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Migration und Integration | Sozialer Wandel in Deutschland | bpb.de

Sozialer Wandel in Deutschland Editorial Struktur und Entwicklung der Bevölkerung Materielle Lebensbedingungen Rolle der Eliten in der Gesellschaft Armut und Prekarität Migration und Integration Bildungsexpansion und Bildungschancen Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern Facetten der modernen Sozialstruktur Literaturhinweise Impressum

Migration und Integration

Rainer Geißler

/ 23 Minuten zu lesen

Deutschland befindet sich seit dem Anwerbevertrag mit Italien im Jahr 1955 auf dem Weg zu einem modernen Einwanderungsland. Migrantinnen und Migranten sowie ihre Nachkommen sind zu einem wichtigen Teil der deutschen Sozialstruktur geworden. Ihre Zahl wird weiter zunehmen, und Deutschland steht vor der Aufgabe, ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.

Die Entwicklung zur multiethnischen Gesellschaft (© Eigene Grafik nach Daten bei Lederer 1997 (1961-1989); Statistisches Bundesamt (1990-2010); Zensus 2011)

In den letzten 50 Jahren sind Migrantinnen und Migranten zu einem wichtigen Bestandteil der deutschen Sozialstruktur geworden. 1960 lebten erst knapp 700.000 Ausländer in der Bundesrepublik, wie die Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft im Folgenden genannt werden. Dazu kamen noch knapp 400.000 deutschstämmige Aussiedler aus der damaligen Sowjetunion und anderen Ländern Ost- und Südosteuropas. Beide Gruppen zusammen machten nur etwa 2 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung aus.

Nach der letzten Volkszählung, dem Zensus 2011, leben in Deutschland knapp 6 Millionen Ausländer und weitere 9 Millionen "Deutsche mit Migrationshintergrund", wie sie in den offiziellen Statistiken heißen. Dazu gehören (Spät-)Aussiedler, eingebürgerte ehemalige Ausländer sowie in Deutschland geborene Deutsche mit mindestens einem Elternteil, der zugewandert oder in Deutschland als Ausländer geboren ist. Heute stellen die Migrantinnen und Migranten, wie die 15 Millionen Personen mit Migrationshintergrund hier der Einfachheit halber genannt werden, 19 Prozent der Bevölkerung Deutschlands. Das multiethnische Segment der deutschen Sozialstruktur hat sich also seit 1960 fast verzehnfacht, und es ist absehbar, dass es sich in den beiden kommenden Jahrzehnten weiter vergrößern wird.

Die Migrantinnen und Migranten sind nicht gleichmäßig auf Deutschland verteilt, sondern konzentrieren sich auf die alten Bundesländer und dort wiederum auf Großstädte und industrielle Ballungszentren. In den neuen Ländern (ohne Berlin) lebten 2011 nur knapp 500.000 der 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund (knapp 4 Prozent der Wohnbevölkerung) im Vergleich zu 13,7 Millionen (21,4 Prozent der Wohnbevölkerung) in Westdeutschland (ohne Berlin). Ostdeutschland ist eine weitgehend monoethnische Gesellschaft geblieben. Hohe Migrantenanteile wiesen im Jahr 2007 Frankfurt am Main (42 Prozent), Augsburg (40 Prozent), Nürnberg (38 Prozent) und Stuttgart (37 Prozent) auf. Von den Kindern unter sechs Jahren hatte in diesen vier Städten bereits eine deutliche Mehrheit von 57 bis 68 Prozent mindestens einen Elternteil mit Migrationshintergrund.

Der wachsende Anteil der Migranten ist keine Besonderheit der deutschen Sozialstruktur. Auch in vielen anderen europäischen Gesellschaften – selbst in den ehemaligen Auswanderungsländern Portugal, Spanien und Italien – hat die Zahl der Zuwanderer in den letzten Jahrzehnten zugenommen.

Geschichtliche Entwicklung


Die deutsche Nachkriegsgeschichte von Migration und Integration lässt sich recht klar in vier Phasen unterteilen: in die Gastarbeiterphase (1955-1973), die Phase der ersten Integrationsversuche (1973-1981), die Abwehrphase (1981-1998) und die Akzeptanzphase (ab 1998).

Gastarbeiterphase (1955-1973)


Die Jahre 1955 bis 1973 markieren die Periode der Gastarbeiterphase, die man auch "Anwerbephase" nennen kann. Um ihren Arbeitskräftebedarf zu decken, warb die aufblühende westdeutsche Wirtschaft Menschen aus den Mittelmeerländern an und schloss entsprechende Abkommen mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968) ab. Die Anwerbemaßnahmen erfolgten auch vor dem Hintergrund der Absperrung der deutsch-deutschen Grenze im Jahr 1961, die den Zuzug von Übersiedlern aus der DDR weitgehend zum Erliegen brachte und den Arbeitskräftemangel verschärfte.

Wie begehrt und hochwillkommen ausländische Arbeitnehmer seinerzeit in Deutschland waren, macht das folgende Ereignis deutlich: Die zweimillionste "Gastarbeiterin", eine Jugoslawin, wurde 1972 in München vom Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit und vom bayrischen Arbeitsminister mit Sekt und Blumen begrüßt und mit einem tragbaren Fernsehgerät beschenkt.

Die zuständigen deutschen Stellen, die Entsendeländer und nicht zuletzt die Betroffenen selbst gingen anfangs vom sogenannten Rotationsprinzip aus: Die angeworbenen Arbeitnehmer sollten nach einigen Jahren in ihre Herkunftsländer zurückkehren und – bei Bedarf der deutschen Wirtschaft – durch neue "Gastarbeiter" ersetzt werden. So kamen zwischen 1955 und 1973 circa 14 Millionen Ausländer in die Bundesrepublik, und etwa 11 Millionen kehrten wieder in ihre Heimat zurück.

Erste Integrationsversuche (1973-1981)


Ölkrise, Wirtschaftsrezession und drohende Arbeitslosigkeit veranlassten die Bundesregierung im Jahr 1973, einen bis zum Jahr 2000 gültigen Anwerbestopp zu verhängen. Damit wurde eine Phase der Konsolidierung und erster Integrationsversuche eingeleitet. Obwohl die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer von 2,6 Millionen im Jahr 1973 innerhalb von drei Jahren unter die Zwei-Millionen-Grenze sank und diese erst in den 1990er-Jahren wieder überschritten wurde, nahm die ausländische Wohnbevölkerung durch Familiennachzug und hohe Geburtenraten weiter zu (Familienmigration).

Gleichzeitig wiederholte sich in Deutschland ein Phänomen, das die Schweiz bereits zwei Jahrzehnte zuvor erfahren hatte; der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat es auf die einprägsame Formel gebracht: "Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen." Es wurde deutlich, dass das rein ökonomisch gedachte Rotationsprinzip die menschlichen Aspekte der Arbeitsmigration außer Acht gelassen hatte. Die angeworbenen Migrantinnen und Migranten wurden immer häufiger von kurzfristigen "Gastarbeitern" zu länger verweilenden Arbeitnehmern oder auch bleibewilligen Einwanderern. Die deutsche Gesellschaft stand damit vor der Herausforderung, den bleibewilligen Teil der Arbeitsmigranten einzugliedern. Die sozialliberale Regierung trug dieser Aufgabe Rechnung, indem sie 1978 das Amt des Integrationsbeauftragten – die genaue Bezeichnung lautete "Beauftragter der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen" – einrichtete und mit Heinz Kühn, dem prominenten ehemaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, besetzte.

Kühn – er wird heute fälschlicherweise meist als erster "Ausländerbeauftragter" bezeichnet – verfasste ein Jahr nach Amtsantritt ein beeindruckendes Memorandum zur Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien. Wer es heute liest, könnte meinen, es sei nicht vor fast 35 Jahren, sondern gestern geschrieben worden. So heißt es dort zum Beispiel: "Den (vermutlich in großer Zahl) bleibewilligen Einwanderern, namentlich der zweiten und dritten Generation, muss das Angebot einer vorbehaltlosen und dauerhaften Integration gemacht werden […]. Bereits jetzt haben gravierende Bildungs- und Ausbildungsnachteile einen großen Teil der ausländischen Jugendlichen in eine Außenseiterrolle gedrängt, die nicht nur für den Einzelnen schwerste persönliche Probleme schafft, sondern auch bereits in den Kriminalstatistiken evident wird." Es müsse mehr Geld für Bildung und Ausbildung der jungen Ausländer ausgegeben werden, sonst würden "möglicherweise […] anstelle eines Lehrers zwei Ordnungskräfte notwendig." Allerdings blieb Kühn ein ungehörter Rufer in der Wüste.

Abwehrphase (1981-1998)


Zu Beginn der 1980er-Jahre wurde ein neues, bis heute andauerndes Migrationsphänomen offensichtlich: die Anziehungskraft Deutschlands für Asylsuchende aus den Krisengebieten der europäischen und außereuropäischen Welt, wo Krieg, Elend und Unterdrückung herrschen. 1980 verdoppelte sich die Zahl der Asylbewerber gegenüber dem Vorjahr und überstieg mit 108.000 erstmals die 100.000-Marke. Die Politiker reagierten darauf mit einer Wende in der Ausländerpolitik: Die zaghaften Integrationsbemühungen Ende der 1970er-Jahre schlugen um in ein "Rennen nach einer Begrenzungspolitik", wie es Karl-Heinz Meier-Braun 1995 formuliert hat. Der Konsolidierungsphase mit ersten Integrationsversuchen folgte eine fast zwei Jahrzehnte dauernde "Abwehrphase".

Dabei geriet die Integration der Arbeitsmigranten immer mehr in Vergessenheit, obgleich der Wandel vom "Gastarbeiter" zum Einwanderer kontinuierlich voranschritt. Umfragedaten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), einer seit 1984 durchgeführten repräsentativen Befragung deutscher Haushalte, zeigten, dass immer mehr Zuwanderer aus den ehemaligen Anwerbeländern ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden hatten und sich darauf einrichteten, auf längere Zeit oder auch auf Dauer in der Bundesrepublik zu leben. 1984 wollten nur 30 Prozent dauerhaft in Deutschland bleiben, 2000 waren es bereits die Hälfte, von der zweiten Generation mehr als zwei Drittel. Konkrete Rückkehrabsichten äußerten nur noch 15 Prozent (Bericht der Unabhängigen Kommission "Zuwanderung" 2001).

Dieser Orientierungswandel führte dazu, dass sich immer mehr Ausländer immer länger in Deutschland aufhalten. Anfang 2003 hielten sich bereits 72 Prozent aller hier lebenden Türken, jeweils 76 Prozent der Griechen und Italiener sowie 78 Prozent der Spanier seit mindestens zehn Jahren in der Bundesrepublik auf. Von den ausländischen Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren waren 2002 bereits 68 Prozent hier geboren.
Die Verwandlung der "Gastarbeiter" zu Einwanderern vollzog sich eher im Stillen, die öffentliche Aufmerksamkeit konzentrierte sich stattdessen auf Asylsuchende und Flüchtlinge. Mit der Krise und dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Osteuropa nahm der Zuwanderungsdruck eine neue Qualität an: Zu den Asylsuchenden aus den Armuts- und Konfliktregionen der sogenannten Dritten Welt kamen viele Menschen, die die geöffneten Grenzen im Osten dazu nutzten, den Krisen und dem Krieg in Ost- und Südosteuropa zu entkommen.

Die Zahl der Asylsuchenden stieg zu Beginn der 1990er-Jahre stark an und erreichte 1992 mit 438.000 Antragstellenden den Höhepunkt. Deutschland gehörte zu den bevorzugten Zielen der nach Westeuropa strebenden Menschen, wenn auch die Zahl der Asylsuchenden pro Kopf der Bevölkerung in vielen europäischen Gesellschaften noch höher lag. So kamen zum Beispiel im Gipfeljahr 1992 in Schweden auf 1000 Bewohner zehn Anträge auf Asyl, in Deutschland lediglich fünf.

Mit der Änderung des Asylrechts durch die "Drittstaatenregelung" im Jahr 1993 ging die Zahl der Asylsuchenden schlagartig zurück. Sie fiel nahezu kontinuierlich auf 71.000 im Jahr 2002 und 19.000 im Jahr 2007, steigt aber seitdem wieder an. 2013 wurden 127.000 Anträge auf Asyl gestellt, und von Januar bis Oktober 2014 waren es bereits 158.000.

Im Hinblick auf die Gesamtzahl der Ausländerinnen und Ausländer lässt sich allerdings sagen: Das erneute starke Wachstum von 4,5 Millionen im Jahr 1988 auf 7,3 Millionen im Jahr 1996 ist weniger auf Flüchtlinge, sondern hauptsächlich auf den vermehrten Einsatz ausländischer Arbeitskräfte zurückzuführen. Die Zahl der erwerbstätigen Ausländer nahm zwischen 1987 und 1993 um fast zwei Drittel von 1,8 Millionen auf drei Millionen zu. Die Arbeitgeber brauchten zusätzliche Arbeitsmigranten und nutzten die Schlupflöcher, die ihnen der Anwerbestopp gelassen hatte. Hinter der Fassade des unrealistischen Dogmas "Deutschland ist kein Einwanderungsland" boomte die Ausländerbeschäftigung.

Zusammenfassend lässt sich die Entwicklung des multiethnischen Teils der Gesellschaft wie folgt charakterisieren: Deutschland ist seit den 1960er-Jahren aus ökonomischen, demografischen und humanitären Gründen de facto zu einem Zuwanderungsland geworden – allerdings über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg zu einem "Zuwanderungsland wider Willen". Die Politik war zu sehr mit Begrenzung und Abwehr befasst und hat es darüber versäumt, ein durchdachtes Konzept zur Eingliederung der Migrantinnen und Migranten zu entwickeln und der deutschen Bevölkerung bei der Bewältigung der Integrationsprobleme zu helfen. Der Migrationsforscher Klaus J. Bade beschreibt die Folgen dieser Versäumnisse: "Die lange anhaltende Konzeptions- und Perspektivlosigkeit im Gesamtbereich von Migration, Integration und Minderheiten hatte zweifelsohne beigetragen zur Eskalation […] [von] Fremdenangst und schließlich auch Fremdenfeindlichkeit."

In den 1990er-Jahren dürfte das Ignorieren der Integrationsproblematik auf Landes- und Bundesebene auch damit zusammengehangen haben, dass Deutschland durch die über Nacht hereingebrochene Wiedervereinigung eine Integrationsaufgabe von ganz anderen Dimensionen zu bewältigen hatte und immer noch hat. Auf lokaler Ebene – sozusagen "vor Ort" – hat es in vielen Städten wie zum Beispiel Stuttgart, Frankfurt am Main oder Berlin durchaus große Bemühungen gegeben, die vielen Migrantinnen und Migranten angemessen am städtischen Leben zu beteiligen.

Akzeptanzphase (seit 1998)


Der Regierungswechsel von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder im Herbst 1998 läutete eine neue Periode ein, die hier als "Akzeptanzphase" bezeichnet werden soll. "Es besteht Einigkeit darüber, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist und nicht werden soll." In diese klaren Worte fasst Manfred Kanther, der letzte Innenminister der Regierung Kohl, 1998 das Dogma der Abwehrphase. Kurz danach versprach Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung "eine entschlossene Politik der Integration […]. Die Realität lehrt uns, dass in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten eine unumkehrbare Zuwanderung stattgefunden hat." Und unter den beiden Regierungen Merkel wurde dieser Weg mit noch mehr Konsequenz und Einfallsreichtum fortgesetzt. "Integration ist eine Schlüsselaufgabe dieser Zeit" – auf diese Formel komprimierte Angela Merkel die Aufgabe in der Regierungserklärung zu ihrem Amtsantritt im November 2005.
Die Akzeptanzphase beruht auf zwei Grundeinsichten:

  • Deutschland brauchte Einwanderer aus demografischen und ökonomischen Gründen, braucht sie heute und wird sie auch in absehbarer Zukunft brauchen.

  • Wer Einwanderer braucht, muss diese in die Kerngesellschaft integrieren. Wenn dies nicht geschieht, führt dies zu Problemen und Konflikten.

Diese Grundeinsichten waren bei vielen Migrations- und Integrationsforschern schon seit vielen Jahren vorhanden. Sie kamen zum Beispiel im "Manifest der 60 – Deutschland und die Einwanderung" (Bade 1993) zum Ausdruck, einem von 60 Professoren unterzeichneten Plädoyer für eine neue Migrations- und Integrationspolitik.

Seit der Jahrtausendwende werden die beiden Grundeinsichten von großen Teilen der politischen Eliten mit durchaus unterschiedlichen Nuancen akzeptiert und in politische Maßnahmen umgesetzt. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts erleichtert seit 2000 die Einbürgerung und ermöglicht jungen Ausländerinnen und Ausländern durch das "Optionsmodell" bis spätestens zum 23. Lebensjahr die doppelte Staatsangehörigkeit. Die derzeit regierende Große Koalition hat die Optionspflicht für den überwiegenden Teil der jungen Migrantinnen und Migranten abgeschafft. Wer bis zum 21. Geburtstag mindestens 8 Jahre in Deutschland gelebt oder 6 Jahre eine Schule besucht hat oder wer in Deutschland einen Schulabschluss erworben oder eine Berufsausbildung abgeschlossen hat, kann Bürger zweier Staaten bleiben.

2005 trat das erste Zuwanderungsgesetz der deutschen Geschichte in Kraft. Im selben Jahr wurde in Nordrhein-Westfalen das erste Integrationsministerium eines Bundeslandes geschaffen und mit Armin Laschet (CDU) besetzt, der ein Jahr später einen "Aktionsplan Integration" vorlegte. Inzwischen existieren in weiteren sechs westdeutschen Ländern Ministerien oder Senatorenämter, zu deren Amtsbezeichnung der Zusatz "Integration" gehört.

2006 begannen zwei Serien von bisher acht Islamkonferenzen und sechs Integrationsgipfeln, um – in durchaus nicht unumstrittener Art – Integrationsprobleme auch mit Vertretern der Migrantinnen und Migranten sowie ihrer Organisationen zu besprechen. Auf Initiative der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer (CDU) entwickelten zahlreiche Arbeitsgruppen mit Vertretern aus Politik und Zivilgesellschaft (darunter auch Migranten) in den Jahren 2006/2007 einen "Nationalen Integrationsplan", dem 2011 ein "Nationaler Aktionsplan" folgte – beides ebenfalls Premieren in der deutschen Geschichte.

Erwähnenswert ist auch der Paradigmenwechsel im öffentlichen Diskurs über Migration und Integration. Aus einem Diskurs über "unerwünschte Ausländer", in dem das realitätsfremde Dogma "Deutschland ist kein Einwanderungsland" dominierte und der Begriff "Integration" nicht vorkam, ist ein Diskurs über das Wie der als notwendig anerkannten Migration und Integration geworden (Geißler 2010).

Quellentext"Einheit der Verschiedenen"

Seit 20 Jahren sind nicht mehr so viele Menschen nach Deutschland gezogen wie 2013. […] Die meisten Immigranten stammen aus europäischen Nachbarländern, immer mehr aus den Euro-Krisenländern Italien und Spanien, aber auch aus Kroatien oder Rumänien. Griechen, Ungarn und Bulgaren dagegen entschlossen sich seltener als 2012, eine neue Heimat in Deutschland zu suchen.
Wie sie dann ist, diese neue Heimat, und wie Deutschland sich wandelt mit den Neuen, verraten die Zahlen nicht. Um solche Fragen kümmert sich dafür […] Bundespräsident Joachim Gauck, der zu einer Einbürgerungsfeier ins Schloss Bellevue geladen hat, am Tag vor dem 65. Geburtstag des Grundgesetzes.
23 Neubürger mit ihren Familien sitzen da, manche sind in Deutschland geboren, manche haben Vorfahren in Bolivien, Polen, Ghana. Gauck wird ihnen eine Urkunde überreichen und das Grundgesetz. Vorher aber hält er eine Rede, deren Botschaft lautet: Nehmt Abschied. "Hören wir auf, von ,wir‘ und ,denen‘ zu reden", sagt Gauck. "Es gibt ein neues deutsches ,Wir‘, die Einheit der Verschiedenen."
Wer wissen will, wie Gauck dieses neue Wir versteht, muss ihm auf eine Gedankenreise folgen, die beim Lob auf den prosperierenden Rechtsstaat beginnt, der Menschen aus aller Welt anziehe. "Jeder fünfte von uns hat inzwischen familiäre Wurzeln im Ausland", sagt Gauck, bevor er zur Frage vorstößt, was das heißt: deutsch zu sein. Ein Blick ins Land zeige, "wie skurril es ist, wenn manche der Vorstellung anhängen, es könne so etwas geben wie ein homogenes, abgeschlossenes, gewissermaßen einfarbiges Deutschland".
[…]. Er […] erzählt von Begegnungen mit Menschen, die beglückt gewesen seien, "weil sie hier so lieben und so glauben können, wie sie es wollen". Das habe Gaucks Blick verändert, und diesen Perspektivwechsel wünsche er dem Land. Wer vietnamesische Eltern habe, wolle sich nicht fragen lassen, woher er "eigentlich" komme. Das signalisiere: "Du gehörst nicht wirklich zu uns." Statt Menschen, die hier zu Hause seien, zu "Anderen" zu machen, müssten "Alt-Deutsche" zum Wandel im Kopf bereit sein. Umdenken sei von allen gefragt: "Es braucht unsere, es braucht eine geistige Öffnung."
Eine Gauck-Rede über Einwanderung wäre aber keine, kämen nicht auch Konflikte zur Sprache: "Ghettobildung, wo es sie gibt, Jugendkriminalität, patriarchalische Weltbilder und Homophobie, Sozialhilfekarrieren und Schulschwänzer". Kulturelle und soziale Ursachen seien "nicht in einen Topf" zu werfen. Aber wer das Grundgesetz missachte, habe mit "null Toleranz" zu rechnen. "Es kann keine mildernden Umstände geben für kulturelle Eigenarten, die unseren Gesetzen zuwiderlaufen."
Als Gauck zum Ende kommt, sieht man zufriedene Gesichter. "Das war ein Paradigmenwechsel, eine Absage an die Integrationsdebatte der letzten 20 Jahre", sagt die Migrationsforscherin Naika Foroutan. "An die Stelle von ,Multikulti ist gescheitert‘ hat Gauck die ,Einheit der Verschiedenen‘ gesetzt. Das ist ein neues Leitmotiv." Der so Gelobte hört das nicht. Er steht bei den neuen Staatsbürgern, ist beschäftigt. Mit Kennenlernen.

Constanze von Bullion, "Wir bunten Deutschen", in: Süddeutsche Zeitung vom 23. Mai 2014

Migrantengruppen


Das multiethnische Segment ist in sich ausgesprochen vielgestaltig, differenziert und dynamisch. Die verschiedenen Gruppen von Migrantinnen und Migranten unterscheiden sich nicht nur durch ihre unterschiedlichen ethnischen und kulturellen Wurzeln, sondern auch durch Unterschiede im Rechtsstatus, in den Zuwanderungsmotiven und im Grad der Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft.

(Spät-)Aussiedler

(Spät-)Aussiedler (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 40 522; Quelle: Bundesverwaltungsamt)

(Spät-)Aussiedler und ihre Familien stellten 2011 mit 4,2 Millionen fast die Hälfte der Migrantinnen und Migranten mit deutschem Pass. Seit 1950 werden deutschstämmige Zuwanderer aus dem Osten und aus Südosteuropa nicht mehr "Flüchtlinge" oder "Vertriebene" genannt, sondern "Aussiedler", seit 1993 "Spätaussiedler". Sie sind "deutsche Volkszugehörige" im Sinne des Grundgesetzes (Art. 116) und erhalten nach ihrer Einreise die deutsche Staatsangehörigkeit. Aussiedler sind geschichtsträchtige Migranten, sie verbinden das moderne Einwanderungsland Deutschland mit seinen lange zurückliegenden Perioden als Auswanderungsland.

Fast die Hälfte der (Spät-)Aussiedler (knapp 2,4 Millionen) kommt aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Es sind in der Regel Nachkommen der deutschen Auswanderer, die seit Katharina der Großen – einer deutschen "Heiratsmigrantin" auf dem russischen Zarenthron (von 1762 bis 1796) – angeworben worden waren, um unbesiedeltes, aber fruchtbares russisches Land insbesondere an der Wolga zu kultivieren ("Wolga-Deutsche"). Nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion wurden sie während des Zweiten Weltkrieges von Stalin als angebliche Kollaborateure verfolgt und in die asiatischen Teile seines Imperium vertrieben, besonders nach Kasachstan und Sibirien.

Die zweitgrößte Gruppe – knapp 1,5 Millionen – stellen die deutschen Minderheiten aus Polen, und 430.000 (Spät-)Aussiedler sind Remigranten aus Rumänien. Teile ihrer Vorfahren, zum Beispiel die "Siebenbürger Sachsen", waren bereits im 12. Jahrhundert vom ungarischen König als Siedler in das Gebiet des heutigen Rumänien geholt und mit Privilegien ausgestattet worden.

Die Größenordnung des Zuzugs unterliegt erheblichen Schwankungen. Zwischen 1950 und 1987 wanderten jährlich zwischen 20.000 und 60.000 Aussiedler ein. Mit dem Fall der Ausreisebeschränkungen in Osteuropa stieg ihre Zahl dann sprunghaft an: Allein zwischen 1988 und 1994 wurden fast 2 Millionen Aussiedler aufgenommen, mit dem Höhepunkt im Jahr 1990, als 397.000 Personen kamen. Politische Restriktionen – Kontingentierung auf etwa 200.000 pro Jahr und Bindung des Zuzugs an die Zustimmung zu einem Aufnahmeantrag (1990), später auch an ausreichende Deutschkenntnisse (1996) – bremsten die Zuwanderung ab. Diese Maßnahmen wurden von materiellen Zuwendungen an "deutsche Volkzugehörige" in Osteuropa begleitet, um sie zum Verbleib insbesondere in Russland und Kasachstan zu bewegen und den Aussiedlungsdruck zu mildern. Seit den 1990er-Jahren ging daraufhin die Zahl der Aussiedler kontinuierlich zurück – von über 104.000 im Jahr 1999 auf 36.000 im Jahr 2005. Seit 2006 kommen nur noch wenige Tausend pro Jahr.

Auch die Herkunftsregionen veränderten sich. Polendeutsche siedelten bereits seit den 1950er-Jahren in relativ großer Zahl über, mit einem Maximum von gut 500.000 zwischen 1988 und 1990. Seit Ende der 1990er-Jahre ist ihre Zuwanderung so gut wie abgeschlossen. Die Rumäniendeutschen nutzten den Zusammenbruch des kommunistischen Regimes und zogen insbesondere in der kurzen Zeit zwischen 1989 und 2004 nach Deutschland. Auch die Russlanddeutschen profitierten von der Öffnung des "Eisernen Vorhangs" im Zuge der Perestroika. Sie wanderten als letzte der drei Gruppen ein; seit 1992 stellen sie fast allein das gesamte Kontingent der Spätaussiedler. 2006 ist aber auch ihre Einwanderung so gut wie beendet.

Von den 4,5 Millionen (Spät-)Aussiedlern, die seit 1950 nach Deutschland gekommen sind, leben 2011 noch 3,2 Millionen hier. In ihren Familien wurden nach der Einreise in Deutschland circa eine Million Kinder geboren.

Arbeitsmigranten

Die 20 größten Migrantengruppen nach Herkunftsländern (© Datenquelle: Statistisches Bundesamt; Datenbasis für Ausländer (linke Spalten): Ausländerzentralregister (AZR); Datenbasis für Personen mit Migrationshintergrund (rechte Spalten): Mikrozensus)

Kräftige Spuren hat die Gastarbeiterphase hinterlassen. 6 Millionen Menschen – das sind 38 Prozent der Bevölkerung mit Migrationshintergrund – stammen aus früheren Anwerbestaaten. Migrantinnen und Migranten aus der Türkei (2,9 Millionen), aus den Staaten des früheren Jugoslawien (1,4 Millionen) und aus Italien (780000) belegen die Spitzenplätze in der Liste der größten Migrantengruppen (ohne Aussiedler).
Auch die früheren Gastarbeiter und ihre Nachkommen aus Griechenland (knapp 400.000), Spanien (160000), Portugal (159000) und Marokko (150000) gehören zu den 20 größten Einwanderergruppen. Die Angaben für Jugoslawien enthalten auch eine nicht genau quantifizierbare Zahl von Flüchtlingen aus den Kriegswirren beim Zerfall Jugoslawiens, und auch unter den Zuwanderern aus der Türkei sind zahlreiche Flüchtlinge, insbesondere Kurden. Eine weitere Million – darunter vermutlich auch ein Teil Heiratsmigrantinnen und -migranten – machen die Einwanderer aus den wichtigsten europäischen Nachbarländern (Österreich, Niederlande, Frankreich und Vereinigtes Königreich) sowie aus den USA aus. Noch mehr, nämlich knapp 1,3 Millionen Menschen, sind aus dem postsozialistischen Osteuropa, aus Polen, Rumänien und der Ukraine, zugewandert.

Flüchtlingsgruppen


In den Migrationsstatistiken lässt sich nicht eindeutig erkennen, wie viele der 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund Flüchtlinge sind, aber sie geben dazu einige Hinweise. Alle vier Jahre fragt der Mikrozensus die 15- bis 74-jährigen Zuwanderer nach dem Hauptgrund ihrer Einwanderung. 2008 gaben 570.000 Migrantinnen und Migranten "politische oder humanitäre Gründe" bzw. "Asyl" an. Etwa zwei Drittel von ihnen (370000) sind Ausländer, ein Drittel (200000) ist inzwischen eingebürgert. Diese Angaben sind allerdings unvollständig, weil die Jüngeren unter 15 Jahren und die in Deutschland geborenen Kinder der Flüchtlingsfamilien fehlen.
Die Flüchtlinge kommen aus vielen Ländern und Kulturen und unterscheiden sich insbesondere auch durch ihren unterschiedlichen Rechtsstatus.

  • Anerkannte Flüchtlinge: Mindestens 360.000 Personen sind anerkannte Flüchtlinge mit unbefristeter Aufenthalts- oder Niederlassungsgenehmigung, Arbeitserlaubnis, Rechten auf soziale Sicherung sowie Ansprüchen auf Eingliederungshilfen. Neben den erwähnten 200.000 eingebürgerten Flüchtlingen lebten Ende 2012 45.000 ausländische Asylberechtigte sowie 71.000 ausländische anerkannte Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK-Flüchtlinge) in Deutschland. So wurden zum Beispiel 1979 im Rahmen einer internationalen humanitären Hilfsaktion 35.000 Boat-People aus Vietnam aufgenommen. Weitere 51.000 Ausländer sind jüdische Emigranten aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Sie gehören zu der großen Gruppe von 213.000 jüdischen Zuwanderern insbesondere aus der russischen Föderation und der Ukraine, die vor allem zwischen 1993 und 2004 nach Deutschland kamen, wo ihnen aus historischen Gründen der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Sie sind ausgesprochen gut gebildet; zwei Studien ermitteln Akademikeranteile von 51 bzw. 70 Prozent. Da in diesem Fall nur die Zuzüge statistisch erfasst sind, gibt es keine Angaben darüber, wie viele der jüdischen Einwanderer heute noch in Deutschland leben. Durch diese Zuwanderung ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland auf 104.000 Mitglieder angewachsen und zur drittgrößten in Europa geworden.

  • Flüchtlinge mit vorläufigem Bleiberecht oder Abschiebungsverbot: Nach den Berechnungen des Nürnberger Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erhielten etwa 51.000 Flüchtlinge in den Jahren 2007 und 2008 ein vorläufiges Bleiberecht. Voraussetzung dafür war, dass sie sich mindestens sechs bis acht Jahre in Deutschland aufgehalten hatten sowie dauerhaft beschäftigt und nicht von staatlicher Unterstützung abhängig waren. Ende 2013 lebten weitere 43.000 Ausländer in Deutschland, denen der "subsidiäre Schutz" gegen eine Abschiebung gewährt wurde, weil ihnen nach der Ausreise eine schwerwiegende Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht.

  • Geduldete: Die etwa 160.000 "geduldeten Flüchtlinge" – so die juristische Bezeichnung – befinden sich in einer schwierigen Situation ohne Perspektive: Aufgrund verschiedener rechtlicher Regelungen wird ihre Ausreisepflicht nicht umgehend durchgesetzt. Sie werden kurzfristig "geduldet" – aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen, auch aus politischem Interesse oder weil "die Ausreise nicht durchsetzbar" ist. Ihre Zukunft ist ungewiss.

  • Asylbewerber: Genau 99.999 Asylbewerber, deren Verfahren am 31.1.2014 noch nicht abgeschlossen war, unterliegen strikten Reglementierungen: keine sofortige und unbeschränkte Arbeitserlaubnis sowie seit 1994 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Diese wurden 2012 angehoben, weil sie in der bisherigen Form nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht dem in Deutschland rechtlich festgelegten menschenwürdigen Existenzminimum entsprachen. Über lange Zeit unterlagen die Asylbewerber der sogenannten Residenzpflicht und durften den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde nicht verlassen. In den letzten Jahren hat die Mehrheit der Bundesländer diese starre Einengung der Bewegungsfreiheit allerdings aufgehoben.

"Illegale"


Als "Illegale" werden Ausländer bezeichnet, die ohne Genehmigung oder mit gefälschten Papieren eingereist sind oder nach Ablauf ihrer Aufenthaltsgenehmigung nicht ausgereist oder "untergetaucht" sind. Die Grenze zwischen "legaler" und "illegaler" Migration ist allerdings fließend. Mit der Osterweiterung der EU im Jahr 2004 dürfte die Zahl der Illegalen kleiner geworden sein, weil sich Migrantinnen und Migranten aus den neuen Mitgliedstaaten nunmehr legal in Deutschland aufhalten können. Nach einer Schätzung des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts lebten 2009 zwischen 138.000 und 330.000 Menschen illegal in Deutschland. Ihre Lebensbedingungen sind ausgesprochen prekär und belastend: hohe Ausbeutungsrisiken in illegalen Beschäftigungsverhältnissen, fehlende Krankenversicherung, permanentes Abschiebungsrisiko. 2011 wurde die Meldepflicht von Schulen und anderen Erziehungseinrichtungen abgeschafft, sodass die Gefahr, durch den Schulbesuch der Kinder entdeckt zu werden, weitgehend verschwunden ist.

Soziallage und Lebenschancen

Starke tendenzielle Unterschichtung

Tendenzielle Unterschichtung (© Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands, 7., grundlegend überarbeitete Auflage Wiesbaden 2014, S. 290 (Datenbasis: Mikrozensus 2009; N = 489 349 Haushalte; berechnet von Sonja Weber-Menges).)

Die Lebenschancen der Migrantinnen und Migranten werden wesentlich von der starken tendenziellen Unterschichtung der deutschen Sozialstruktur durch Zuwanderer beeinflusst, das heißt Migranten sind in den unteren Schichten häufiger und in den höheren Schichten seltener platziert als Einheimische. Gut 15 Prozent der Ausländer im Vergleich zu 6 Prozent der Deutschen ohne Migrationshintergrund gehören der Unterschicht an und bestreiten ihren Lebensunterhalt überwiegend durch staatliche Mindestunterstützung (Sozialgeld, Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe). Weitere 38 Prozent leben in Familien von Un- und Angelernten, bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund sind es 22 Prozent. Die Schichtzugehörigkeit der Deutschen mit Migrationshintergrund ist nicht wesentlich besser als diejenige der Ausländer: 16 Prozent leben von staatlicher Mindestunterstützung und weitere 30 Prozent in Familien von Un- und Angelernten. Besonders stark sind die Migranten aus der Türkei von den Unterschichtungstendenzen betroffen.

Eine Sonderauswertung der Daten aus der Schulleistungsstudie PISA 2006 ermittelt die durchschnittlichen Unterschiede im sozioökonomischen Status zwischen den Familien von Einheimischen und Migranten im europäischen Vergleich (Geißler 2010). Dabei wird deutlich, dass die "Statuskluft" in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist: Unter den 15 wichtigsten Einwanderungsländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegt Deutschland zusammen mit Luxemburg Rang 1. In einigen europäischen Nachbarländern – Vereinigtes Königreich, Frankreich, Schweden und Norwegen – sind die Statusunterschiede zwischen Einheimischen und Migranten nur etwa halb so groß wie in Deutschland, und in klassischen Einwanderungsländern wie Kanada, Australien und Neuseeland fehlen sie völlig. Die starke tendenzielle Unterschichtung ist eine Hypothek, die uns die frühere Gastarbeiterpolitik, das lange Fehlen einer zukunftsorientierten Migrationspolitik und die damit zusammenhängenden Integrationsversäumnisse hinterlassen haben.
Die starke Unterschichtung beeinträchtigt die Lebenschancen der Migrantinnen und Migranten in verschiedenen Bereichen.

Arbeitslosigkeit – Armut – Gesundheit


Ausländische Erwerbstätige verrichten überproportional häufig belastende und gefährliche Arbeiten. Da sie auch überdurchschnittlich in krisenanfälligen Branchen beschäftigt sind (schrumpfendes produzierendes Gewerbe, Stahlindustrie und Bau) und dort zusätzlich noch in den besonders bedrohten Positionen mit niedrigen Qualifikationsanforderungen, ist ihr Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren und in der Folge unter die Armutsgrenze zu geraten, besonders hoch. 2013 betrug ihre Arbeitslosenquote 14,4 Prozent und lag um das 2,3-Fache über der Quote der Deutschen mit 6,2 Prozent. Ihre relativ niedrigen Einkommen – sie entsprechen denjenigen der Deutschen mit ähnlichen Qualifikationen, eine direkte Lohndiskriminierung besteht also nicht – und die hohen Arbeitsplatzrisiken haben zur Folge, dass viele Migranten an oder unter die Armutsgrenze geraten. 2010 lebten 32 Prozent der Ausländer und 26 Prozent aller Menschen mit Migrationshintergrund in relativer Armut (60-Prozent-Mediangrenze), von den einheimischen Deutschen waren es 12 Prozent.

Migrantinnen und Migranten sind häufiger krank und schätzen ihren Gesundheitszustand schlechter ein als Deutsche. Einige Studien, die dabei auch die Unterschiede im Bildungs- und Berufsstatus kontrollieren, zeigen, dass der höhere Krankenstand ein Unterschichtungseffekt ist und kein Migrationseffekt. Eine Ausnahme von dieser Regel bildet das hohe Risiko psychosozialer Erkrankungen bei Flüchtlingen und Asylbewerbern, die traumatisierenden Erfahrungen wie politischer Verfolgung, Haft, Folter, Krieg oder gefährlicher Flucht ausgesetzt waren.

Bildung und Ausbildung

Schulabschlüsse von jungen Ausländern (© Datenquelle: Institut für Mittelstandsforschung, ifm-Mannheim-Datenpool „Migrantenunternehmen in Deutschland“, eigene Berechnungen. - René Leicht / Marc Langhauser, Ökonomische Bedeutung und Leistungspotenziale von Migrantenunternehmen in Deutschland)

Bildung ist der Schlüssel zur Integration der Nachkommen von Migrantinnen und Migranten. Im allgemeinbildenden Schulwesen konnten die zweite und dritte Generation der Ausländer ihre Bildungsdefizite in den drei letzten Jahrzehnten deutlich vermindern. Aber auch 2012 war ihr Risiko, auf eine Förderschule für Lernbehinderte überwiesen zu werden oder das Schulsystem ohne Hauptschulabschluss zu verlassen, mindestens doppelt so hoch wie bei Deutschen. Ein hoher Anteil von 33 Prozent erwarb immer noch den Hauptschulabschluss im Vergleich zu 17 Prozent der Deutschen. Beim Abitur ist die Situation fast genau umgekehrt: 37 Prozent der Deutschen erreichten diesen Abschluss, aber nur 16 Prozent der Ausländer.

25- bis 34-jährige Migranten ohne beruflichen Abschluss oder Hochschulabschluss (© Grafik nach Daten der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hg.): Zweiter Integrationsindikatorenbericht, Paderborn 2011, S. 47)

Zwischen den verschiedenen Nationalitäten bestehen erhebliche Unterschiede beim Besuch der Sekundarstufe: Von den Schülerinnen und Schülern der ehemaligen Anwerbeländer gingen im Schuljahr 2011/2012 die Kroaten, Slowenen und Spanier am häufigsten auf ein Gymnasium. Bosnier, Griechen und Tunesier liegen im Mittelfeld, während Italiener und Türken zusammen mit den Serben, Mazedoniern und Marokkanern die Schlusslichter bilden. Aber nicht alle Ausländer sind benachteiligt. So besuchen junge Menschen aus einigen Flüchtlings- bzw. Aussiedlerländern – wie Vietnam, dem Iran sowie Russland und der Ukraine (bei den letzten beiden machen jüdische Einwanderer einen großen Anteil aus) – fast so häufig ein Gymnasium wie Deutsche oder sogar häufiger.

Die Unterschiede zwischen Migranten und Einheimischen beim Schulbesuch sind nachweislich auf entsprechende Unterschiede in den Schulleistungen zurückzuführen, aber die Leistungsunterschiede sind wiederum zu großen Teilen Unterschichtungseffekte. So schneiden zum Beispiel 15-jährige Einheimische beim Lesen um 96 PISA-Punkte und in Mathematik um 93 Punkte besser ab als die in Deutschland geborene zweite Generation aus zugewanderten Familien. Dies entspricht immerhin dem Lernfortschritt von mehr als zwei Jahren. Vergleicht man dann junge Einheimische und Angehörige der zweiten Generation mit gleichem sozioökonomischem Status, dann halbiert sich die Kluft auf 48 bzw. 45 Punkte, also auf gut ein Jahr Lernfortschritt.

Beschäftigungsbeitrag von Migrantenunternehmen (© Datenquelle: Institut für Mittelstandsforschung, ifm-Mannheim-Datenpool „Migrantenunternehmen in Deutschland“, eigene Berechnungen. - René Leicht / Marc Langhauser, Ökonomische Bedeutung und Leistungspotenziale von Migrantenunternehmen in Deutschland, hg.)

Die tendenzielle Unterschichtung ist in Deutschland nicht nur besonders stark, sondern ihre Folgen sind hier auch besonders verhängnisvoll, denn Deutschland gehört zu denjenigen Gesellschaften der OECD, in denen die Schulleistungsunterschiede der Jugendlichen aus verschiedenen Schichten besonders weit auseinanderklaffen.
Alarmierend sind die Probleme der jungen Migrantinnen und Migranten in der beruflichen Ausbildung. 2010 standen immer noch 38 Prozent der ausländischen 25- bis 34-Jährigen sowie ein Drittel der ersten Generation, die mit ihren Eltern eingewandert ist, ohne beruflichen Abschluss da. Bei der in Deutschland geborenen zweiten Generation sind die Defizite nicht ganz so dramatisch, aber auch hier ist der Anteil ohne abgeschlossene Berufsausbildung mit 25 Prozent fast dreimal so hoch wie unter den Einheimischen (9 Prozent). Für viele junge Migrantinnen und Migranten ist damit der Weg in die Arbeitslosigkeit und Randständigkeit, für einige auch in die Kriminalität vorprogrammiert. Die Situation, die Heinz Kühn bereits vor über 30 Jahren diagnostizierte und kritisierte, hat sich bis heute nicht entscheidend verändert.

Wichtige Ursachen für die berufliche Bildungsmisere der Migrantinnen und Migranten sind ihre niedrigen Schulabschlüsse und ihre schlechten Schulnoten. Aber auch bei gleichen schulischen Voraussetzungen und trotz intensiverer Bewerbungsbemühungen werden sie seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen und anschließend eingestellt. Die ethnische Herkunft als solche spielt also bei der Auswahl mancher Betriebe eine Rolle. Besondere Schwierigkeiten hatten junge Menschen mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund.

Kulturelle Integration

Die Sinus-Migranten-Milieus in Deutschland (© SINUS-INSTITUT 2011)

Zu den wichtigen Erkenntnissen der internationalen Identitätsforschung gehört, dass ein großer Teil der Einwanderer bikulturelle "hybride Persönlichkeiten" ausbildet: Nach einer repräsentativen Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2009 versuchen 74 Prozent der deutschen Migrantinnen und Migranten, die Werte und Traditionen ihres Herkunftslandes mit den deutschen zu verbinden. In diesem Zusammenhang ist ein weiteres Ergebnis der internationalen Forschung wichtig: Bikulturalität, also die Verbindung von Elementen zweier verschiedener Kulturen, ist kein Hindernis für die Integration, sondern begünstigt diese sogar. So fördert eine Studie zu jugendlichen Einwanderern in zwölf Ländern – darunter auch Deutschland – Folgendes zutage: Bikulturell orientierte Jugendliche sind am besten integriert, und zwar erheblich besser als herkunftsorientierte, aber auch besser als assimilierte Jugendliche, deren Einstellungen sich der Gesellschaft, in der sie leben, angepasst haben (Berry u. a. 2006).

Das Sinus-Institut hat die Bevölkerung mit Migrationshintergrund 2008 erstmals mit seinem subkulturellen Milieukonzept untersucht und acht Migrantenmilieus identifiziert, die sich nach ihren "Wertvorstellungen, Lebensstilen und ästhetischen Vorlieben" unterscheiden. Die Mehrheit von ihnen ähnelt inhaltlich den Milieus der Einheimischen, und sie machen die große kulturelle Vielfalt innerhalb der Gruppe der Migrantinnen und Migranten deutlich. Ein Ergebnis der Studie ist besonders bedeutsam: Die Herkunftskultur der Migranten bestimmt nicht ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu. Alle Milieus sind – so wie auch die räumlichen Migrantenviertel – multikulturell durchmischt. Das gilt selbst für das religiös verwurzelte Milieu, in dem man Einwanderer aus der Türkei oder islamischen Ländern vermuten könnte. Zwar sind sowohl Türkeistämmige (47 Prozent) als auch Muslime aus islamischen Ländern (54 Prozent) überproportional vertreten, aber fast die Hälfte der religiös Verwurzelten sind Christen und Angehörige anderer Religionen.

Soziale Integration


Regelmäßige Kontakte zwischen Migranten und Einheimischen gehören inzwischen auch im privaten Bereich zur alltäglichen Normalität. Viele Migrantinnen und Migranten, insbesondere unter den Jüngeren, zählen auch Einheimische zu ihren drei engsten Freunden. Bei türkischen und griechischen Migranten ist der Anteil derjenigen, die enge Freundschaften ausschließlich zu Angehörigen der eigenen ethnischen Gruppe pflegen, besonders hoch.

Im Heiratsverhalten gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern und unterschiedlichen Herkunftskulturen. Am häufigsten sind Italiener mit einheimischen deutschen Frauen verheiratet (34 Prozent). Bei den Frauen ist der Anteil derjenigen, die sich für einen einheimischen deutschen Ehemann entschieden haben, unter den Polinnen am größten (29 Prozent). Von den Türkinnen haben lediglich 3 Prozent einen einheimischen Deutschen als Ehepartner.

In der breiten Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung hat die Akzeptanz der Migranten seit den 1980er-Jahren über zwei Jahrzehnte langsam, aber nahezu kontinuierlich zugenommen. Nach dem Integrationsbarometer des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Migration und Integration (SVR) gaben 2010 gut zwei Drittel der Migrantinnen und Migranten an, keinerlei Benachteiligungen in Schule und Ausbildung, bei der Arbeitssuche und am Arbeitsplatz sowie bei Behörden und Ämtern erfahren zu haben; mehr als drei Viertel berichten dasselbe über ihre Nachbarschaft. Von sehr starken oder eher starken Diskriminierungen berichten 10 bis 11 Prozent in Hinblick auf die erstgenannten Bereiche und 5 Prozent in Hinblick auf die Nachbarschaft, am häufigsten die Einwanderer aus der Türkei und deren Nachkommen. Fast alle fühlen sich in Deutschland sehr wohl (60 Prozent) oder eher wohl (35 Prozent) – damit übertreffen sie sogar noch geringfügig die Einheimischen (93 Prozent).

Eine Minderheit der Deutschen hat weiterhin deutliche Vorbehalte gegenüber Migrantinnen und Migranten. Nach einer Langzeitstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung ist der Anteil der "Ausländerfeinde" in Westdeutschland zwischen 2002 und 2012 geringfügig von 24 auf 22 Prozent zurückgegangen. In Ostdeutschland ist er allerdings von 30 auf 38 Prozent gestiegen. Besonders drastisch sind die Ost-West-Unterschiede am rechten gewalttätigen Rand. Es kommt nicht von ungefähr, dass der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) in Thüringen entstanden ist und die Mörder als "Zwickauer Terrorzelle" mit einer Heimstatt in Sachsen bekannt geworden sind. Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass die Hälfte der etwa 10.000 gewaltbereiten Rechtsextremisten in den neuen Ländern lebt. Zwischen 2001 und 2008 wurden vom Verfassungsschutz in Deutschland 880 Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund pro Jahr registriert. Pro 100.000 Einwohner liegt die Zahl in Ostdeutschland um das 3,4-Fache über der westdeutschen, pro 100.000 Ausländer sogar um fast das 14-Fache (Glaab/Weidenfeld/Weigl 2010).

Politische Integration


In den 1990er-Jahren beginnt allmählich auch die politische Integration der Migrantinnen und Migranten. Die uneingeschränkten politischen Teilhaberechte – das aktive und passive Wahlrecht – werden nur den Einwanderern mit deutscher Staatsbürgerschaft gewährt. Bei der Bundestagswahl 2013 hatten gut 9 Prozent der Wahlberechtigten einen Migrationshintergrund. Dazu gehören alle Aussiedler; sie stellen damit die größte Gruppe.

Nach dem Beginn der Gastarbeiterphase dauerte es vier Jahrzehnte, bis 1994 die ersten beiden Abgeordneten aus Einwandererfamilien – Cem Özdemir für Bündnis 90/Die Grünen und Leyla Onur für die SPD – in den Bundestag gewählt wurden. 2013 hatten nach den Recherchen des Mediendienstes Integration 37 Abgeordnete des neu gewählten Bundestages einen Migrationshintergrund, sie stellen 5,9 Prozent aller Parlamentarier. 13 von ihnen gehören der SPD an, jeweils 8 der CDU und den Linken, 7 den Grünen und einer der CSU. Im vorangehenden Bundestag waren die Migrantinnen und Migranten nur mit 21 Abgeordneten (3,4 Prozent) vertreten.

In den Landesparlamenten sieht es deutlich ungünstiger aus: Von den 1825 Abgeordneten der 16 Landesparlamente stammten 2009 lediglich 39 (2,1 Prozent) aus eingewanderten Familien. Auch in den 77 deutschen Großstädten mit mindestens 100.000 Einwohnern, in denen im Durchschnitt circa ein Viertel der Einwohner einen Migrationshintergrund hat, stellten die Migrantinnen und Migranten im Jahr 2011 lediglich 198 von 4670 Ratsmitgliedern (4,2 Prozent); 2006 waren es erst 116. In einigen Städten mit großen Migrantenanteilen wie zum Beispiel Mannheim oder Hagen – Hagen hat den höchsten Migrantenanteil in ganz Nordrhein-Westfalen – sind die Einwanderer bisher nicht im Stadtrat vertreten.

Die zunehmende Zahl der Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund sowie die steigenden politischen Aktivitäten der Migranten – insbesondere der zweiten Generation – dürften einen Beitrag dazu geliefert haben, dass sich die politischen Eliten Deutschlands im letzten Jahrzehnt zunehmend der lange Zeit vernachlässigten Integration der Migrantinnen und Migranten geöffnet haben.

QuellentextMehr Gelassenheit beim Thema Einwanderung

[…] Deutschland verzeichnet seit vier Jahren eine kontinuierlich und rasch steigende Nettoeinwanderung, wie sie das Land seit zwanzig Jahren nicht erlebt hat. Während noch 2009 mehr Menschen Deutschland verließen als einwanderten, kamen 2010 127.000 mehr Menschen nach Deutschland als abwanderten. 2011 betrug der Einwanderungssaldo bereits 279.000, 2012 369.000, 2013 bereits am Ende des dritten Quartals 343.000. […]
Die Grundhaltung der Bevölkerung zur Einwanderung ist schon seit längerem in Bewegung. Vor zehn Jahren waren noch 42 Prozent der Bürger der Meinung, Deutschland könne keine Einwanderung mehr verkraften. 2010 vertraten noch 28 Prozent diese Auffassung, zurzeit 18 Prozent. Diese Veränderung geht in hohem Maße auf die positive Entwicklung des Arbeitsmarktes zurück, durch die Einwanderer weniger als Konkurrenten, sondern zunehmend als wichtige Ressource für die deutsche Wirtschaft gesehen werden. Vor zehn Jahren waren noch 59 Prozent überzeugt, dass Deutschland aufgrund der Lage auf dem Arbeitsmarkt keine Einwanderung braucht; das glauben heute nur noch 34 Prozent.
Dagegen setzte sich immer mehr die Einschätzung durch, dass Deutschland aufgrund seiner robusten Konjunktur und auch aufgrund seiner demographischen Entwicklung auf Einwanderer angewiesen ist. 2003 sahen lediglich 16 Prozent in der demographischen Entwicklung ein starkes Argument zugunsten von mehr Einwanderung, heute 40 Prozent. Die Überzeugung, dass Einwanderung notwendig ist, um den Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft zu decken, hat im selben Zeitraum von 13 auf 39 Prozent zugenommen. So stabil sich diese Trends entwickelt haben, müssen sie allerdings auch als Warnung interpretiert werden, dass ein längerer Konjunktureinbruch hier zu einer Trendwende führen könnte.
Solange der Arbeitsmarkt in einer guten Verfassung ist, sieht die Mehrheit in Einwanderung kein Problem – vorausgesetzt, dass Struktur und Qualifikation zu dem Bedarf auf dem Arbeitsmarkt passen. 59 Prozent der Bevölkerung vertreten diese Auffassung; gleichzeitig sprechen sich 53 Prozent dafür aus, Maßnahmen gegen Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme zu treffen. Die Mehrheit glaubt, dass viele Einwanderer von dem sozialen Netz angezogen werden. Auch diese Einschätzung ist in den vergangenen Monaten signifikant schwächer geworden: Im Frühjahr 2013 waren davon noch 67 Prozent überzeugt, jetzt 57 Prozent. Die Einschätzung, dass dies eher Ausnahmen sind, hat sich binnen weniger Monate von 14 auf 32 Prozent erhöht.
Die Gründe für die zunehmende Gelassenheit sind neben der Verfassung des Arbeitsmarktes und der intensiveren Auseinandersetzung mit dem Thema persönliche Beobachtungen der Bürger. Die Mehrheit zieht die Bilanz, dass in der eigenen Region nur wenig oder kaum etwas von Einwanderung zu spüren ist. 31 Prozent berichten von einem erheblichen Zuzug; dies sind ähnlich viele wie vor einem Jahr. 23 Prozent haben den Eindruck, dass die Einwanderung in ihrer Region Probleme verursacht hat, vor knapp einem Jahr waren es 26 Prozent. […].
Die zunehmende Gelassenheit in Deutschland spiegelt sich auch in der Bilanz des Zusammenlebens von Deutschen und hier lebenden Ausländern. 45 Prozent ziehen hier eine positive Bilanz, 39 Prozent eine kritische, wobei lediglich 5 Prozent den Eindruck haben, das Zusammenleben funktioniere überhaupt nicht gut. Vor knapp einem Jahr überwogen noch die kritischen Stimmen. Damals bewerteten 43 Prozent das Zusammenleben positiv, 47 Prozent negativ. Die Integrationserfolge hält jedoch die überwältigende Mehrheit für unbefriedigend. Gut zwei Drittel bezweifeln, dass die hier lebenden Ausländer integriert sind, wobei die Gründe oft eher in der unzureichenden Integrationsbereitschaft einzelner Einwanderergruppen als in unzureichenden Integrationsbemühungen des eigenen Landes verortet werden. Gleichzeitig rangieren verstärkte Bemühungen um Integration jedoch in der politischen Agenda der Bürger immer auf den letzten Plätzen. […]

Prof. Dr. Renate Köcher, Institut für Demoskopie Allensbach, "Mehr Gelassenheit beim Thema Zuwanderung", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Februar 2014

Resümee und Perspektiven


Zusammenfassend lässt sich zur Entwicklung von Migration und Integration festhalten: Deutschland ist auf dem schwierigen Weg von einem Gastarbeiterland über ein Zuwanderungsland wider Willen zu einem modernen Einwanderungsland ein erhebliches Stück vorangekommen.

Es ist sicher, dass die Anteile der Menschen mit Migrationshintergrund weiter zunehmen werden. Bereits die jüngere Altersstruktur der hier lebenden Migrantinnen und Migranten macht diese Zunahme vorhersehbar. Hinzu kommen weitere Zusammenhänge der allgemeinen Bevölkerungsentwicklung: Deutschland ist wegen der niedrigen Geburtenraten, der Alterung seiner Bevölkerung und dem damit zusammenhängenden Schrumpfen seines Arbeitskräftepotenzials aus ökonomischen Gründen auf weitere zusätzliche Einwanderer angewiesen. Die meisten Schätzungen und Berechnungen gehen davon aus, dass in den kommenden Jahrzehnten etwa 200.000 weitere Einwanderer pro Jahr erforderlich sind. Die deutsche Politik, aber auch die deutsche Gesellschaft sowie die Migranten und ihre Organisationen stehen also vor der Aufgabe, die Integration der Einwanderer weiter voranzutreiben und den eingeschlagenen Weg zu einer angemessenen Teilhabe der Menschen mit Migrationshintergrund am wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Leben fortzusetzen.

Prof. em. Dr. Rainer Geißler ist Soziologe an der Fakultät I – Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Siegen. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit; Bildungssoziologie und Sozialisationsforschung; Migration und Integration; die Gesellschaft Kanadas; Soziologie der Massenkommunikation sowie Soziologie des abweichenden Verhaltens.
Seine Anschrift lautet: Universität Siegen / Fakultät I / Adolf-Reichwein-Straße 2 / 57068 Siegen / E-Mail: E-Mail Link: geissler@soziologie.uni-siegen.de