Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

18. März 1990: erste freie Volkskammerwahl | Der 18. März in der deutschen Demokratiegeschichte | bpb.de

Der 18. März in der deutschen Demokratiegeschichte Freiheitstraditionen in der deutschen Geschichte 18. März 1990 18. März 1793 18. März 1848 Erinnerung und Erinnerungsorte Literaturhinweise und Internetadressen Impressum

18. März 1990: erste freie Volkskammerwahl

Gernot Jochheim

/ 18 Minuten zu lesen

18. März 1990: Aufnahme eines Wahllokals in der an der Elbe bei Hagenow gelegenen Gemeinde Neuhaus (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0318-022)

Die folgende Darstellung des Wahltages verarbeitet Nachrichten der Deutschen Presse-Agentur (dpa) an diesem Tag.

Am Sonntag, dem 18. März 1990, verbreitet dpa um 5.00 Uhr diese Meldung:

Ost-Berlin (dpa) – Mit der Öffnung einiger Früh-Wahllokale für Schichtarbeiter hat heute Morgen um 05.00 Uhr die erste freie und geheime Wahl zur DDR-Volkskammer begonnen. Die meisten Wahllokale öffnen um 07.00 Uhr. Den rund 12,2 Millionen wahlberechtigten DDR-Bürgern stellen sich 24 Parteien und Listenverbindungen. Der Wahlausgang gilt als völlig offen. Mit ersten Hochrechnungsergebnissen wird gegen 19.30 Uhr gerechnet. Das vorläufige amtliche Endergebnis soll gegen Mitternacht vorliegen.

Politiker in West und Ost haben gestern noch einmal die große Bedeutung der Wahl für ganz Deutschland unterstrichen. Sie sei ein besonders wichtiger Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit, sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Nach der Wahl könnten demokratisch legitimierte Kräfte in beiden Staaten den Weg zur Einheit beschreiten.


Bei allen vorangegangenen Wahlen in der DDR hatten die Wahlberechtigten keine Wahl, sondern lediglich die Möglichkeit, begleitet von öffentlicher Kontrolle und kollektiven Zwängen, vorgefertigten Wahlvorschlägen (Einheitslisten) zuzustimmen, wobei die beherrschende Stellung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) gesichert blieb. Nur theoretisch war die Ablehnung einer Einheitsliste möglich gewesen.

Seit dem Sommer 1989 hatte sich die "führende Rolle" der SED in einem rapiden basisdemokratischen politischen Umbruch aufgelöst. Nach dem Vorbild westlicher repräsentativer Demokratien im Allgemeinen und der Bundesrepublik Deutschland im Besonderen waren politische Parteien und parteiunabhängige Wählervereinigungen gegründet worden. Die SED hatte mittlerweile einige ihrer alten Parteiführer ausgeschlossen und ihren Namen geändert. Sie nannte sich "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS).

Bei dieser ersten freien Volkskammerwahl wurden 400 Mandate vergeben. Anders als in der Bundesrepublik bestand keine Sperrklausel, sodass für einen Sitz im neuen Parlament 0,25 Prozent der abgegebenen Stimmen ausreichten. Letzte Umfragen vor der Wahl ließen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der SPD und den drei konservativen Parteien erwarten, die sich in der "Allianz für Deutschland" zusammengeschlossen hatten (Demokratischer Aufbruch, CDU, Deutsche Soziale Union). Allerdings hatten viele Wählerinnen und Wähler kurz vor der Wahl bekundet, in ihrer Entscheidung noch unentschlossen zu sein. Hauptthema des Wahlkampfes war die Frage nach dem Weg zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Die PDS und große Teile der oppositionellen DDR-Bürgerbewegung unterschieden sich von allen anderen Parteien dadurch, dass sie in dem Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten die Eigenständigkeit der DDR stärker betonen wollten, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Namentlich die Parteien der "Allianz für Deutschland" unter Führung der CDU der DDR plädierten für einen zügigen Anschluss der DDR an das politische System der Bundesrepublik.

Ergebnis der Wahlen in der DDR vom 18. März 1990

Am Mittag des Wahltages berichtete dpa von einem zunächst zögerlichen Auftakt. Zwischenfälle hatte es bis zu jenem Zeitpunkt nicht gegeben. Besondere öffentliche Aufmerksamkeit fand die Stimmabgabe führender bzw. bekannter DDR-Politiker. Der DDR-Ministerpräsident Hans Modrow (PDS) beklagte in einer Äußerung die starke Einflussnahme westdeutscher Parteipolitiker auf den Wahlkampf in der DDR. Am späten Sonntagnachmittag zeichnete sich eine Wahlbeteiligung ab, wie sie auch bei Bundestagswahlen üblich war. Bei der letzten Wahl zum Bundestag 1987 hatte diese 84,7 Prozent betragen. Internationale Wahlbeobachter – unter anderem Vertreter des Europarats – bescheinigten einen korrekten Verlauf der Wahl.

Weil es Vergleichszahlen von vorangegangenen Wahlen nicht gab, dauerte das Erstellen von Hochrechnungen beinahe zwei Stunden. Um 19.53 Uhr hatte die Meldung von dpa die Überschrift "DDR-Bürger wollen konservative Parteien – Klarer Sieg für die Allianz". Als Wahlsieger wurde der Vorsitzende der CDU der DDR, der Rechtsanwalt Lothar de Maizière, gefeiert. Er kündigte an, eine Regierung auf breiter parlamentarischer Grundlage bilden zu wollen. Große Beachtung fand zudem die Prognose, wonach mit einer Wahlbeteiligung von über 90 Prozent zu rechnen sei.

Bereits vor dem Schließen der Wahllokale um 18.00 Uhr begannen in einigen Städten der DDR öffentliche Wahlfeste und in Ost-Berlin die Wahlpartys in den Zentralen der Parteien.

Die Hauptfrage der Wahlen: welcher Weg zu einem vereinigten Deutschland?


Das abgebildete Flugblatt/Plakat der Partei Bündnis 90 zu den Volkskammerwahlen thematisierte – mit sprachlicher Überspitzung (die Frage, inwieweit der Begriff "Anschluss" die negative Konnotation hervorrufen sollte, die sich durch den "Anschluss Österreichs" 1938 einstellen mag, kann hier nicht verfolgt werden.) – die Hauptfrage, die am 18. März 1990 von den Bürgerinnen und Bürgern der DDR zu entscheiden war: Wie sollte der Weg zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten verfassungsrechtlich vollzogen werden? In der DDR-Verfassung war eine Vereinigung nicht vorgesehen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG) hingegen verstand sich angesichts der Spaltung Deutschlands nach 1945 bewusst als Provisorium. Gemäß dem Grundgesetz waren 1990 zwei Wege möglich, um eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten herbeizuführen. Zum einen durch einen Beitritt der DDR nach Artikel 23 GG, der seit 1949 diesen Wortlaut hatte:

"Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiet der Länder Baden*, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden* und Württemberg-Hohenzollern* (trotz des Zusammenschlusses dieser drei Länder* zu Baden-Württemberg 1952 und der Eingliederung des Saarlandes 1957 änderte sich der Wortlaut von Artikel 23 bis zu seiner Abschaffung 1990 nicht). In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen."
Neben dem Beitritt nach Art. 23 GG bot zum anderen Art. 146 GG die Möglichkeit einer Vereinigung auf der Grundlage einer neu zu erarbeitenden Verfassung mit ausdrücklicher Zustimmung des deutschen Volkes:
"Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."

Das Flugblatt bewertete einen Beitritt der DDR nach Art. 23 GG als einen "Anschluss" und zitierte dabei eine gemeinhin bekannte Telefonansage. Die Intention dieser Formulierung lässt sich in Verbindung mit dem Aufruf "Für unser Volk" von Ende November 1989 sehen, in dem prominente Bürgerinnen und Bürger der DDR für den Erhalt des Staates und die Schaffung einer freiheitlichen "sozialistische(n) Alternative zur Bundesrepublik" plädiert hatten, darunter auch eine Reihe von Mitgliedern der Bürgerbewegungen. Zeitgleich mit dem Aufruf hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl ein Zehn-Punkte-Programm veröffentlicht, in dem er zwar mittelfristig von einer "Vertragsgemeinschaft" der beiden deutschen Staaten sprach, zugleich aber mehrmals die Vision einer Vereinigung in konkreten politischen Zusammenhängen (z. B. Einigung Europas) erwähnte.

Die Meinung der DDR-Bevölkerung im Jahre 1990 zur Frage des (möglicherweise auch zeitlich begrenzten) Fortbestehens einer (in welcher Form auch immer) reformierten sozialistischen DDR lässt sich aus den Wahlergebnissen ihrer Befürworter ableiten: Bei den Wahlen am 18. März 1990 entschieden sich für Bündnis 90 336.094 Wählerinnen und Wähler (2,9 %). Es erreichte damit 12 Mandate in der Volkskammer. Die PDS, die Nachfolgepartei der SED, erzielte einen Stimmenanteil von 16,4 Prozent (1.892.239 Stimmen).

Zum geschichtlichen Zusammenhang


In der am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der damaligen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) gegründeten Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurde, gestützt auf die Besatzungsmacht, eine staatliche Ordnung errichtet, die von Beginn an nicht ohne Gewalt- und Repressionsmaßnahmen bestehen konnte. Das Herrschaftssystem fußte auf dem von Lenin, dem Begründer der Sowjetunion, für alle kommunistischen Parteien formulierten Anspruch, aufgrund der angeblich gesetzmäßigen Lehren des Historischen Materialismus "Vorhut des Proletariats" zu sein. Entsprechend wurde in der DDR-Verfassung 1968 die "Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei", also der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), als Grundprinzip beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung festgelegt. Die SED beanspruchte und praktizierte die Vorherrschaft in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und entwickelte – wiederum gemäß leninistischer Grundsätze – eine Erziehungsdiktatur zur ideologischen Beeinflussung der Menschen.

Wie in anderen "realsozialistischen" Staaten vollzog sich die ideologische Stabilisierung der kommunistischen Herrschaft weitgehend durch eine Kombination von Konsenszwängen und Gewalt. Fortwährend wurden auf allen gesellschaftlichen Ebenen Anlässe konstruiert, bei denen die ideologische Zustimmung der Bevölkerung gleichsam "eingeholt" wurde. Über all dem schwebte jedoch das Gewaltinstrumentarium der Staatssicherheit mit 91.000 hauptamtlichen Mitarbeitern (davon 13.000 Soldaten) im Jahre 1989 und 110.000 Inoffiziellen Mitarbeitern (IMs) nach internen Zahlen 1988. Die Staatssicherheit der DDR war ein Männerbund: Der Anteil von Frauen an den "Hauptamtlichen" der Staatssicherheit betrug etwa 10 Prozent, wobei er mit Höhe der Hierarchiestufe immer kleiner wurde.

"Das entscheidende Wirkungsprinzip des ‚real existierenden Sozialismus‘ war Gewalt: Es gab die direkte offene Gewalt durch Mord, Folter, Schießbefehl, Inhaftierung und Ausbürgerung, und es gab die indirekte Gewalt durch Rechtsunsicherheit, Repressalien, Drohungen, Beschämungen, durch Indoktrination und durch ein System von Nötigung, Einschüchterung und Angst." (Hans-Joachim Maaz: Der Gefühlsstau. Psychogramm einer Gesellschaft. München 2010, S. 25/26 (Erste Ausgabe 1990 mit dem Untertitel ‚Psychogramm‘ der DDR)

Insbesondere in den 1980er-Jahren entstanden in der DDR oppositionelle Gruppen, die das Herrschaftssystem des SED-Staates kritisierten und die Friedensfrage (außerhalb der durch die SED festgelegten Interpretation), die Umweltzerstörung, den Verfall der Städte und der Infrastruktur sowie die beschränkte Reise- und Ausreisefreiheit thematisierten. Zumeist fanden diese Gruppen Raum und Räume in Einrichtungen des "Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR" (BEK). 1989 waren in der DDR etwa 5,4 Millionen Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 16,6 Mio.) Mitglied in evangelischen Kirchen.

Die Aktivitäten und Anliegen der oppositionellen Gruppen gewannen – mit bedingt durch die Berichterstattung in der Bundesrepublik – an öffentlicher Aufmerksamkeit. Damit verlor die SED zunehmend die Federführung bei der Besetzung politischer und gesellschaftlicher Themen und somit die Autorität, eine Führungsrolle beanspruchen zu können. Ein wichtiges Signal für die Bürgerbewegung war Ende Oktober 1988 die Erklärung Michail Gorbatschows, des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, jeder Staat des Warschauer Paktes habe die Freiheit, seine inneren Angelegenheiten selbst zu regeln.

In der DDR gehörten Wahlen zur Volkskammer oder zu kommunalen Einrichtungen zu jenen Zustimmungsritualen, mit denen ideologischer Konsens suggeriert werden sollte. Für den 7. Mai 1989 standen Kommunalwahlen an. Obwohl die SED-Führung gewärtigen musste, dass diese Wahlen durch oppositionelle Gruppen kritisch verfolgt werden würden, verfuhr sie in herkömmlicher Weise. Als Wahlergebnis wurde eine Zustimmung zu den Einheitslisten von 98,85 Prozent angegeben, bei 1,15 Prozent Gegenstimmen – im Übrigen das schlechteste offiziell bekanntgegebene Wahlergebnis in der Geschichte der DDR. Die DDR-Medien hatten bereits vormittags eine Wahlbeteiligung von über 90 Prozent gemeldet. Da Angehörige der Oppositionsgruppen die Auszählung der Stimmen in einer großen Zahl von Wahllokalen – teilweise systematisch – verfolgt hatten, konnte glaubwürdig eine Fälschung des Wahlergebnisses nachgewiesen werden. Zahlreiche Protesteingaben an die "staatlichen Organe" waren die Folge sowie landesweite öffentliche Aktionen gegen die Wahlmanipulation, die sich fortan an jedem 7. eines Monats wiederholten.

Rund zehn Monate nach den Kommunalwahlen war die SED-Herrschaft zerbröselt und am 18. März 1990 fanden freie Wahlen zur Volkskammer statt. Was sich in dieser Zeit abspielte, kann im Rahmen dieses Heftes nur in einigen Schlaglichtern dargelegt werden. Dabei ist es nicht möglich, auf die weitgehend zeitlich parallel verlaufenden Entwicklungen in anderen Gesellschaften des "sozialistischen Lagers" einzugehen, in die das Geschehen in der DDR eingebettet war.

Mit den Protesten gegen das Ergebnis der Kommunalwahlen setzte ein Prozess ein, in dem immer mehr Menschen der Monopolpartei SED offen die Loyalität aufkündigten. Parallel dazu flüchteten viele Menschen nicht allein über die inzwischen offene ungarische Grenze, sondern auch über die westdeutschen Botschaften der BRD in Warschau und Prag. Anhaltende Aufmerksamkeit erregten auch die Montagsdemonstrationen in Leipzig, der nach Ost-Berlin zweitgrößten Stadt der DDR. Dort demonstrierten am 9. Oktober 1989 70.000 Menschen, immer unter der bedrückenden Frage, ob die DDR-Führung letztendlich mit Waffengewalt gegen sie vorgehen würde. Hatte sie doch im Sommer des Jahres die blutige Niederschlagung der chinesischen Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gut geheißen, die zahlreiche Todesopfer gefordert hatte.

All diese Aktionen verdichteten sich zu einem gewaltfreien Aufstand. Dabei gingen die Beteiligten lange Zeit erhebliche persönliche Risiken ein, denn sie stellten das SED-Regime vor eine existenzielle Herausforderung. Eine Großkundgebung auf dem Alexanderplatz, dem zentralen Platz Ost-Berlins, am 4. November 1989, auf der sich zahlreiche prominente Persönlichkeiten vor Hunderttausenden von Teilnehmern vom Regime distanzierten, erschütterte die Autorität der SED endgültig.

Schon im September 1989 hatten sich in der DDR landesweit demokratische Sammlungsbewegungen gebildet. Zumeist initiiert von langjährigen Oppositionellen, gaben sie den oppositionellen Gruppierungen eine organisatorische Struktur. Der Aufruf von "Aufbruch 89 – Neues Forum" begann mit dem Satz: "In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört." Ein "Aufruf zur Einmischung in eigener Sache" von "Demokratie Jetzt" stellte u. a. fest: "Unser Land lebt in Unfrieden. Menschen reiben sich wund an den Verhältnissen, andere resignieren." Als Vorstufe zu einer Parteibildung konstituierte sich der "Demokratische Aufbruch". Eine vorläufige Grundsatzerklärung begann mit den Sätzen: "Die Gesellschaft der DDR befindet sich in einer moralischen, sozialen, ökonomischen und politischen Krise. Die Symptome dieser Entwicklung lassen sich nicht mehr verdrängen. Der Bürger wird immer noch entmündigt."

Als augenfällig wurde, dass die SED nicht mehr in der Lage sein würde, die Staats- und Gesellschaftskrise konstruktiv zu lösen, setzten sich diese Gruppierungen gemeinsam mit der Initiative für Frieden und Menschenrechte, die als oppositionelle Gruppe bereits seit Mitte der 1980er-Jahre bestanden hatte, federführend für die Einrichtung eines "Runden Tisches" ein. In einer "Gemeinsamen Erklärung" vom 10. November 1989 hieß es:
"Angesichts der krisenhaften Situation in unserem Land, die mit den bisherigen Macht- und Verantwortungsstrukturen nicht mehr bewältigt werden kann, fordern wir, dass sich Vertreter der Bevölkerung der DDR zu Verhandlungen am Runden Tisch zusammensetzen, um Voraussetzungen für eine Verfassungsreform und für freie Wahlen zu schaffen."

Anfang Dezember wurde bekannt, dass in Einrichtungen der Staatssicherheit belastende Akten vernichtet werden sollten. Daraufhin besetzten in der gesamten DDR Bürgerkomitees, häufig unterstützt durch Demonstranten, eine große Zahl der etwa 600 Stasi-Dienststellen, die auch als Waffenlager dienten, und sicherten deren Aktenbestand. Damit verlor die SED ihr wesentliches Unterdrückungsinstrument. Etwa zeitgleich wurden in den Betrieben die SED-Kampfgruppen entwaffnet und deren teilweise erhebliches Waffenmaterial gesichert bzw. vernichtet.

Angesichts dieser Entwicklungen sah sich die SED, die sich mittlerweile in PDS (Partei des demokratischen Sozialismus) umbenannt und die alte Parteiführung ausgewechselt hatte, veranlasst, der Einrichtung eines Runden Tisches zuzustimmen. Neben einem in Berlin tagenden "Zentralen Runden Tisch" (1. Sitzung am 7. Dezember 1989; letzte Sitzung am 12. März 1990) gab es an weiteren Orten der DDR "Runde Tische", wobei der Begriff die Gleichberechtigung der Beteiligten verdeutlichte.

Der Zentrale Runde Tisch kann als eine wahrhaft revolutionäre Institution angesehen werden: Ohne formal dazu legitimiert zu sein, übernahm er zeitweise praktisch die Kontrolle der Regierung (unter dem Ministerpräsidenten Modrow von der PDS). Gleichzeitig nahm er eine gesetzgebende Funktion wahr, wobei die Volkskammer der Form halber den Verabredungen und Beschlüssen zustimmte. So beschloss der Zentrale Runde Tisch unter anderem die Auflösung der Staatssicherheit, und er legte zunächst den 6. Mai 1990, dann den 18. März 1990 als Termin für die freien Wahlen zur Volkskammer fest. Trotz der Einrichtung der Runden Tische endeten in jenen Wochen jedoch die Demonstrationen nicht. Sie blieben gleichsam der "Motor" des politischen Umbruchs und bestimmten schließlich als Ziel die Vereinigung mit der Bundesrepublik.

Das Ergebnis der Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 mit dem eindeutigen Votum für einen Vereinigungsprozess gemäß Art. 23 GG ebnete den Weg für die Verhandlungen, die über den Zwischenschritt einer Währungs- und Wirtschaftsunion am 1. Juli 1990 letztendlich die Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 ermöglichten. Es verhandelten nunmehr zwei demokratisch legitimierte deutsche Regierungen über die Modalitäten einer Vereinigung ihrer Staatswesen für alle Bereiche von Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft. Und gemeinsam verhandelten sie mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs im Wesentlichen über die Beendigung von Besatzungsrechten, über Grenzfragen und Bündniszugehörigkeit (Zwei-plus-Vier-Gespräche).

Der gewaltfreie Aufstand


"Der gewaltfreie Aufstand passte nicht in unsere Theorie. Wir haben ihn nicht erwartet, und er hat uns wehrlos gemacht." So äußerte sich Horst Sindermann, Präsident der Volkskammer von 1976 bis 1989, in einem posthum erschienenen Interview mit dem SPIEGEL (7. Mai 1990). Zudem wird Sindermann mit dem nicht genauer belegten Satz zitiert: "Wir hatten alles geplant. Wir waren auf alles vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete."

Die erfolgreiche "Friedliche Revolution" oder "Freiheitsrevolution", die letztlich mit den Wahlen vom 18. März 1990 verfassungsrechtlich formal bestätigt wurde, kann als herausragendes Ereignis in der deutschen Geschichte gelten. Mit Blick auf ähnliche politisch-gesellschaftliche Transformationsprozesse in den anderen Staaten des mittel- und osteuropäischen kommunistischen Herrschaftssystems ist sie sogar Teil eines welthistorischen Wandels gewesen.

Lange Zeit wurde in der DDR von oppositionellen Gruppen mehrheitlich die Kirche als Schutzraum genutzt, was sie für die Staatsmacht in gewisser Weise kontrollierbar machte. Diese Gruppen aber wirkten ermutigend, als sie den entscheidenden Schritt aus dem kirchlichen Raum in die Öffentlichkeit taten. So wurden die landesweit vernetzten Gruppen der Bürgerbewegung der 1980er-Jahre zum Anker für jene, denen die bestehenden Verhältnisse einer Herrschaft von "Willkür und Lüge" (B. Bohley) unerträglich geworden waren.

"Die Bevölkerung hatte jahrzehntelang wider besseres Wissen mitgelogen und fühlte sich mitschuldig an dem katastrophalen Zustand der Gesellschaft. Damit sollte jetzt Schluss sein", interpretierte Bärbel Bohley den Impuls zum massenhaften Aufstand. Beginnend mit der offensichtlichen Wahlfälschung im Mai 1989 entlud sich der "Gefühlsstau" in allen Teilen der Bevölkerung; die Ängste vor den Repressionen der SED-Herrschaft verloren sich rapide. Zu jenem Zeitpunkt registrierte ein Stasi-Bericht ca. 160 oppositionelle Gruppen in der DDR mit etwa 600 Personen in "Führungsgremien" bei einem "Gesamtpotential" von rund 2500 Personen (Stasi-Bericht über "Persönliche Verbindungen oppositioneller und anderer negativer Kräfte" von 1. Juni 1989, in: Armin Mitter, Stefan Wolle (Hg.): "Ich liebe euch doch alle!" Befehle und Lageberichte des Ministeriums für Staatssicherheit. Berlin 1990, S. 46 ff). So gering diese Zahlen auch anmuten, sie dokumentieren nichtsdestoweniger den Keim der Gegenmacht zur SED-Herrschaft.

Ein geschichtliches Phänomen besonderer Art stellen der rapide Machtverlust und die offensichtliche Lähmung der SED-Partei- und Staatsführung dar, die auch in anderen kommunistischen Parteien der mittel- und osteuropäischen Staaten beobachtbar waren. Lähmung und Machtverlust waren einerseits Folgen der Reformpolitik von Gorbatschow: Demokratisierung und Lockerung des Zugriffs auf die "Bruderstaaten" hatten die unbeabsichtigte Nebenwirkung, dass die Sowjetunion ihren inneren Zusammenhalt einbüßte. Das SED-Regime verlor den Rückhalt seiner Führungsmacht, Horst Sindermann sprach sogar von Wehrlosigkeit. Doch der Machtverlust hätte nicht stattgefunden ohne die Dynamik, mit der sich die gewaltfreie Erhebung in allen Teilen der DDR entwickelte. Jahrzehntelange Machtausübung auf den Pfeilern von Indoktrination, sozialen Zwängen und gewaltsamen Unterdrückungsinstrumentarien hatten die Herrschaftseliten unflexibel werden lassen und ihre Lernfähigkeit erheblich eingeschränkt. Bezeichnend ist, dass die SED-Führung in Leipzig den Oppositionsgruppen erstmals am 11. Oktober 1989 einen "Dialog" anbot.

"Revolution ist weiblich"


Eine Ausstellung über das Engagement von acht Frauen aus verschiedenen Städten Sachsens im Herbst 1989 unter dem Titel "Revolution ist weiblich" verweist darauf, dass bei der gewaltfreien Erhebung in der DDR in großem Umfang Frauen hervortraten – im Kontrast zur extremen Dominanz von Männern in den Führungseliten der "realsozialistischen" Staaten (Ausstellungstafeln unter: www.archiv-buergerbewegung.de). Viele der Frauen waren in der Regel bereits während der vorangegangenen Jahre in oppositionellen Gruppen aktiv gewesen. Eine dieser Gruppen war die 1986 gegründete "Initiative für Frieden und Menschenrechte" (IFM), in der sich unter anderem einige der führenden Bürgerrechtlerinnen – Bärbel Bohley und Ulrike Poppe etwa – zusammenfanden (hierzu die Ausstellung "Wir müssen schreien, sonst hört man uns nicht: Frauenwiderstand in der DDR der 80er-Jahre". Ausstellungstafeln unter: www.havemann-gesellschaft.de). Mitglieder der IFM gaben die Untergrundzeitschrift "grenzfall" heraus. Ebenfalls 1986 wurde in Ost-Berlin die Umweltbibliothek gegründet, ein Kommunikationszentrum für Oppositionelle und Vorbild für Gründungen an weiteren Orten der DDR.

Wer heute in biografischen Skizzen über Frauen und Männer aus der DDR-Bürgerbewegung nachliest, wie sie den Einstieg in ein widerständiges Engagement fanden, sollte mit bedenken, welchen Mut dieses Verhalten in der SED-Diktatur erfordert hat. Diese Frauen und Männer ertrugen nicht allein eine Außenseiterrolle – allein angesichts der moralischen Ansprüche der staatssozialistischen Gesellschaftsordnung eine besondere Herausforderung –, sondern sie ließen sich zugleich auf materielle und andere existenzielle Verunsicherungen ein und waren vielfältigen Repressionen sowie Sanktionen bis hin zur Inhaftierung ausgesetzt.

Bärbel Bohley (1945-2010) absolvierte nach einer Ausbildung als Industriekauffrau ein Studium an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee und arbeitete danach als freischaffende Malerin. Wegen ihres friedensaktivistischen Engagements schloss sie der Künstlerverband der DDR 1983 aus. 1988 wurde sie nach ihrer Teilnahme an oppositionellen Aktionen bei der Luxemburg/Liebknecht-Demonstration verhaftet und aus der DDR nach Großbritannien abgeschoben. Ein halbes Jahr später konnte sie in die DDR zurückkehren. Im September 1989 war sie Mitgründerin der Gruppierung "Neues Forum". In den Folgemonaten engagierte sie sich insbesondere für die Verfügbarkeit der Stasi-Akten. Ab 1996 war Bärbel Bohley zwölf Jahre lang in verschiedenen Hilfsprojekten in den Nachkriegsgesellschaften des ehemaligen Jugoslawiens tätig: für Flüchtlingskinder, zur Wasserversorgung und zum Hausbau. Rückblickend schrieb sie über die Geschehnisse in der DDR während des Sommers und Herbstes 1989 auf ihrer Homepage: "Wir sind auf die Weltbühne der Geschichte katapultiert worden und haben sie verändert. Sicher hätte man alles besser machen können. Ich denke aber, wir müssen uns für unser Handeln nicht schämen. Wir haben dem Glauben, dass man die Welt gewaltfrei ändern kann, Zuversicht und Gewissheit gegeben."

Ulrike Poppe (geb. 1953) verweigerte sich bereits als junge Studentin dem DDR-System und brach ihr Studium ab. 1980 war sie Mitbegründerin des ersten unabhängigen Kinderladens in Ost-Berlin, gegründet, um Kinder nicht der ideologischen Indoktrinierung, namentlich nicht der militaristischen Erziehung, auszusetzen. In den 1980er-Jahren engagierte sie sich gemeinsam mit ihrem damaligen Mann in verschiedenen Friedensgruppen. Zeitgleich mit Bärbel Bohley kam sie 1983 in eine sechswöchige Untersuchungshaft. Den Frauen wurden ihre Kontakte zu Gesinnungsgenossinnen in der Bundesrepublik als "landesverräterische Nachrichtenübermittlung" ausgelegt. Während jener Zeit unterhielt sie zudem Beziehungen zu Bürgerbewegungen in anderen Staaten des Ostblocks. Im September 1989 begründete Ulrike Poppe federführend "Demokratie Jetzt" und wurde Vertreterin der Organisation am Zentralen Runden Tisch. In den Folgejahren übernahm sie verschiedene Aufgaben in Bildungseinrichtungen. Seit Jahresbeginn 2010 ist sie Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur.

Literatur: Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel. Hg. von der Robert-Havemann-Gesellschaft, Berlin 2011

QuellentextWolfgang Ullmann: Die hervorragende Rolle der an der Revolution mitwirkenden Frauen (1990)

"Mir liegt aber daran, auf etwas aufmerksam zu machen, was diese Gruppierungen keineswegs erfolgreicher aussehen lässt, was aber bewirken wird, dass diese DDR-Gruppierungen nicht wieder zu tilgende Spuren in der politischen Landschaft hinterlassen werden. Ich spreche von der gerade für die DDR-Opposition typischen hervorragenden Rolle der an der Revolution mitwirkenden Frauen. Ohne Bärbel Bohley ist das ‚Neue Forum‘ […] undenkbar. Ohne Ulrike Poppe wäre ‚Demokratie Jetzt‘ eine vielleicht intellektuell profilierte Elite, aber keine Bürgerbewegung geworden. Ohne Vera Wollenberger wäre der Zusammenhang zwischen der Rosa-Luxemburg-Demo von 1988 und dem Herbst 1989 wohl schon weithin vergessen (Bei dieser offiziellen Gedenkkundgebung waren bereits DDR-Bürgerrechtler mit eigenen Plakaten mitgelaufen und inhaftiert worden – Anm. d. Red.). Ohne die Hartnäckigkeit von Tatjana Böhm wäre die Sozialcharta (als Bestandteil der späteren Verhandlungen über die Modalitäten der deutsch-deutschen Vereinigung – Anm. d. Red.) nicht zustande gekommen, und ohne die Härte von Ingrid Köppe hätte es wohl nie zu jenem spektakulären Ultimatum des Runden Tisches am 8. Januar 1990 kommen können, das die Regierung Modrow zum Einlenken bewog und die Auflösung des Amtes für nationale Sicherheit entschied.

Wofür stehen diese Frauen? Sie stehen nicht für große machtpolitische Erfolge, sondern auch für eine bestimmte Art von Bedeutungswandel, dem die Worte ‚friedlich‘ und ‚demokratisch‘ unterzogen wurden. In der Revolution, in der diese Frauen so Entscheidendes mitbewirkten, hieß ‚friedlich‘ und ‚demokratisch‘ immer auch ‚menschlich‘, wobei ‚friedlich‘ die Menschlichkeit der Gewaltlosigkeit, ‚demokratisch‘ die Menschlichkeit als Gemeinsamkeit definierte. Allein der Gegenwart dieser Frauen war es zu danken, dass bei der Berliner Demonstration vom 4. November 1989 Kinder mitmarschieren konnten und dabei etwas erleben konnten, was sie wohl nie wieder vergessen können: Dass sich Erwachsene, Männer und Frauen, als Erwachsene beweisen, indem sie die höchste Autorität des Landes für sich in Anspruch nehmen."

Volker Ullmann, Vortrag vom 16. Juni 1990 (Auszug), © Kontext Verlag, Berlin. Wolfgang Ullmann (1929-2004) war Theologe, Mitbegründer von "Demokratie Jetzt" und Mitglied des Zentralen Runden Tisches.

Ein neuer deutscher Staat


Die Auflösung der kommunistischen Diktatur in der DDR bedeutete das Ende von autoritären, totalitären resp. diktatorischen Phasen in der deutschen Geschichte. Mit dem Beitritt der auf dem Gebiet der DDR gegründeten fünf Länder sowie der zu einem Bundesland zusammengefassten 23 Bezirke Berlins zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 war faktisch ein neuer Staat in Europa entstanden. Im Einigungsvertrag wurde Berlin als Hauptstadt des neuen deutschen Staates festgelegt und am 20. Juni 1991 mit einer Abstimmung im Deutschen Bundestag zum Sitz von Parlaments und Regierung bestimmt.

Wenn auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 nicht als mögliche Verfassung für ein vereinigtes Deutschland erarbeitet wurde, so ist es dazu jedoch in einem historischen Prozess geworden. Es hatte in seiner Präambel zwei Staatsziele formuliert, nämlich "die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden" und "als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Mit der Herstellung der deutschen Einheit war das eine Staatsziel erfüllt. Der alte Art. 23 GG wurde aufgehoben. Damit war zum Ausdruck gebracht, dass es kein Gebiet mehr geben würde, das der Bundesrepublik beitreten könnte.

Für die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Regelungen des Potsdamer Abkommens der alliierten Siegermächte vom 2. August 1945 bestimmend gewesen. Bis 1970 hatten die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland mit Blick auf eine mögliche Einheit Deutschlands und eines damit verknüpften Friedensvertrages formal die Grenzfrage hinsichtlich der Oder-Neiße-Linie (und damit die Frage der Staatszugehörigkeit der ehemaligen deutschen Ostgebiete) offen gehalten. Im Warschauer Vertrag von 1970, einem der "Ostverträge" der Brand/Scheel-Regierung, wie auch fünf Jahre später in der Schlussakte von Helsinki, dem Abschlussvertrag der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), anerkannte die Bundesrepublik die Regelungen des Potsdamer Abkommens sowie allgemein die Unverletzlichkeit der in Europa bestehenden Grenzen. Zugleich bekundete sie allerdings in einem Notenwechsel mit den Regierungen der westlichen Alliierten, deren Rechte mit dem Abkommen nicht berühren zu wollen. Wenige Wochen nach der Vereinigung, am 14. November 1990, wurde in einem deutsch-polnischen Grenzvertrag schließlich die Oder-Neiße-Grenze völkerrechtlich verbindlich bestätigt.

Die Bundesrepublik Deutschland vor der Wiedervereinigung war seit den 1957 unterzeichneten Römischen Verträgen (EWG) Teil des europäischen Einigungsprozesses. 1990 bestand die damals so benannte "Europäische Gemeinschaft" (EG) aus 10 Staaten (Benelux, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien, Irland, Dänemark, Griechenland, Spanien, Portugal). Das vereinigte Deutschland machte ein Viertel der Bevölkerungszahl der EG aus. Angesichts dessen kamen im Zuge der Vereinigung national wie international Diskussionen über mögliche Gefahren durch das Entstehen einer neuen "Weltmacht" in der internationalen Gesellschaft auf. Auch um solchen Sorgen ein Ende zu bereiten, wurde Ende 1992 ein "Europa-Artikel" als neuer Artikel 23 in das GG eingefügt, dessen erste Sätze in Fassung von 2012 lauten:

Art. 23 Abs. 1, Satz 1 u. 2 Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einem diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen.

Der neue Artikel 23 bot eine weitreichende Ermächtigungsgrundlage zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die seit 2002 so benannte Europäische Union (EU) und bekräftigte das grundgesetzliche Bekenntnis zur europäischen Einigung und Einbindung Deutschlands. Seit 1990 hat sich auch das quantitative Gewicht der Bundesrepublik in der EU durch den Beitritt von weiteren 14 Staaten verringert. Eine weitere Änderung des GG in Folge der Vereinigung betraf den Artikel 146, der nunmehr den folgenden Wortlaut hat.

Art. 146 Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Diese Neufassung des Artikels 146 (den manche Staatsrechtler nach der Vereinigung generell für überflüssig halten) eröffnet in einer gegenwärtig nicht absehbaren Situation die Möglichkeit eines "friedlich-evolutionären Übergangs in eine neue Verfassungsordnung" (so der Jurist und Rechtsphilosoph Horst Dreier).

Dr. Gernot Jochheim lebt in Berlin, wo er als Lehrer tätig gewesen ist. Er hat zur Sozialgeschichte der Gewaltfreiheit gearbeitet, eine Vielzahl von Lernmaterialien zur politischen und sozio-historischen Bildung publiziert sowie an Projekten zur schulischen Gewaltprävention mitgewirkt. Für die bpb hat er bereits das infoaktuell "27. Januar – Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus" (2012) verfasst.