von Staaten Praxis geworden, so geht die Debatte angesichts einer globalisierten Welt inzwischen darüber hinaus: Für die ärmsten Länder der Welt, deren Staatseinnahmen nicht ausreichen, müssten globale Ausgleichsmechanismen entstehen, wenn das Recht auf Gesundheitsversorgung tatsächlich für alle Realität werden soll. Bislang wurde dies nur auf freiwilliger Basis über bilaterale Entwicklungshilfe oder über globale Fonds wie den Global Fund to Fight AIDS, Tuberculosis and Malaria realisiert. Ein verpflichtender, kontinuierlicher Mechanismus wie etwa der Länderfinanzausgleich in Deutschland ist daher dringend notwendig, wenn Gesundheitsrechte auch langfristig global gesichert werden sollen.

Privatisierung und Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung

Wie im Beispiel aus Indien rutschen weltweit jährlich ca. 100 Millionen Menschen durch hohe privat zu tragende Krankheitskosten in die Armut ab. Das ist vor dem Hintergrund einer Rechtsverpflichtung, den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu garantieren, eine schwere Menschenrechtsverletzung. Eine global zu beobachtende Tendenz zur Privatisierung und Kommerzialisierung von Gesundheitsversorgung verschärft diese Entwicklung. Diese Entwicklung sollte durch eine klare gesellschaftliche Verantwortung zur Sicherung des Rechts auf Zugang zur Gesundheitsversorgung zurückgedrängt werden.

Aktive Betroffene und soziale Bewegungen haben im Namen des "Rechts auf Zugang zur Gesundheitsversorgung" bezüglich der Behandlungsmöglichkeiten von HIV/AIDS erfolgreich dafür gekämpft, dass die Behandlungsoptionen, die aufgrund der hohen Medikamentenpreise bis zur Jahrtausendwende fast ausschließlich in den reichen Industrieländern verfügbar waren, nun fast 15 Millionen Menschen in den sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern erreichen. Dazu trugen auch Rechtsstreitigkeiten gegen die eigenen Regierungen – in Thailand, Brasilien, Südafrika und Indien – bei. In der Folge wurde der Staat verpflichtet, die Behandlungskosten zu übernehmen und zugleich kostengünstige Alternativen zu teuren Originalmedikamenten zu finden. Hier wird die Verknüpfung von Gesundheits- und Wirtschaftspolitik besonders gut deutlich: Das wirtschaftspolitische Patentrecht behindert das Menschenrecht auf Zugang zu Gesundheitsversorgung.

Der Zugang zur Gesundheitsversorgung geht aber weit über die Medikamentenversorgung hinaus: Der UN-Pakt nennt ausdrücklich die sichere und zeitnahe Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von Gesundheitsdiensten in guter Qualität, die eine Grundversorgung der wichtigsten akuten und chronischen Erkrankungen sicherstellen können. Dazu zählen die Gesundheit von Mutter und Kind ebenso wie korrekte Gesundheitsaufklärung und -information oder auch die Beteiligung der Bevölkerung an gesundheitsrelevanten Entscheidungen auf nationaler und kommunaler Ebene.

Dies findet in vielen Ländern über lokale Gesundheitskomitees in den Gemeinden statt, die eine aktive Schnittstelle zwischen der Bevölkerung und den Gesundheitszentren darstellen. Sie sind aktiv an Gesundheitsaufklärung und Kampagnen beteiligt, vertreten die Interessen der Menschen gegenüber den Fachleuten in den Gesundheitseinrichtungen und werden bei Diskriminierungen oder Verletzungen der Vertraulichkeit aktiv.

Soziale Determinanten der Gesundheit

So wichtig der Zugang zur Gesundheitsversorgung im Krankheitsfall und auch präventive Gesundheitsaktivitäten wie Impfungen und Früherkennungen sind – die Voraussetzungen für ein gesundes Leben sind nicht allein vom Gesundheitssystem abhängig.

Der UN-Pakt nennt folgende grundlegende Bedingungen, die zum "Recht auf Gesundheit" maßgeblich beitragen: Sicherer Zugang zu sauberem Trinkwasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, sichere Nahrungsmittel und ausreichende Ernährung, gesunde Wohn-, Arbeits- und Umweltbedingungen, gesundheitsbezogene Informationen und Bildung sowie Geschlechtergerechtigkeit.

Diese "sozialen Grundbedingungen" (oder Determinanten) sind deshalb so zentral für das Recht auf Gesundheit, weil die soziale Ungleichheit wesentlich darüber entscheidet, wie schnell Menschen krank werden, welchen krankmachenden Einflüssen sie ausgesetzt sind und schließlich wie lange sie bei guter Gesundheit leben. Die Sterblichkeitsunterschiede zwischen Menschen sind wesentlich davon abhängig: Dies betrifft zum einen die Unterschiede zwischen den Ländern, deren durchschnittliche Lebenserwartungen sich je nach Wohlstand der Bevölkerung im Extrem bis zu 35 Jahre unterscheiden. Aber auch innerhalb einzelner Länder werden die Unterschiede deutlich: In Deutschland beträgt die soziale Kluft bei der Lebenserwartung bei Männern bis zu 10 Jahre. Noch größer ist die Kluft bei Menschen, die weder eine Behinderung noch schwere chronische Krankheiten haben – fast 15 Jahre machen hier die sozialen Unterschiede im Durchschnitt aus. Bei Frauen sind die Unterschiede etwas geringer. Die klare Diagnose: Armut und Ungleichheit machen krank und führen zu vorzeitigem Tod.

Um diese Kluft zu verringern, braucht es Interventionen in viele Politikfelder: Wohnungsbau und Verkehrspolitik, Arbeitssicherheit und soziale Sicherungen, Nichtraucherschutz und Nahrungsmittelinformationen. Nur so kann das alte Ziel der "Gesundheit für Alle", mit dem die Weltgesundheitsorganisation schon bei ihrer Gründung 1946 angetreten ist, realisiert werden.

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Dr. med. Andreas Wulf ist Arzt und arbeitet seit 1998 als medizinischer Projektkoordinator bei der Frankfurter sozialmedizinischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisation Externer Link: medico international mit den Projektschwerpunkten Nahost und Internationale Gesundheitspolitik und Gesundheitsnetzwerke. Wulf ist Vorstandsmitglied im Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Seine Themenschwerpunktes sind globale Gesundheitspolitik und -bewegungen, gesundheitsbezogene Entwicklungszusammenarbeit, internationale Pharmapolitik, sowie soziale und politische Determinanten der Gesundheit.