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Armut und Migration | bpb.de

Armut und Migration

Siegmar Schmidt

/ 14 Minuten zu lesen

Armut hat viele Facetten, die zur Entstehung von Konflikten und Kriegen beitragen. Um Armut und Unsicherheit zu entfliehen, versuchen viele Betroffene, in sichere und wohlhabendere Staaten zu gelangen. Dies stellt die Aufnahmeländer vor erhebliche Herausforderungen, die positiven Effekte der Zuwanderung werden dabei häufig übersehen.

Kurz vor dem Weltwirtschaftsgipfel im schweizerischen Davos 2014 veröffentlichte die britische Nichtregierungsorganisation (NGO) Oxfam eine Aufsehen erregende Information: Demnach verfügen die 85 reichsten Menschen der Welt über so viel Vermögen wie 3,5 Milliarden Menschen – die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – zusammen. Wenngleich diese Zahl die insgesamt zunehmende soziale Ungleichheit beeindruckend belegt, so sagt sie höchstens indirekt etwas über Armut aus. Denn die Armutsbilanz der letzten Jahre fällt zwischen einzelnen Kontinenten und Ländern sehr unterschiedlich aus.

Armut besitzt auch eine Sicherheitsdimension. Bereits 2004 stellten die UN in einem Bericht zur globalen Sicherheit und ihren Bedrohungen einen direkten Zusammenhang zwischen Armut und der Entstehung von Kriegen und Konflikten her. Eine mögliche Reaktion auf Armut ist – ob erzwungen oder freiwillig – die Migration in wohlhabendere und sicherere Länder. Daher wird auch auf die stark angestiegene irreguläre Migration aus Afrika und dem Nahen Osten eingegangen und nach ihrer sicherheitsrelevanten Dimension gefragt.

Armutsformen


Absolute und relative Armut


Unter absoluter Armut kann nach dem deutschen Politikwissenschaftler Franz Nuscheler eine Lebenssituation verstanden werden, die durch einen Mangel an elementaren Gütern wie unter anderem Nahrung, Bildung und Kleidung charakterisiert wird. Damit umfasst absolute Armut immer verschiedene Dimensionen, für die es jeweils unterschiedliche Merkmale gibt, wodurch eine allgemeine Armutsdefinition sehr erschwert wird.

Relative Armut beschreibt hingegen die Lebenslage von Teilen der Bevölkerung in reichen industrialisierten und ökonomisch weiter entwickelten Ländern, die am unteren Ende des Wohlstandsniveaus leben. Im Unterschied zu vielen Entwicklungsländern ist dort aber der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung gering und die Armut relativ: Die Versorgung mit Lebensmitteln und elementarer Gesundheitsfürsorge ist gewährleistet, und die Existenz der Menschen ist nicht bedroht. Als arm werden dann zumeist Menschen unterhalb einer bestimmten national oder international festgesetzten Mindesteinkommensgrenze bezeichnet.

Um das Ausmaß von absoluter Armut zu messen, das heißt statistisch den Anteil der absolut Armen zu erfassen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die Weltbank propagiert eine monetäre Definition. Demnach gelten Menschen als absolut arm, die weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag zum Leben haben, wobei die jeweilige Kaufkraft berücksichtigt wird. Auch wenn kritisiert wird, dass diese Grenze zu niedrig angesetzt sei und dass sie nichts über die Einkommensverteilung innerhalb von Gesellschaften aussage, wird dieser Indikator häufig verwendet.

Der von der Weltbank herausgegebene Weltentwicklungsbericht 2014 geht für das Jahr 2010 von etwas mehr als 20 Prozent der Weltbevölkerung aus, die weniger als 1,25 US-Dollar und 50 Prozent, die weniger als 2,50 US-Dollar pro Tag zum Leben haben. In absoluten Zahlen sind dies circa 1,5 Milliarden bzw. circa 3,5 Milliarden Menschen weltweit. Das Ausmaß an absoluter Armut ist jedoch von Kontinent zu Kontinent sehr unterschiedlich.

Die absolute Armut ist in allen Regionen der Welt zwischen 1990 und 2010 zurückgegangen. Allerdings fällt dieser Rückgang regional sehr unterschiedlich aus: Afrika südlich der Sahara hat den höchsten Anteil an absolut Armen an der Gesamtbevölkerung, gefolgt von Südasien und Südostasien. Sehr auffallend ist der Rückgang in China: Lebten 1990 dort noch 60 Prozent der Bevölkerung in absoluter Armut, so waren es 20 Jahre später nur noch 12 Prozent. Der weltweite Rückgang ist vor allem dieser Entwicklung in China zu verdanken. Ohne deren Berücksichtigung hätte die Armut sogar weltweit zugenommen. Auch wenn es durchaus noch Armut in China gibt, so ist die Massenarmut aufgrund des starken Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre deutlich zurückgegangen. Allerdings sind die Einkommensunterschiede deutlich angestiegen, wodurch sich die gesellschaftliche Polarisierung erhöht.

Die besonders kritische Situation Afrikas zeigt der vom Weltentwicklungsprogramm der UN (United Nations Development Programme, UNDP) entwickelte Human Development Index (HDI): Er kombiniert Werte für Pro-Kopf-Einkommen, Lebenserwartung und Einschulungsraten und gibt Auskunft über die Entwicklungsbilanz von nahezu allen Staaten. 2014 gab es 44 Staaten von insgesamt 185 mit niedrigem Entwicklungsstand, 35 davon lagen in Afrika südlich der Sahara.

Ein Erfolgsfall in der Armutsbekämpfung war Brasilien unter der Präsidentschaft von Lula da Silva (2003 bis 2011). Umfangreiche Programme zur Sozialhilfe (Bolsa Familia) und zum Wohnungsbau (Minha casa) haben dazu beigetragen, den Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten, insgesamt von bis zu 50 Millionen Brasilianern, nahezu einem Viertel der Bevölkerung, zu verbessern.

Monetäre und nicht-monetäre Armut


Armut wird meist durch fehlende materielle Ressourcen definiert: Armut war und ist demnach vor allem Einkommensarmut, denn nur ein ausreichendes Einkommen sichert die Versorgung mit Gütern. Dieses traditionelle, im weitesten Sinne monetäre Armutsverständnis dominiert bis heute die Vorstellungen internationaler Organisationen und der Geber von Entwicklungszusammenarbeit. Dieser Logik folgend bedarf es vor allem einkommensteigernder Maßnahmen, deren Voraussetzung Wirtschaftswachstum ist, um Armut zu bekämpfen.

Ein alternatives Herangehensmuster entstand in den 1980er-Jahren. Es erweiterte den Armutsbegriff mit dem Hinweis auf die kulturelle Verschiedenheit von Gesellschaften und nichtmateriellen, aber elementar wichtigen Werten. Die Vertreter dieser Auffassung, die vor allem aus Nichtregierungsorganisationen (NGOs) kommen, argumentieren, dass es neben materieller auch politische und kulturelle Armut gibt.

Politische Armut liegt dann vor, wenn es keine oder nur unzureichende Möglichkeiten gibt, an politischen Entscheidungen mitzuwirken und sich zum Beispiel zu organisieren, um die eigene Situation zu verbessern. Amartya Sen, ein indischstämmiger Ökonom und Nobelpreisträger von 1998, vertrat die Ansicht, dass Menschen in Armut keine Chancen auf beruflichen Aufstieg und Selbstverwirklichung hätten und ihre Rechte aufgrund mangelhafter Bildung und politischer Benachteiligung nicht wahrnehmen könnten. Daher müsse eine erfolgreiche Armutsbekämpfung darauf abzielen, Chancen und Gelegenheiten zur Selbstverwirklichung – zum Beispiel durch Bildungsförderung – zu erhöhen, sodass Menschen dadurch eigenständig ihre prekäre Situation verändern könnten.

"Armut ist weiblich"


Im Zuge der Armutsdiskussion in den 1990er-Jahren zeigte sich, dass Frauen weitaus stärker von Armut betroffen sind als Männer. Frauen verdienen im Durchschnitt wesentlich weniger, ihr Anteil an Analphabeten ist deutlich höher, und sie verfügen über eine geringere Bildung und Ausbildung. Hinzu kommen kulturspezifische Faktoren. So verrichten Frauen in Afrika häufig die Feldarbeit, kümmern sich um die Kinder und um die Nahrungsmittelversorgung. In vielen Ländern sind Frauen auch im Erbrecht benachteiligt und dürfen – vor allem in einigen arabischen Ländern – kaum am öffentlichen Leben teilnehmen. Der Anteil an Frauen in Management-Positionen und politischen Ämtern ist dort zumeist deutlich geringer als in den Industriestaaten, wobei auch hier Frauen weniger vertreten sind. Die Armutsforschung widmet sogenannten verwundbaren Gruppen, wie alleinerziehenden Frauen und ethnischen oder religiösen Minderheiten, zunehmend Aufmerksamkeit, da sie besonders von Armut betroffen sind.

Die Erweiterung des Armutsbegriffs und die Tatsache der besonderen Betroffenheit von Frauen führten zu einer teilweisen Neuausrichtung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit internationaler Organisationen und vieler Staaten. Unter dem Stichwort "Women in Development", mit dem das Potenzial von Frauen für die Entwicklung eines Landes betont wurde, berücksichtigten die Geber in ihren Projekten zunehmend Gender-Aspekte oder legten spezifische Programme zur Frauenförderung auf. Hier konnten auch Erfolge erzielt werden: Der Anteil an Frauen in Afrika, die lesen und schreiben können, erhöhte sich seit Anfang der 1990er-Jahre von 40 auf 58 Prozent. Die Weltbank verlangte von Staaten, die Mittel für großangelegte Programme zur Armutsbekämpfung bezogen, dass sie zivilgesellschaftliche Gruppen in Planung und Durchführung dieser Programme integrierten (sogenannte Poverty Reduction Strategy).

Bilanz der Armutsbekämpfung


Der Kampf gegen die Armut und ihre verschiedenen Dimensionen ist das erklärte Hauptziel der Entwicklungsanstrengungen der Staaten, die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit geben bzw. erhalten. Im September 2000 unterzeichneten 189 Staaten die UN-Millenniumserklärung. Für die Entwicklungspolitik wurden Ziele, sogenannte Millennium Development Goals (MDGs), vorgegeben, die das bis heute gültige Schlüsseldokument im Kampf gegen die Armut bilden. Mit dem "Aktionsprogramm 2015" legte die Bundesregierung bereits kurz nach Verabschiedung der MDGs ein eigenes Programm zu Unterstützung der Ziele auf. Die MDGs stellen ein ehrgeiziges Programm mit 8 Haupt- und 21 Unterzielen dar, wobei die Zielvorgaben erstmals konkretisiert und mit Fristen versehen wurden. Das erste und wichtigste Ziel, die Zahl der absolut Armen bis 2015 zu halbieren, wurde fünf Jahre früher als geplant bereits 2010 erreicht. Dabei soll nochmals angemerkt werden, dass dies nur durch den Entwicklungserfolg Chinas möglich war und dass trotzdem noch über eine Milliarde Menschen in bitterer Armut leben. Andere MDG-Ziele, wie die Reduzierung der Müttersterblichkeit oder die Gleichstellung der Geschlechter im Bildungsbereich, wurden nur teilweise erreicht.

Ziel 1: Beseitigung der extremen Armut und des Hungers (© Quelle: Vereinte Nationen, Milleniums-Entwicklungsziele – Bericht 2014, S. 8; www.un.org/depts/german/millennium/MDG Report 2014 German.pdf)

Die absehbare gemischte Bilanz der MDGs hat die internationale Diskussion über die Ursachen von Armut und die Möglichkeiten ihrer Bekämpfung neu belebt. Die neuere Armutsdiskussion bezieht sowohl strukturelle Faktoren wie auch das Verhalten von Akteuren ein. Zu den strukturellen Ursachen für Armut gehören klimatische Verhältnisse sowie die geografische Lage eines Landes. Staaten ohne Meerzugang sind aufgrund langer und häufig unsicherer Transportwege benachteiligt.

Die Ausstattung mit Bodenschätzen wird – entgegen der klassischen Annahme, dies sei ein Vorteil für die Entwicklung – gegenwärtig als problematisch für die Entwicklungschancen einer Gesellschaft beurteilt. Argumentiert wird aus dieser Perspektive, dass Ressourcen ein "Fluch" für Entwicklung sein können, da sie die Abhängigkeit vom Ressourcenexport festschreiben, zur Vernachlässigung anderer Wirtschaftssektoren führen ("Holländische Krankheit") und in schwachen Staaten Gewaltakteure motivieren, sich in den Besitz von Ressourcen zu bringen – gerade wenn diese, wie Diamanten und Coltan, leicht "plünderbar" sind. Der These vom Ressourcenfluch kann entgegengehalten werden, dass längst nicht alle ressourcenreichen Länder sich in Bürgerkriegen oder Prozessen des Staatszerfalls befinden. Der positiven Entwicklung in Namibia, Südafrika und Botswana, deren Ressourcenreichtum der Gesellschaft (in unterschiedlichem Maße) zugutekommt, stehen katastrophale Entwicklungen in Liberia, Sierra Leone und der Demokratischen Republik Kongo gegenüber, die über Jahre grausamste Bürgerkriege durchlitten bzw. (wie im Ostkongo) noch immer durchleiden. Für die so unterschiedlichen Entwicklungen hat die sozialwissenschaftliche Forschung verschiedene Erklärungen herausgearbeitet: Funktionierende Staatlichkeit mit einem legitimen Gewaltmonopol der Regierung und eine effektive, nicht übermäßig korrupte, transparente und demokratische Regierungsführung (Governance) können die Negativwirkungen des Ressourcenfluchs begrenzen.

Quellentext"Die Rohstoffe sind ein Fluch"

Frankfurter Rundschau: Herr Nkunzi, Ihre Heimat, die Demokratische Republik Kongo, ist reich an Bodenschätzen. Warum sprechen Sie von "Blutmineralien"?

Justin Nkunzi: Weil Rebellen im Osten des Kongos die Vorkommen von Coltan und Gold, das für die Elektronikindustrie wichtig ist, illegal ausbeuten und damit den Bürgerkrieg finanzieren. Es gibt also einen direkten Zusammenhang zwischen Laptops und Handys und unserem Leid und unserem Blut. Der Reichtum an Rohstoffen ist eher Fluch als ein Segen. […]

FR: Wer sind vor allem die Opfer der Konflikte?

Nkunzi: Die Rebellen terrorisieren die gesamte Bevölkerung, vergewaltigen Frauen, massakrieren Männer und zwingen auch Minderjährige, Coltan und Gold aus dem Boden zu holen. Sexuelle Gewalt ist ein großes Problem. Vor allem traumatisierte Frauen und Kinder, die aus Vergewaltigungen hervorgegangen sind, leiden. Sie werden oft stigmatisiert und haben es schwer, in ihre Dorfgemeinschaft zurückzufinden und im Leben wieder Fuß zu fassen.

FR: Auf welchen Wegen gelangen die Mineralien außerhalb des Landes?

Nkunzi: Das ist ein kriminelles Business. Wir kennen die Lieferbeziehungen und Transportrouten nicht genau. Aber Kigali, die Hauptstadt Ruandas, spielt als Umschlagsplatz eine wichtige Rolle.

FR: Wer sind auf der Kundenseite die Akteure?

Nkunzi: Auch das ist schwierig zu sagen. Aus Berichten von Frauen, die in Rebellencamps verschleppt wurden und jetzt in Traumazentren der Diözese Bukavu behandelt werden, wissen wir aber, dass regelmäßig Helikopter in den Camps landen, die den Rebellen-Milizen Waffen und Lebensmittel bringen und dafür Coltan und Gold an Bord nehmen.

FR: Warum geht die kongolesische Regierung nicht dagegen vor?

Nkunzi: Der Staat ist schwach – und das ist eine Folge der illegalen Ausbeutung unserer Bodenschätze. Coltan und andere wertvolle Mineralien werden außer Landes geschafft, ohne dafür Steuern zu entrichten. Auch deshalb kann der Staat seinen Soldaten keinen angemessenen Sold zahlen. Für Geld kooperieren Armeeangehörige stattdessen mit den Rebellen. […]

FR: Sollten Elektronikfirmen Rohstoffe aus dem Kongo boykottieren?

Nkunzi: Nein, das ist nicht unsere Forderung. Mineralien sind ein Teil unseres Problems, aber auch ein entscheidender Teil der Lösung. Aus dem schmutzigen Geschäft muss ein Win-Win-Business werden. Wenn Handyhersteller die Rohstoffe nicht mehr von Rebellen, sondern aus staatlichen Minen beziehen und dafür faire Preise, Steuern und Gebühren zahlen, dann profitieren auch die Menschen.

FR: Aber ist nicht Korruption nach wie vor ein großes Problem? Das Geld landet oft in dunklen Kanälen und kommt nicht der lokalen Bevölkerung zugute.

Nkunzi: Ich setzte große Hoffnung auf den Dodd-Frank-Act. Das amerikanische Gesetz verpflichtet alle Unternehmen, die der US-Börsenaufsicht unterliegen, die Herkunft der Mineralien zu dokumentieren und sicherzustellen, dass mit ihnen keine bewaffneten Konflikte im Kongo oder Nachbarländern finanziert werden. Und die Konzerne müssen für diese Konflikt-Rohstoffe ihre Zahlungen an ausländische Staaten aufgeschlüsselt nach Projekten offenlegen. Das verschafft der Zivilgesellschaft einen Überblick über die Finanzströme und die Möglichkeit, von der Regierung entsprechende Investitionen in Gesundheit, Bildung und Infrastruktur einzufordern. […]

FR: Ist nicht zu befürchten, dass der Dodd-Frank-Act dazu führt, dass sich Unternehmen ganz aus dem Kongo zurückziehen?

Nkunzi: Warum sollten sie das tun? Die Alternative wäre, Coltan aus Australien zu beziehen, wo die Lohnkosten viel höher sind. Es gibt im Kongo zertifizierte Hütten, bei denen die Mineralien nicht auf Kosten der Menschenrechte gewonnen werden. Unternehmen müssten doch ein Interesse haben, mit denen als verlässliche Partner zusammenzuarbeiten, anstatt die Rohstoffe von Rebellen zu beziehen.

FR: Was können die Konsumenten in Deutschland tun?

Nkunzi: Die Zivilgesellschaft muss Druck machen und von Apple, Nokia, Samsung und Co. Rechenschaft verlangen. Damit die Unternehmen ihre Beschaffungspolitik ändern und nur noch konfliktfreie Mineralien verarbeiten. […]

Interview von Tobias Schwab mit Justin Nkunzi, Priester der Erzdiözese Bukavu im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Als Beauftragter für Menschenrechte leitet er den Ausschuss "Justice and Peace" (Gerechtigkeit und Frieden) der katholischen Diözese, in: Frankfurter Rundschau vom 30. Dezember 2014

Armut und Sicherheit


Das Verhältnis zwischen Armut und Sicherheit ist komplex und hat verschiedene Dimensionen. Zunächst bedroht Armut die Sicherheit der Betroffenen elementar, da sie in ihrer extremen Form das Überleben gefährdet oder Menschen in katastrophalen Lebensumständen belässt. Neben dieser individuellen, aus der Medienberichterstattung bekannten Dimension ist aber auch nach dem Verhältnis von Armut und Sicherheit von Staaten und Gesellschaften zu fragen. In seinem Buch "Die unterste Milliarde" (2008) stellt der frühere Weltbankökonom Paul Collier eine Wechselbeziehung zwischen Armut und Sicherheit fest. Zum einen sei die Gefahr eines Bürgerkrieges in armen Ländern ohne ausreichendes wirtschaftliches Wachstum deutlich höher als in wohlhabenderen Ländern. Die hohe Bürgerkriegsanfälligkeit armer Staaten – 73 Prozent der absolut Armen haben Bürgerkriege erlebt oder befinden sich in Bürgerkriegsländern – erklärt Collier unter anderem mit der großen Anzahl arbeitsloser, häufig schlecht (aus-)gebildeter junger Männer, die sich aus Mangel an Alternativen leicht von skrupellosen Milizenführern rekrutieren ließen. Zum anderen verhinderten Bürgerkriege Entwicklung: Nach seiner Kalkulation schrumpfen Volkswirtschaften in Bürgerkriegsstaaten durchschnittlich um 2,3 Prozent jährlich, was bei einer durchschnittlichen Bürgerkriegsdauer von sieben Jahren nachhaltig die Entwicklungschancen verringern kann. Zudem machen innerstaatliche Kriege häufig alle Entwicklungsanstrengungen, auch die Projekte der Entwicklungshilfe, auf Jahre zunichte. Der Kampf gegen Armut hat aus dieser Perspektive auch eine klare sicherheitspolitische Dimension.

Migration


Eine Möglichkeit, Armut, Gewalt und Unterdrückung zu entkommen, ist die Abwanderung in andere Länder mit höherer Sicherheit und besseren Lebenschancen. Hierbei gilt es erstens, zwischen Auswanderung (legaler Migration) und gesetzeswidriger Migration bzw. Einwanderung zu unterscheiden. Die "illegale" Migration, ob erzwungen in Form von Flucht oder freiwillig, wird auch mit dem neutraleren Begriff der irregulären Migration bezeichnet. Zweitens kann zwischen nationaler Migration (sogenannter Binnenmigration) oder internationaler, also grenzüberschreitender Wanderungsbewegung unterschieden werden. In der Regel werden als Migranten die Menschen bezeichnet, die sich mehr als ein Jahr freiwillig oder unfreiwillig in einem fremden Land aufhalten. Dies sind nach UN-Angaben über 200 Millionen Menschen, was circa drei Prozent der Weltbevölkerung ausmacht.

Migration ist keineswegs ein neues Phänomen. In den meisten westlichen Industriegesellschaften leben seit Jahrzehnten große Gruppen, die zugewandert sind: Nach Schätzungen hatten 2011 circa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund.

Gegenwärtig beherrscht die Zunahme an irregulärer Migration (Flüchtlinge) aus dem Nahen Osten und aus Afrika nach Europa die Diskussion in Deutschland und Europa. Sichtbar wird sie in Bildern und Berichten über Flüchtlingsdramen im Mittelmeer. Dabei wird häufig übersehen, dass die meisten Menschen, die sich irregulär in Europa aufhalten, zuvor legal als Arbeitsmigranten eingereist und vor allem in Südeuropa beschäftigt waren, aber nach Ablauf ihrer befristeten Visa nicht wieder in ihre Heimatländer zurückkehrten. Insgesamt, so schätzte die EU-Kommission 2009, halten sich vier bis acht Millionen irreguläre Einwanderer in Europa auf, zu denen jährlich mindestens circa 300.000 hinzukommen.

Steigende Flüchtlingszahlen


Grafik 1: Flüchtlinge in der Welt, Grafik 2: Schutzsuchende der Welt (© Grafik 1: picture alliance / dpa-infografik, Globus 6698; Quelle: UN-Flüchtlingsbericht (Grafik vom 17.10.2014), Grafik 2: picture alliance / dpa-infografik, Globus 10214; Quelle: UNHCR (Grafik vom 16.4.2015))

Die Anzahl der Flüchtlinge weltweit betrug 2013 laut UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) 51,2 Millionen, was eine Zunahme von über 6 Millionen gegenüber dem Vorjahr bedeutete. Hierbei wurden sowohl Zahlen für Flüchtlinge in andere Länder, Binnenvertriebene und Asylsuchende addiert, wobei insgesamt von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen ist. Den Löwenanteil stellten mit 33 Millionen die Binnenflüchtlinge dar, gefolgt von circa 16 Millionen internationalen Flüchtlingen und etwa 1,2 Millionen Menschen, die Asyl beantragt haben. Letztere Zahl ist stark gestiegen. Die meisten Asylanträge wurden 2013 mit 109.000 in Deutschland gestellt, 2014 waren es 173.000. In allen bedeutenden Herkunftsländern wie Afghanistan, Somalia, Irak, Syrien, Sudan, Südsudan, Tschad, Mali und neuerdings der Zentralafrikanischen Republik sind die Hauptfluchtgründe die Folgen der Bürgerkriege oder Menschenrechtsverletzungen (besonders in Eritrea). Menschen aus diesen Ländern stellen auch das Gros der Asylsuchenden in Europa.

Im Mittleren Osten und in Asien wurden 2013 3,5 Millionen Flüchtlinge gezählt, davon 69 Prozent aus Afghanistan, gefolgt von Irak und Iran. Pakistan hat mit 1,6 Millionen Menschen die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Aus Afrika und dem Nahen Osten stammten 2,9 Millionen Flüchtlinge, davon über zwei Millionen aus Syrien und hunderttausende aus Somalia, der DR Kongo und Eritrea. Die Entwicklungsländer nahmen 80 Prozent der Flüchtlinge auf. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Einwohnerzahl und Flüchtlingen leben im Libanon weltweit die meisten Flüchtlinge, vor allem aus Syrien: Fast jeder fünfte Bewohner des Libanon ist Flüchtling. Die Aufnahmeländer verfügen trotz Hilfen der internationalen Gemeinschaft zumeist nicht über die finanziellen Mittel, die geflohenen Menschen adäquat zu versorgen und zu integrieren. Ihre politische Stabilität wird gefährdet, wenn extremistische Kräfte unter den Flüchtlingen sind.

Irreguläre Migration über das Mittelmeer


Auch wenn die absoluten Zahlen der über das Mittelmeer und die Türkei sowie Griechenland einreisenden Flüchtlinge vergleichsweise niedrig sind, so erregen die häufig tragischen Fluchtumstände der Bootsflüchtlinge große Aufmerksamkeit seitens der Medien und der Politik. Die Flucht von tausenden Afrikanern hat neben Bürgerkriegen auch soziale Ursachen, wie weitverbreitete Armut und Chancenlosigkeit gerade der jüngeren Generationen. Die sogenannten Arabellionen, die zunächst zum Sturz jahrzehntelang herrschender Diktatoren in Tunesien, Libyen und Ägypten führten und mittlerweile mit Ausnahme Tunesiens gescheitert sind (Ägypten: Militärdiktatur, Libyen: Erosion von Staatlichkeit, Syrien: Bürgerkrieg), haben die Fluchtbewegungen über das Mittelmeer verstärkt. In den chaotischen Phasen des Machtwechsels waren die Regierungen kaum in der Lage, die wachsenden Flüchtlingszahlen aus den Nachbarstaaten zu kontrollieren, wie es mit der EU und einzelnen EU-Mitgliedstaaten vereinbart worden war. Hinzu kommt, dass die Anzahl der Flüchtlinge wegen der Bürgerkriege auch aus weiter entfernten Ländern angestiegen ist.

In der Migrationsforschung wird zwischen Push- und Pull-Faktoren, die zur Migration führen, unterschieden. Wirtschaftliche Gründe, Kriege und Bürgerkriege in den Ursprungsländern gelten als Push-Faktoren. Hinzu kommt der demografische Druck durch eine sehr hohe Zahl junger Menschen: Der Anteil der 10- bis 24-Jährigen an der Gesamtbevölkerung beträgt nach UN-Angaben in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas 22 bis 36 Prozent. Dies kann neben Unzufriedenheit und Gewaltbereitschaft zu Migration führen. Pull-Faktoren sind demgegenüber große Unterschiede im Lebensstandard, Arbeitskräftebedarf oder gezielte Anwerbeaktionen von Arbeitskräften in den Zielländern.

Migration aus Afrika nach Europa – Ursachen und Folgen (© eigene Darstellung, Bernhard/Schmidt)

Die Grafik oben zeigt Push- und Pull-Faktoren und unterscheidet Folgen für die EU-Staaten, die Transitländer (vor allem Nordafrika, aber auch die Türkei und Griechenland) sowie für die Herkunftsländer der Migranten. Dabei gilt es, zwischen positiven und negativen Effekten zu unterscheiden. Auf der einen Seite kann Flucht zu einer Abwanderung gerade gut ausgebildeter und qualifizierter Menschen führen ("Brain Drain") und damit die Zukunftschancen der Länder schmälern. Auf der anderen Seite können die Rücküberweisungen der Migranten an die Familien daheim wichtige Einkommensquellen bilden und Entwicklung befördern. Global schätzt die Weltbank diese Rücküberweisungen auf circa 400 Milliarden US-Dollar weltweit.

Die EU-Staaten versuchen, über Rückführungsabkommen und ökonomische Anreize die Herkunfts- und Transitländer zu effektiven Grenzkontrollen und Abweisungen von Flüchtlingen zu bewegen. Mit Frontex hat die EU eine eigene Agentur zur Sicherung der EU-Außengrenzen gegründet, die vor allem die Arbeit nationaler Grenzsicherung unterstützen und koordinieren soll. Die EU-Mitgliedstaaten sind in unterschiedlichem Ausmaß von der Migration betroffen: Die Hauptlast tragen die Mittelmeeranrainerstaaten. Daher hat sich innerhalb der EU ein Konflikt über die Verteilung der Flüchtlinge und der Kosten aufgetan. Da europäische Gesellschaften generell eher ablehnend gegenüber der Einwanderung oder Aufnahme von Flüchtlingen eingestellt sind, sind der Umgang mit irregulären Migranten und die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Aufnahmequoten für jeden EU-Mitgliedstaat zu kontroversen Themen geworden.

Tendenziell versuchen die reicheren Länder möglichst wenige Migranten aufzunehmen und wälzen damit die Verantwortung auf die Ankunftsländer, vor allem Italien, Griechenland und Spanien, ab. Diese Länder gelten als "sichere Drittstaaten" und sind daher für Flüchtlinge, die dort zunächst angekommen sind, zuständig. Diese Flüchtlinge können dann beispielsweise in Deutschland keinen Asylantrag stellen. Die Aufnahmepolitik und der Umgang mit Flüchtlingen werden in den Mitgliedsländern sehr unterschiedlich gehandhabt. Spanien ist beispielsweise im Umgang mit Flüchtlingen toleranter als Italien oder Griechenland, wo Mindestaufnahmestandards verletzt wurden.

Die EU verfügt bisher nur in Ansätzen über eine Migrationspolitik im Bereich Einreise (Schengenabkommen) und teilweise im Bereich Asyl. Von einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik ist sie noch weit entfernt. In den letzten Jahren haben Urteile des Gerichtshofes der Europäischen Union (EUGH) den Rechtsstatus der Flüchtlinge verbessert – zum Beispiel sind Kollektivausweisungen von Bootsflüchtlingen nicht mehr möglich, eine individuelle Fallprüfung ist erforderlich – und damit den Prozess zur Vereinheitlichung der Bestimmungen unterstützt.

Migration und Sicherheit


Die Diskussion über irreguläre Migration wird in den meisten EU-Staaten politisch kontrovers geführt und ist häufig von Ängsten vor Verlust von Identität und vor sozialer Konkurrenz bestimmt. Seit den islamistischen Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf die USA ist die Angst vor einer Zunahme radikaler und terroristischer Aktivitäten durch Migranten hinzugekommen. Chancen der Migration für die aufnehmenden Länder werden dabei häufig ausgeblendet.

Stürmische Zeiten (© Burkhard Mohr / Externer Link: www.cartooncommerz.de/IIMS)

Vernachlässigt wird auch die Frage nach der Sicherheit der Migranten. Sie ist äußerst prekär: Gefahr droht ihnen von kriminellen Schleusernetzwerken, und die Flucht über das offene Meer ist lebensgefährlich, denn Tausende von Flüchtlingen sind bereits im Mittelmeer ertrunken. Flüchtlinge werden von den Sicherheitsbehörden der Aufnahmeländer vereinzelt auch schlecht behandelt und sind Arbeitgebern häufig ausgeliefert, sodass sie mitunter unter menschenunwürdigen Bedingungen zu Minimallöhnen arbeiten müssen.

Die verbreitete Angst vor einem Anwachsen der terroristischen Gefahren durch Flüchtlinge entbehrt dagegen einer empirischen Grundlage. Zwar sind die weitaus meisten terroristischen Anschläge von radikalen Islamisten ausgeführt worden, doch lebten die Täter bereits lange legal in westlichen Gesellschaften und galten sogar als politisch unauffällig und integriert. Dies gilt auch für die organisierte Kriminalität, bei der in einigen Bereichen ethnisch-basierte Netzwerke eine Rolle spielen. Trotzdem fühlen sich viele EU-Bürgerinnen und -Bürger durch die irreguläre Migration in ihrem Sicherheitsempfinden gestört, und eine diffuse Angst ist verbreitet, auch weil bereits Konflikte zwischen Minderheiten und Aufnahmegesellschaften wie etwa der Streit um das Kopftuch oder die Mohammed-Karikaturen existieren.

Migration bedeutet keineswegs automatisch eine höhere Gefährdung der Sicherheit in den Aufnahmegesellschaften. Auf längere Sicht sind die europäischen Gesellschaften aufgrund demografischer Entwicklungen sogar auf sie angewiesen. Aber auch Qualitätssteigerungen der bisherigen, unzureichenden Integrationsleistungen und neue Integrationskonzepte sind erforderlich, um Entfremdung und Radikalisierung bis hin zu terroristischen Aktionen von Zuwanderern zu verhindern.

Fussnoten

Prof. Dr. Siegmar Schmidt ist Professor für Analyse und Vergleich politischer Systeme und internationale Politik am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Koblenz-Landau am Standort Landau. Seine Forschungsschwerpunkte sind Demokratie und Entwicklung in Sub-Sahara Afrika, Europäische Außen-und Sicherheitspolitik, Deutsche Außen- und Entwicklungspolitik.
Kontakt: E-Mail Link: schmidts@uni-landau.de