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Editorial | Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft | bpb.de

Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft Editorial „Volksgemeinschaft“? Aufstieg Machteroberung 1933 „Volksgemeinschaft“ Verfolgung Literaturhinweise und Internetadressen Impressum und Anforderungen

Editorial

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Christine Hesse

Fast achtzig Jahre sind vergangen, seit die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler die Staatsgewalt übernahmen und Deutschland binnen weniger Monate von einem Rechtsstaat in eine Diktatur verwandelten. Im Namen einer rassistischen, menschenverachtenden Ideologie wurden willkürlich Terror und Gewalt gegen Menschen ausgeübt, von denen sich viele bis dahin als akzeptierte Mitglieder der deutschen Gesellschaft gewähnt hatten.

Wie konnte das geschehen? Wie gelang es dem Regime, sich die Duldung, Billigung oder aktive Komplizenschaft weiter Kreise der Bevölkerung zu sichern?

Ein Deutungsangebot, das in diesem Heft gemacht wird, ist der Begriff der „Volksgemeinschaft“. Schon in der Zeit der Weimarer Republik von allen politischen Richtungen genutzt, um Solidarität einzufordern und die gesellschaftliche Spaltung zu überwinden, wurde er anschließend zum „Konstrukt der NS-Propaganda“, mit dem „eine tief verwurzelte Sehnsucht nach nationaler Einheit ausgenützt wurde, um den Griff, in dem das Regime die Gesellschaft hielt, zu festigen – organisatorisch wie psychologisch“ (Ian Kershaw).

Tatsächlich konnte, wie diese Darstellung anschaulich machen soll, die Idee der „Volksgemeinschaft“ viele Menschen mobilisieren, die durch die innere Zerrissenheit der Weimarer Zeit abgestoßen waren und in gemeinsamer Anstrengung dem im Ersten Weltkrieg besiegten Deutschland zu neuem Ansehen und sich selbst zu einem besseren Leben verhelfen wollten.

Die Kehrseite des Begriffs „Volksgemeinschaft“ – und auch das arbeitet die Darstellung heraus – war jedoch die brutale, radikale Ausgrenzung all derer, die gemäß der NS-Ideologie nicht zur Gemeinschaft gehören sollten. Diese Ausgrenzung mit all ihrer Menschenverachtung geduldet, akzeptiert oder unterstützt, von ihr profitiert oder sie aktiv betrieben zu haben, bedeutete den größten Zivilisationsbruch der neueren deutschen und europäischen Geschichte.

Wie weit auf individueller Ebene die Zustimmung wirklich ging, ob sie breit, gar nicht oder möglicherweise nur punktuell von Fall zu Fall empfunden wurde, unterliegt letztlich der individuellen Deutung der jeweilig betroffenen Zeitgenossen und ist auch von der historischen Forschung nur annäherungsweise nachprüfbar.

Doch es gibt schriftliche Selbstzeugnisse, Tagebücher oder Zeugenberichte sowie Bildaufnahmen, die das Spektrum der gelebten Verhaltensmöglichkeiten auffächern. Sie kommen in diesem Heft in repräsentativer Auswahl zur Geltung, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es in Extremsituationen auf jeden Einzelnen ankommt und dass im Einzelfall fast immer alternative Handlungsoptionen offenstehen: von vorauseilendem Gehorsam, aktiver Mitwirkung, duldender Anpassung bis zum aktiven Widerstand.

Liest man die Berichte von Opfern des Regimes oder betrachtet man die Bilder ihrer öffentlichen Demütigung, überkommt einen noch heute ein Schaudern. Deutlich wird auch, wie schwierig es mitunter sein konnte, sich als Einzelner der herrschenden Meinung zu widersetzen und die eigene Individualität und Menschlichkeit zu behaupten.

Inwieweit ist das Thema heute noch relevant? Leben die Deutschen nicht inzwischen in einer gefestigten Demokratie, umgeben von Nachbarn, die zu Freunden wurden und unter dem Schutz und Geleit eines Grundgesetzes, das Frieden, Freiheit, Menschenwürde und die Achtung vor Andersdenkenden zum allgemein anerkannten Grundsatz des gesellschaftlichen Zusammenlebens erhoben hat?

Aktuelle Vorkommnisse belegen stets aufs Neue, dass auch auf Teile unserer heutigen Gesellschaft extremistische Ideologien und Protagonisten nach wie vor Attraktivität ausüben. Zudem ist immer wieder zu beobachten, wie in Krisenzeiten latente Vorurteile gegen Minderheiten von Demagogen benutzt werden, um dem Volkszorn „Sündenböcke“ zu präsentieren.

Daher gilt es, in der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus beispielhaft die Mechanismen aufzuzeigen, die dazu führen können, dass Gesellschaften in die Barbarei abstürzen. Wie Bundespräsident Joachim Gauck betont, müssen wir jederzeit das „Unvorstellbare einkalkulieren“, denn „Humanität ist nie im sicheren Hafen. Sie zerfällt oder wird beschädigt, wenn Ratio und Moral gegeneinander stehen. Unsere Zivilisation ist nicht Geschichte im Endstadium, sondern vorübergehend gesicherte Existenzform.“

Christine Hesse