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Wie viel Vergangenheit braucht die Gegenwart?

Martin Kloke

/ 3 Minuten zu lesen

Der Wunsch, sich der historischen Last der Vergangenheit zu entledigen, trübt das deutsch-israelische Verhältnis bisweilen bis in die Gegenwart. Nicht zuletzt das Wirken von Bundespräsidenten steht dem entgegen.

Trotz einiger Differenzen stehen die besonderen Beziehungen zwischen den beiden Ländern nicht in Frage. Bundespräsident Joachim Gauck 2012 mit dem damaligen Staatspräsidenten Shimon Peres in der Halle der Erinnerung in Jad Vashem. (© Imago / UPI Photo)

1958 riefen evangelische Aktivisten die "Aktion Sühnezeichen" ins Leben: Seit jener Zeit arbeiten jedes Jahr weltweit – auch in Israel – hunderte junger Deutscher in sozialen Projekten für und mit Menschen, denen während der Zeit des Nationalsozialismus Leid zugefügt worden ist. Mit diesem Projekt haben sich die Deutschen großes Ansehen erworben. Doch als die "Aktion" 1968 beschloss, sich den Namenszusatz "Friedensdienste" zuzulegen, um sowohl anerkannte Kriegsdienstverweigerer einzusetzen als auch Projekte unter der arabischen Minderheit Israels durchzuführen, entbrannte in der bundesdeutschen und israelischen Öffentlichkeit eine Debatte, die seither immer wieder neu aufbricht und um folgende Fragen kreist:

Inwieweit besteht in Deutschland der Wunsch oder die Tendenz, die NS-Vergangenheit zu verdrängen? Sind deutsche "Nahost-Experten" besonders qualifiziert, Israel in Sachen Menschenrechte moralische Lektionen zu erteilen, oder streben sie damit nach moralischer Kompensation für die NS-Vergangenheit?
Die "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" wurde 1968 zu Unrecht der Relativierung der Vergangenheit bezichtigt. Es gibt jedoch zahlreiche Fälle, in denen dies tatsächlich geschah; dazu vier Beispiele:

  • Teile der "neuen" deutschen Linken, die ihre "antifaschistische" Gesinnung hochhielten, organisierten auf einer Vortragsreise des israelischen Botschafters Asher Ben-Nathan durch deutsche Universitätsstädte im Juni 1969 aggressive Proteste. Nur wenige Monate später hieß es im Bekennerschreiben einer Splittergruppe noch unverblümter: "Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden, die in Kollaboration mit dem amerikanischen Kapital das palästinensische Volk ausradieren wollen."

  • Im "Historikerstreit" stritten in den 1980er-Jahren namhafte deutsche Intellektuelle über die Frage, ob die Schoah eines unter vielen anderen geschichtlichen Ereignissen oder aber als Zivilisationsbruch "einzigartig" sei. Die Position der Historiker, die Ersteres behauptet hatten, wurde von der Mehrheit ihrer Fachkollegen abgelehnt.

  • Nach einer Umfrage des Emnid-Instituts vermochte 1997 jeder fünfte Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren nichts mit dem Begriff "Auschwitz" anzufangen. Eine Befragung unter 3000 Hamburger Schülerinnen und Schülern ergab 2004, dass 59 Prozent der Jugendlichen nicht wussten, dass Israel eine Demokratie ist – sie kreuzten entweder an, Israel sei eine "Monarchie" oder eine "Militärdiktatur".

  • Nach einer STERN-Umfrage sind die Folgen der Nazi-Zeit im Bewusstsein vieler Deutschen nicht mehr präsent. 60 Prozent der Befragten meinten 2012, Deutschland habe keine besondere Verpflichtung gegenüber Israel. Nur jeder Dritte (33 Prozent) bekannte sich zu einer solchen Verantwortung.

In Deutschland hat es bis in die jüngste Zeit vergangenheitspolitische Eklats gegeben; dabei spielte der Wunsch eine Rolle, sich der historischen Last durch Verdrängung und Relativierung zu entledigen. Dass das bilaterale Verhältnis diesen Belastungen standhalten konnte, ist auch auf das Wirken einiger Bundespräsidenten zurückzuführen.

  • So erklärte Richard von Weizsäcker bei seiner Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges den 8. Mai zum Tag der "Befreiung" und der "Erinnerung" auch für Deutsche. Dabei erwähnte er "insbesondere" die sechs Millionen ermordeten jüdischen Männer, Frauen und Kinder sowie weitere Opfergruppen. Im Oktober 1985 reiste von Weizsäcker als erster Bundespräsident nach Israel.

  • Johannes Rau sprach im Februar 2000 als erster deutscher Politiker im israelischen Parlament zu den Abgeordneten in deutscher Sprache – eine Entscheidung der israelischen Seite, die nicht unumstritten war. "Ich bitte um Vergebung für das, was Deutsche getan haben, für mich und meine Generation, um unserer Kinder und Kindeskinder willen, deren Zukunft ich an der Seite der Kinder Israels sehen möchte." Parlamentspräsident Avraham Burg bezeichnete Rau in Anbetracht seiner denkwürdigen Rede als "größten Freund Israels".

  • Joachim Gauck äußerte 2012 bei seinem Besuch in Israel Unbehagen wegen der israelischen Siedlungspolitik. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Distanz der deutschen Öffentlichkeit zu Israel versicherte der Bundespräsident, dass seine kritischen Bemerkungen die besonderen Beziehungen beider Länder zueinander nicht infrage stellten: Das Eintreten für Israels Existenzrecht sei "bestimmend" für die deutsche Politik. Merkels Bekenntnis, die Sicherheit Israels gehöre zur deutschen Staatsräson, nannte Gauck allerdings "schwierig", weil es die Kanzlerin in "enorme Schwierigkeiten" bringen könne.

Dr. Martin Kloke ist verantwortlicher Redakteur für die Fächer Ethik, Philosophie und Religion bei den Cornelsen Schulverlagen in Berlin. Daneben befasst er sich seit vielen Jahren mit der deutsch-israelischen sowie christlich-jüdischen Beziehungsgeschichte und hat dazu zahlreiche Beiträge verfasst.