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Japan auf dem Weg ins 21. Jahrhundert | Japan | bpb.de

Japan Zu diesem Heft Japan auf dem Weg ins 21. Jahrhundert Land und Leute Historische Entwicklung Geschichte und Einfluß des Kaiserhauses Aufbau des politischen Systems Gesellschaft und Kultur Wirtschaftliche Strukturen Grundlagen der Außenpolitik Literaturhinweise Redaktion

Japan auf dem Weg ins 21. Jahrhundert

Manfred Pohl

/ 4 Minuten zu lesen

Tokio bei Nacht. (© picture-alliance/AP)

Die Zukunft scheint schon begonnen zu haben. Ein zwei Kilometer hoher Wohn- und Büroturm auf einer künstlichen Insel in der Bucht von Tokyo ist geplant, Gruppenreisen ins All werden angeboten, für die schon jetzt ein Platz in einer Feriensiedlung auf dem Mond gebucht werden kann. Kein Plan ist verwegen genug, um nicht in japanischen Unternehmen gedacht zu werden. Die Öffentlichkeit berauscht sich an solchen Zukunftsvisionen, und doch bezeugen Japaner und Japanerinnen in Umfragen immer wieder einen tiefen Pessimismus: Angst vor Kriegen, Sorge vor dem vermeintlich übermächtigen Nachbarn China und zunehmend auch die Sorge um Arbeitsplätze stehen in krassem Gegensatz zu einem grenzenlosen Zukunftsoptimismus, der daran glauben läßt, daß alles machbar ist. Gleichzeitig sind traditionelle Werte noch lebendig: Noch immer wird von den Jungen das Alter geehrt, wie Statistiken belegen. Danach wünschen junge Männer noch immer mehrheitlich, ihre alten Eltern sollten ihren Lebensabend im Familienkreis verbringen, wenn auch die Wohnsituation solche Wünsche illusorisch werden läßt. Japans Durchschnittswohnungen sind für solche Lebensformen zu klein.

Japan im Spannungsfeld von Tradition und Moderne. Eine Burg aus dem 16. Jahundert. (© JAPAN Photo-Archiv )

In einer immer schneller alternden Gesellschaft entstehen schärfere Spannungen zwischen den Generationen: Japanische Jugendliche erfahren, wie Familien in den USA oder Europa leben und empfinden es immer häufiger als Defizit, daß ihre Väter gerade einmal an den Wochenenden, oft sogar nur sonntags, anwesend sind. Die Wertvorstellungen der Elterngeneration werden von der japanischen Jugend zunehmend in Frage gestellt. Junge Japaner und Japanerinnen wollen nicht mehr selbstverständlich nach dem Studium in einen Betrieb eintreten und dort klaglos und opferbereit für das Wohl des Unternehmens und die japanische Nation arbeiten. Die Gruppe der "freeta" (sprich: friita, ein japanisch-englisches Kunstwort) wächst, die zwischen Studienabschluß und Arbeitsleben ziellos einige Zeit "driften".

Scheinbare Widersprüche

Noch lebt "das alte Japan" wie es sich in romantischen Vorstellungen westlicher Reisender findet, auch in den Großstädten ist es noch zu entdecken. Aber schon drängt sich der Eindruck auf, daß sich dafür eben nur noch Touristen interessieren. Japans Großstadtjugend ist im Begriff, zwischen Vergnügungssucht und Konsumrausch in eine futuristische Kunstwelt abzudriften. Modisch "in" zu sein und das Leben zu genießen scheinen wichtiger als die Selbstaufopferung für den Betrieb: Arbeitsleistung "bis zum Umfallen" an sechs Tagen in der Woche, im Extremfall vielleicht der Tod durch Überarbeitung (japanisch karoshi) erscheint immer mehr Jugendlichen nicht erstrebenswert. Erfüllung in der Arbeit wird als Wert immer häufiger in Frage gestellt.

Japan im Spannungsfeld von Tradition und Moderne. Das Virtel Shinjuku von Tokio. (© JAPAN Photo-Archiv)

"Robotland oder Lotosland?" fragte sich schon im Jahre 1961 der Publizist Arthur Koestler ratlos nach einer Japanreise. Der europäische Intellektuelle sah die uniformierten, disziplinierten Industriearbeiter, die auf ihn "roboterhaft" wirkten - und erlebte gleichzeitig die Stille buddhistischer Tempel, die er mit "Buddhas Blume", dem Lotos, beschrieb. Ein dichtes Netz scheinbar unaufgelöster kultureller Widersprüche durchzieht das Leben der Menschen auf den japanischen Inseln. Hinter äußerlicher Verwestlichung, die deutlich im Lebensstil der Jugend zum Ausdruck kommt, existieren immer noch die traditionellen Wertnormen wie der hohe Stellenwert der Familie, die Gruppengeborgenheit oder das unverdrossene Streben nach Harmonie. Die schnelle wirtschaftliche Entwicklung nach 1868 (Beginn der Meiji-Ära) hatte solche Werte nicht aufgehoben, sondern in die Industriegesellschaft eingelagert.

Diese Gesellschaft aber ist seit den neunziger Jahren Spannungen ausgesetzt, die nun auch das Normgefüge bedrohen. Die traditionelle konfuzianische Forderung nach Eliten-Auswahl durch rigorose Bildungsauslese, die dem japanischen Erziehungssystem zugrunde liegt, hat in Jahrzehnten der Nachkriegszeit, als Schwerindustrien und Kunststoffprodukte die Wirtschaft prägten, weitblickende, nationalbewußte Unternehmer und disziplinierte, hochmotivierte Arbeitskräfte hervorgebracht, die über ein breites, gleichmäßig verteiltes Faktenwissen verfügen. Herausragende Einzelleistungen waren in diesem System eher unerwünscht. In der Zukunftsgesellschaft der digitalen Technologien des nächsten Jahrhunderts werden aber auch andere Werte gefordert sein: Individuelle Kreativität und wirkliche Internationalisierung der japanischen Gesellschaft, vor allem auch der japanischen Unternehmen; zwangsläufig wird sich das japanische Erziehungs- und Ausbildungssystem verändern müssen.

In dem betäubenden Wirbel optischer und akustischer Reizüberflutung japanischer Riesenmetropolen scheint es kaum noch vorstellbar, sich in Naturbetrachtung und Zen-Meditation zu verlieren und den "Klang der Stille" zu hören, ästhetische Traditionen scheinen verloren - und doch gibt es Top-Manager, die sich in Bergklöster zur Zen-Meditation zurückziehen oder in ihren Bürogebäuden Räume für die Teezeremonie haben. Ein Regierungschef betreibt die Kunst des Schwertkampfes (japanisch kendo), andere Politiker sind Meister der Teezeremonie, oder sie tragen schwarze Gürtel im Judo; Unternehmer betreiben die traditionelle Kunst des Bogenschießens, um neue Kraft zu sammeln. Allen Künsten (japanisch ido) ist gemeinsam, daß sie durch Disziplin und äußerste Konzentration vom Alltag wegführen. Auch in einer medienüberfluteten und nach westlichem Warengeschmack ausgerichteten Gesellschaft erhalten sich japanisches Schönheitsempfinden und unbefangene Freude an den traditionellen Künsten: Klassischer japanischer Tanz, Kalligraphie, Ikebana, Teezeremonie - sie alle haben eine unübersehbare Anhängerschaft. Die klassische japanische Musik behauptet sich neben Pop und westlicher Klassik, und auch das traditionelle Theater überlebt neben Underground, Oper und westlichem Schauspiel. Altüberlieferte Ästhetik durchdringt westliche Stile in der bildenden Kunst und in der Architektur Japans, Künstler und Architekten des Landes zählen längst zur Weltspitze - und keiner wird den Einfluß japanischer Traditionen verleugnen.