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Menschenrechte im interkulturellen Diskurs

Otfried Höffe

/ 7 Minuten zu lesen

Sind die Menschenrechte nur einer von vielen Exportartikeln der westlichen Kultur? Oder gehören sie zu einer Rechtsmoral, deren Ansätze sich in vielen Kulturen finden? Otfried Höffe mit einer kritischen Betrachtung.

Besucher eines Festivals zur Multikulturalität Australiens in Canberra (© flickr.com/Pierre Pouliquin)

Einige Kritiker nennen die Menschenrechte abschätzig die Zivilreligion der Moderne. Andere fürchten von ihr einen Rechtskulturimperialismus. Tatsächlich gehören sie zu jener Rechtsmoral, zu deren Ansätze sich in vielen Kulturen finden. Ein unverzichtbarer Teil der Freiheitsrechte wird sogar beinahe von allen Rechtskulturen anerkannt. Deren Strafrecht hält Verstöße gegen das Recht auf Leib und Leben, auf Eigentum und auf einen guten Namen ("Ehre") für strafwürdige Delikte. Allerdings gibt es die Schwierigkeit, dass man die Menschenrechte allen Kulturen zumutet. Der Diskurs über sie wird aber noch immer vornehmlich innerhalb einer Kultur, der des Westens, geführt. Infolgedessen droht der befürchtete Rechtskulturimperialismus – und anstatt den Kern einer universalen Rechtsmoral auszumachen, sinken die Menschenrechte zu einem "Exportartikel westlicher Kultur" herab. Um der Gefahr zu entgehen: "What is universalism to the West, is imperialism to the rest" braucht es einen zweiteiligen interkulturellen Diskurs. Der Grundlagendiskurs richtet sich auf die Bedingungen der Möglichkeit interkultureller Koexistenz und ist im Prinzip ein einziger. Der Anschlussdiskurs überlegt, wie man den Gedanken von Menschenrechten über die eigene Kultur vermittelt. Dafür bedarf es einer Einverleibung der Menschenrechte in die eigene Kultur, einer "Inkulturalisierung", die notwendigerweise kulturspezifisch und in der Mehrzahl stattfindet.

Zweifellos darf man die Menschenrechte nur dann allen Kulturen zumuten, wenn kein nur partikular gültiges Rechtsinstitut vorliegt. Offensichtlich partikular, manchmal sogar auf eine provozierende Weise kontingent sind die genauen Entstehungsbedingungen. Wir erinnern uns an den geschichtlichen Hintergrund der ersten Menschenrechtserklärung, der Virginia Bill of Rights (1776): Religionsflüchtlinge, die sich gleichwohl ihrem Mutterland verbunden fühlen, beharren auf angestammten Rechten. Da sie wegen der ablehnenden Haltung der Krone die Rechte nicht mehr als britische Bürger reklamieren, greifen sie faute de mieux sehr hoch. Nicht von der nächsthöheren Stufe, von Rechten eines Christenmenschen, sprechen sie oder von denen eines zivilisierten Weißen. Vielmehr reden sie im Überschwang von Rechten des Menschen als Menschen. Bekanntlich greifen sie wirklich zu hoch. Im Staat der überhaupt ersten Menschenrechtserklärung bleibt bedenkenlos gültig, was der Erklärung eklatant widerspricht: die Sklaverei.
Das Rechtsinstitut kann jedenfalls seine interkulturelle, überdies universale Geltung nur dann beanspruchen, wenn sich die Legitimation von den Entstehungsverhältnissen abkoppelt. Zusätzlich muss es sich nicht notwendigerweise in den Inspirationsquellen, wohl aber in der Argumentationslogik von kulturspezifischen, beispielsweise abendländischen Menschenbildern lösen. Es muss sich einer Aufgabe unterziehen, die heute, im Zeitalter des praktizierten Historismus und Relativismus, durchaus anstößig ist: Es bedarf einer Anthropologie. Von deren zwei Grundmodellen setzen die Menschenrechte nur das zweite, anspruchslosere Modell voraus. Die unbescheidenere ("perfektionistische") Anthropologie definiert den Menschen von jenen Aufgaben oder Chancen her, die für ein Menschsein im emphatischen Sinn unverzichtbar sind. Damit läuft sie Gefahr, dass letztlich nur der wahrhaft humane Mensch zählt, während man den angeblich nicht so "humanen" Menschen, den Sklaven, den Frauen, den kolonialisierten Völkern, grundlegende Rechte abspricht.

Eine Anthropologie der Menschenrechte erklärt die perfektionistische Anthropologie nicht für unmöglich, legt sich aber strenge Zurückhaltung auf. Denn bei Rechten des Menschen bloß als Menschen stellt sich die Frage nach dem erfüllten Menschsein gar nicht. Auf den ersten Blick ein Mangel, ist die Zurückhaltung in Wahrheit ein Vorzug, weder eine Gleichgültigkeit gegen das wahrhaft Humane noch eine Reduktion, sondern ein Ausblenden der störenden Faktoren. Gegen anspruchsvollere Definitionen des Menschseins nicht indifferent, wohl aber offen, verbleibt den verschiedenen Kulturen, überdies innerhalb derselben Kultur den verschiedenen Subkulturen und verbleibt schließlich innerhalb beider das Recht auch auf individuelle Andersartigkeit, sogar Exzentrizität. In einem Wort: Es gibt ein Recht auf Differenz. Nimmt man als Beispiel die Religionsfreiheit, erscheint kein Gemeinwesen als legitim, das die Ausübung einer Religion, auch die "Freigeisterei" und den Atheismus, verbietet oder das die Anhänger einer fremden Religionsgemeinschaft und den Austritt aus der eigenen verfolgt. Über dieses Minimum, das Individualrecht einer negativen Religionsfreiheit, hinaus ist noch ein Minimum positiver und korporationsrechtlicher Religionsfreiheit geboten. Es besteht im Recht, sich religiös zu entfalten und zu diesem Zweck sich in einer Religionsgemeinschaft zusammenzuschließen, das die korporativ-institutionelle Religionsfreiheit ausmacht. Die nähere Ausgestaltung bleibt dagegen den einzelnen Staaten überlassen.

Unbeschränkt ist das Recht auf Differenz also nicht. Denn wie sollte auch lebensfähig sein, wofür das Recht auf Differenz votiert, die soziale Vielfalt, wenn es im Sozialen nichts anderes denn eine Vielfalt gibt? Die Antwort seitens der Anthropologie liegt auf der Hand: Jenes Element, das allem Recht auf Vielfalt und Nonkonformität eine Grenze setzt, die anspruchsvolle Annahme von übergeschichtlich gültigen Bedingungen des Menschseins, verbindet sich mit einer Bedingung für Vielfalt und Nonkonformität. Möglich wird diese Verbindung durch eine Umkehrung des anthropologischen Blicks.

Statt den Menschen von Vollendungsbedingungen des Humanen, von Selbstverwirklichung oder einer sinnerfüllten Existenz, her zu definieren, verabschiedet die Anthropologie alle normativen Begriffe und begnügt sich mit jenen Anfangsbedingungen, die den Menschen als Menschen ermöglichen. Weil es also auf Bedingungen der Möglichkeit ankommt, kann man von angeborenen Interessen oder unter Verwendung des seit Kant einschlägigen Ausdrucks von (relativ) transzendentalen Interessen sprechen.

Mit transzendentalen Interessen allein ist die Legitimationsaufgabe aber noch unterbestimmt. Der Umstand, dass derartige Interessen auf dem Spiel stehen, macht den existentiellen Ernst verständlich, der hinter der Menschenrechtsidee steht. Er erklärt aber nicht die charakteristische Leidenschaft, die den Protest gegen Menschenrechtsverletzungen trägt: ein Pathos, aber nicht das der Enttäuschung oder der Verachtung, sondern der Empörung. Berechtigt ist diese Reaktion, weil es nicht nur um angeborene Interessen, sondern auch um Interessen geht, auf deren Anerkennung ein Anspruch besteht. Meist wird dieser Punkt übersehen, dass zwischen einer anthropologischen Vorgabe, der Bedrohung angeborener Interessen, und einer rechtsmoralischen Aufgabe eine begriffliche Kluft besteht. Wer die Kluft überspringt, versucht einen legitimatorischen Salto. Mit ihm überspringt er eine Frage, die offen bleibt: Wieso darf jemand von den anderen beanspruchen, dass sie die ihm unverzichtbaren Interessen anerkennen?

Von einem Anspruch kann man generell nur dort reden, wo ein anderer den Anspruch zu erfüllen hat. Wer Rechte legitimieren will, muss daher die entsprechenden Pflichten rechtfertigen. Im Gegensatz zu einer politischen Tendenz, Rechte zu beanspruchen, ohne die entsprechenden Pflichten auszuweisen, muss, wer von Menschenrechten spricht, die korrelativen Menschenpflichten rechtfertigen. An diesem Sachverhalt verdienen zwei Momente eine Betonung. Einerseits bestehen die Ansprüche nicht in einem absoluten Sinn. Das Lebensrecht meint nicht das Recht - an wen sollte es sich richten? -, sterben müsse man entweder gar nicht oder erst in jenem hohen Alter, wo man, wie es von Abraham heißt, "des Lebens satt" ist. Noch wichtiger ist das andere Moment, dass sich das Recht an die Mitmenschen richtet und von ihnen, und zwar ausnahmslos von jedem, eine Leistung verlangt. Deren Minimum heißt: keine Gewalt auszuüben.

Wegen der Entsprechung von Rechten und Pflichten besteht dort auf die Anerkennung einer Leistung ein moralischer Anspruch, wo die Leistung nicht einfachhin, sondern lediglich unter dem Vorbehalt erbracht wird, dass eine entsprechende Gegenleistung erfolgt. Weil Menschenrechte einen Anspruch meinen, stellen sie kein Geschenk dar, das man sich – aus Sympathie, aus Mitleid oder auf Bitten – einseitig offeriert. Es handelt sich vielmehr um eine Gabe, die nur unter Bedingung der Gegengabe erfolgt. Menschenrechte legitimieren sich aus einer Wechselseitigkeit heraus, pars pro toto: aus einem Tausch. Nun steht in der Menschenpflicht, wer die Leistungen, die lediglich unter Bedingung der Gegenleistung erfolgen, von den anderen tatsächlich in Anspruch nimmt. Umgekehrt besitzt er das Menschenrecht, sofern er die Leistung, die nur unter Voraussetzung der Gegenleistung erfolgt, wirklich erbringt. Diese Situation ist dort gegeben, wo man ein unverzichtbares Interesse nur in und durch Wechselseitigkeit realisieren kann. Wo sich das transzendentale Moment mit einem sozialen Moment verbindet, bei einer "angeborenen Wechselseitigkeit", wird der entsprechende Tausch unverzichtbar.

In der Regel denkt man bei der Wechselseitigkeit bloß an ein positives Nehmen und Geben, an Kooperation. Zweifelsohne gibt es aber auch die negative Form, die wechselseitige Gefährdung. Sie bildet die anthropologische Grundlage wichtiger Freiheitsrechte. Die Rechte auf Leib und Leben, auf Eigentum und auf einen guten Namen sowie auf Religionsfreiheit kann man nämlich als einen Tausch verstehen, den jeder Mensch nicht etwa mit einigen, sondern mit allen Menschen vornimmt. Die eigene "negative Gabe", den Verzicht auf die Fähigkeit, Täter von Gewalt zu sein, tauscht man für die Gegengabe, die Bereitschaft der anderen, ihrerseits auf Gewalt zu verzichten. Charakteristisch für diesen Tausch ist, dass man das eigene Interesse nur durch eine negative Leistung verwirklichen kann, die die anderen erbringen.

Obwohl unmittelbar nur negativ, hat der Tausch nicht erst nachfolgend, sondern als solcher eine positive Bedeutung; andernfalls bestünde kein Anlass, sich auf ihn einzulassen: Werden die entsprechenden Pflichten anerkannt und verzichtet jeder auf Gewalt gegen seinesgleichen, dann und nur dann werden die korrespondierenden Rechte gewährt. Das Interesse an Leib und Leben beispielsweise geht aus dem wechselseitigen Verzicht zu töten hervor. Damit wird nicht behauptet, das Leben sei das schlechthin höchste Gut. Denn es gibt Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen: trivialerweise, wenn sie riskant Auto fahren, nicht so trivial, wenn sie für politische, kulturelle oder religiöse Ideale ihr Leben opfern. Andererseits hat das Leben tatsächlich einen besonderen Rang. Unabhängig von dem, was man inhaltlich anstrebt oder meidet, mithin als Bedingung der Handlungsfähigkeit, bildet es die Voraussetzung für jedes handlungsorientierte Begehren. Darin liegt die singuläre Bedeutung eines transzendentalen Interesses und des ihm korrespondierenden Menschenrechts: Was auch immer man in concreto begehrt und zur Realisierung des Begehrten unternimmt - als Lebewesen braucht der Mensch dafür Leib und Leben.

Mit Hilfe dieser neuen Interpretation lassen sich Phänomene wie Märtyrertum und Lebensüberdruss, auch ein leichtsinniges Leben als respektable und nicht schlicht irrationale Optionen verstehen: Obwohl man das Überleben nicht für das höchste Gut hält, will man die Entscheidung über ein eventuell höheres Gut selber treffen, womit man denn doch ein Interesse am Leben beweist. Während der eine selber sagen will, ob und gegebenenfalls wann er des Lebens überdrüssig ist, will der andere selber entscheiden, wofür er sein Leben opfert: aus Treue zu seiner religiösen oder politischen Überzeugung und nicht etwa, um von einem Räuber erschlagen zu werden.

Für nähere Überlegungen s. O. Höffe, Vernunft und Recht: Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt 1998.

Fussnoten

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Prof. Dr. Dr. h.c. Otfried Höffe, geb. 1943, ist Gründer und Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie des Philosophischen Seminars der Universität Tübingen.