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Menschenrechte in Russland | Themen | bpb.de

Menschenrechte in Russland

Johannes Voswinkel

/ 7 Minuten zu lesen

Wenn in Russland von Menschenrechten die Rede ist, sind meist soziale Garantien gemeint: Wohnen, Heizung, Essen und Arbeit. Politische Rechte hingegen werden im Zuge der antiwestlichen Tendenzen in der Politik der vergangenen Jahre häufig als unvereinbar mit den traditionellen russischen Werten dargestellt. Dementsprechend schrumpfen die gesellschaftlichen Freiräume in Russland zusehends. Im Gegenzug wächst die Liste der repressiven Maßnahmen der russischen Führung, bilanzieren Menschenrechtler.

Polizisten bilden eine Menschenkette während Anhänger des oppositionellen Bloggers Alexei Navalny gegen seine Verurteilung im Kirow-Fall protestieren. (© picture-alliance/dpa)

Die ranghöchste Menschenrechtlerin Russlands trägt Uniform und einen großen Stern auf ihren Schulterklappen. Am 22. April 2016 wählte das russische Parlament Tatjana Moskalkowa zur neuen Menschenrechtsbeauftragten. Die 61-jährige Generalmajorin entstammt dem Innenministerium – jener Behörde, in deren Reihen Menschenrechtler besonders viele Vergehen bis hin zu Körperverletzung und Folter durch Polizeibeamte erkennen. Moskalkowas Wahl war ein Signal für alle Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die für den Schutz der Menschenrechte eintreten: Künftig wird die Ombudsfrau, so fürchten sie, eher der Verteidigung des Staates als der elementaren Rechte der Russen dienen. "Warum soll ich einer Generalmajorin des Innenministeriums glauben?", fragte die Grande Dame der Menschenrechte aus der Moskauer Helsinki-Gruppe, Ludmila Alexejewa. "Das ist eine Verhöhnung der Zivilgesellschaft."

Dabei sorgten nicht einmal der graue Uniformrock und das vermutlich streng hierarchische Denken Moskalkowas für die größten Bedenken unter den zivilgesellschaftlichen Organisationen. Entscheidend war vielmehr, was sie gleich nach ihrer Bestätigung durch das Parlament sagte: "Das Menschenrechtsthema wird von westlichen und amerikanischen Strukturen aktiv als Waffe für Erpressung, Spekulation, Drohungen, Destabilisierung und als Versuch benutzt, auf Russland Druck auszuüben. Die Menschenrechtsbeauftragte hat ein ausreichendes Instrumentarium, um dem entgegenzuwirken." Ihre Aufgabe sei vor allem der Schutz der Menschenrechte der Russen im Ausland, vor allem im Baltikum und in der Ukraine. Das klang, als wollte sie ihre Aufgabe politisieren. Schon als Parlamentarierin hatte sie einer Gesetzesänderung zugestimmt, die NGOs als "ausländische Agenten" stigmatisieren lässt.

Das erste Treffen Moskalkowas mit russischen Menschenrechtlern im Juni 2016 verlief zwar überwiegend positiv, da sie es verstand, durch Zuhören und gezieltes Nachfragen anfängliches Vertrauen zu schaffen. Aber viele fürchten, dass sie gewillt ist, die Oberhoheit über die Menschenrechtsdiskussion in Russland zu gewinnen und sie durch populistische Themen weich zu spülen. Noch während ihrer Antrittsrede im Parlament betonte Moskalkowa, dass Missstände in der kommunalen Wohnungsverwaltung und Rückstände bei Gehaltszahlungen im Land ihre erste Aufmerksamkeit verdienten. Solche sozial-ökonomischen Themen sind der russischen Regierung trotz der anhaltenden Wirtschaftskrise immer noch angenehmer als Fragen zur Reform des Rechtsstaates oder zu menschenunwürdigen Zuständen in Gefängnissen.

Der Glaube an den "väterlichen Staat"


Mit sozialen Themen trifft Moskalkowa durchaus auf Verständnis bei einer Mehrheit der russischen Bevölkerung. In sowjetischer Tradition verstehen sie unter Menschenrechten vornehmlich soziale Garantien, die ein "väterlicher Staat" gewähren soll: Wohnen, Heizung, Essen und Arbeit. Das Recht auf freie Meinungsäußerung oder auf Versammlungsfreiheit wirken dagegen fern der Lebenswirklichkeit und abstrakt. Zumal in einer Gesellschaft ohne gegenseitiges Vertrauen und ohne den Glauben an einen möglichen Erfolg gemeinsamen Engagements.

Der Schutz der politischen Rechte macht entsprechend nur einen kleinen Teil der jährlichen Beschwerden beim Verfassungsgericht aus. Es dominieren Eingaben zum Strafrecht, zum sozialen Schutz und Arbeitsrecht. Den Menschenrechtsorganisationen wiederum gelingt es selten, ihre Aufgaben und ihren Nutzen für die Menschen verständlich und lebensnah darzustellen. Vor allem, da sie sich auch für jene einsetzen, die allgemein ungeliebt oder gar gefürchtet sind – von Flüchtlingen bis zu Terrorismusverdächtigen.

Menschenrechte – unvereinbar mit den russischen Werten?


Zugleich werden im Zuge der isolationistischen und antiwestlichen Tendenzen in der Politik der vergangenen Jahre Menschenrechte oft als unvereinbar mit den traditionellen russischen Werten dargestellt und zum Kampfmittel des Westens erklärt. Der Westen erhebe den Individualismus und das materielle Wohlergehen zum Götzen, während in Russland der Konsens und die Suche nach einer höheren Moral die nationale Idee bildeten. Die Idee, dass die Rechte einzelner Bürger im Widerspruch zu den Interessen der Gesellschaft stehen könnten, wird folglich stark zurückgewiesen. Russland gehe seinen eigenen Weg, heißt es. Eine Minderheit in der Bevölkerung lehnt diese Position allerdings ab.

Die staatliche Politik wendet sich jedoch an die Mehrheit und geht seit gut drei Jahren aggressiv gegenüber Organisationen vor, die eigenständig und in kritischer Distanz arbeiten: Die Zivilgesellschaft wird in gute Organisationen wie die der Bienenzüchter und schlechte wie die der Menschenrechtler unterteilt. Einer der Hauptschläge der Regierung gegen die unliebsamen war die Ergänzung des NGO-Gesetzes durch den sogenannten "Agenten-Paragrafen". Der "Agent" knüpft an einen diffamierenden Begriff aus Sowjetzeiten an.

NGOs als "ausländische Agenten"


Die Erweiterung des Gesetzes ist vor allem auf die Interner Link: Proteste auf Moskaus Straßen im Winter 2011/2012 zurückzuführen, da im Kreml die Angst vor einer von außen gesteuerten "Farbenrevolution" ein geradezu paranoides Ausmaß annahm. Seither können NGOs, die ausländische Finanzierung erhalten und sich politisch betätigen, durch das Justizministerium auf eine Liste "ausländischer Agenten" gesetzt werden. Ende August 2016 standen auf der Liste 140 Organisationen, die sich zumeist um den Umweltschutz, um Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und Migrantenschutz bemühen. Viele dieser "Agenten"-Organisationen lösen sich auf, da die folgenden Büroprüfungen durch Staatsorgane und Geldstrafen ihre Arbeit lahmlegen.

Eine Gesetzesänderung im Juni 2016 hat die repressive Schraube noch weitergedreht: Dank einer detaillierten Definition der "politischen Tätigkeit" können künftig alle NGOs, auch soziale oder wohltätige, zum "Agenten" erklärt werden. Als Sphären der "politischen Tätigkeit" gelten nun die Außenpolitik, die nationale Sicherheit, die sozial-ökonomische Entwicklung Russlands, die Entwicklung des politischen Systems, der Tätigkeitsbereich der Staatsbehörden und die gesetzliche Regelung der Bürgerrechte und Menschenrechte. "Politische Tätigkeiten" sind unter anderem Aufrufe an Regierungsbehörden, die Organisation öffentlicher Versammlungen und Debatten, Wahl-Monitoring, die Veröffentlichung von Meinungsumfragen, die Verbreitung von Meinungen zu Regierungsentscheidungen und alles, was Einfluss auf öffentliche Bedienstete ausübt.

Kritik verhallt, gesellschaftliche Freiräume schrumpfen weiter


Während viele Nichtregierungsorganisationen geradezu in den Untergrund gedrängt werden, müssen ihre Finanziers das Land verlassen. Das Gesetz über "unerwünschte Organisationen" macht es seit dem 23. Mai 2015 möglich, ausländische Geldgeber aus Russland zu verdrängen. Bisher wird es besonders bei US-amerikanischen Stiftungen angewendet. Fünf von ihnen stehen bereits auf jener Liste, die von der Generalstaatsanwaltschaft gemeinsam mit dem Justizministerium und dem Außenministerium erstellt wird. Ein Gerichtsbeschluss ist nicht vonnöten. Inzwischen hat die Externer Link: Venedig-Kommission des Europarates, eine Gruppe von Verfassungsexperten, festgestellt, dass das Gesetz in seiner jetzigen Form gegen die Menschenrechte verstoße. Es beschränke die Organisationsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die freie Meinungsäußerung. Aber die Kritik der Experten des Europarates wird in Russland weitgehend ignoriert oder als feindlicher Akt angesehen.

Die Liste der repressiven Maßnahmen der russischen Führung in den vergangenen vier Jahren, so bilanzieren Menschenrechtler, ist lang: Mehr als 30 neue Gesetze oder Gesetzesänderungen zur Einschränkung der gesellschaftlichen Freiräume habe es gegeben. Das Gesetz zur Versammlungsfreiheit wurde bis hin zur strafrechtlichen Verantwortung verschärft. Im Dezember 2015 erhielt Ildar Dadin drei Jahre Lagerhaft für mehrere unerlaubte Demonstrationen. Ebenso steht vor allem das Briefgeheimnis nur noch auf dem Papier: Zwischen 2007 und 2015 begutachteten Gerichte allein offiziellen Angaben zufolge 4.659.325 Anträge auf staatliche Überwachungsmaßnahmen. 97 Prozent der Anträge wurde stattgegeben. Die russische Menschenrechtsgruppe Agora beklagt die zwangsweise Sammlung biometrischer Informationen bei Oppositionellen wie Fingerabdrücke oder DNS-Proben.

Der Umbau der Medienlandschaft schreitet voran


Auch das Recht auf einen freien Zugang zu Informationen ist in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten systematisch eingeschränkt worden: Kreml-loyale Unternehmer übernahmen Redaktionen und bauten sie gleich zu Propagandamaschinen um. Journalisten verstehen ohne Anweisung von oben, was sie berichten oder verschweigen sollen. Die Selbstzensur wirkt. Zudem wurde der zulässige ausländische Kapitalanteil in Medienunternehmen auf 20 Prozent begrenzt und eine Verantwortung der Medien und der Nachrichtendienste von Internet-Suchmaschinen für extremistische Äußerungen in ihren Publikationen eingeführt. Für Blogger und Internetnutzer kann schon das Reposten oder Liken angeblich extremistischer Texte zu Haftstrafen führen. Ein Gesetz, das ausländischen Unternehmen "zum Ziel der Sicherung der nationalen Interessen" verbietet, die Quoten für russische Fernsehprogramme zu ermitteln, rundet das Bild ab.

Die repressive Stimmung führt auch zu Übergriffen: Im Dezember 2014 setzte eine Gruppe Maskierter das Hauptquartier der Menschenrechtsorganisation Komitee gegen Folter im tschetschenischen Grosnyj in Brand. Im März 2016 überfielen Unbekannte den Leiter der Organisation, Igor Kaljapin, übergossen ihn mit Farbe und verprügelten ihn. Menschenrechtler werden bedroht und entführt – ohne Folgen für die Täter.

Als letzter Fürsprecher und Vermittler zwischen NGOs und der Regierung bleibt der Menschenrechtsrat beim russischen Präsidenten. Einmal im Jahr besucht sogar Präsident Wladimir Putin die Mitglieder des Rates, zu denen angesehene Aktivisten zählen. Dann lobt er die Menschenrechtler und erteilt Anweisungen, die nur zum Teil umgesetzt werden. Der Rat ist deshalb umstritten. Manchen Aktivisten gilt er als zu angepasst und als Dekorationselement eines Staates, der es mit den Menschenrechten nicht ernst meint.

Menschenrechte in Russland – stets auf dem Prüfstand


Dabei strahlte das Konzept der universalen Menschenrechte noch vor wenigen Jahrzehnten stark nach Russland hinein. Auf der Interner Link: Konferenz für Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa (KSZE) am 1. Dezember 1975 unterzeichnete die Sowjetunion aus außenpolitischen Gründen eine Schlussakte, die im sogenannten dritten Korb die Menschenrechte garantierte. Der Text wurde in sowjetischen Zeitungen abgedruckt. Moskau glaubte damals, dass er keine größeren Folgen haben werde. Das war ein Irrtum. Eine Bewegung von Dissidenten entstand rund um die 1976 gegründete Moskauer Helsinki-Gruppe und pochte auf die Einhaltung der neu verbrieften Rechte. Die sowjetische Führung reagierte mit Verhaftungen – zumeist mit dem Vorwurf des "Landesverrats".

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erkannte Russland in seiner Verfassung die Rechte und Freiheiten des Menschen als die höchsten Werte an, unterzeichnete die Interner Link: Europäische Menschenrechtskonvention und unterwarf sich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Doch am 15. Dezember 2015 unterschrieb Präsident Putin ein neues Gesetz, das dem Verfassungsgericht das Recht zuspricht, Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs auf ihre Tauglichkeit für das eigene Land prüfen zu dürfen. Damit wurde der Vorrang des internationalen Menschenrechts in Russland wieder infrage gestellt.

Fussnoten

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Johannes Voswinkel, geboren 1961, leitet seit 2015 das Moskauer Büro der Heinrich Böll Stiftung. Er ist gelernter Literaturwissenschaftler und Journalist. Nach dem Besuch der Hamburger Henri-Nannen-Journalistenschule und dem Magisterabschluss an der Universität Hamburg ging er 1998 als Russland-Korrespondent des STERNs nach Moskau. Von 2002 an berichtete er mehr als 13 Jahre für die ZEIT und ZEITOnline aus den Republiken der früheren Sowjetunion. 2001 veröffentlichte er mit seiner STERN-Kollegin Bettina Sengling das Buch "Die Kursk. Tauchfahrt in den Tod" über den Untergang des Atom-U-Boots der Nordmeerflotte "Kursk" in der Barentssee im Sommer 2000.