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Aktuelle sozialpolitische Leitbilder | Sozialpolitik | bpb.de

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Aktuelle sozialpolitische Leitbilder

Prof. Dr. Benjamin Benz Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster Dr. Johannes D. Schütte Prof. Dr. Jürgen Boeckh Jürgen Boeckh / Benjamin Benz / Ernst-Ulrich Huster / Johannes D. Schütte

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Sozialpolitische Leitbilder präsentieren Idealvorstellungen und beeinflussen nicht nur das Denken über Sozialpolitik, sondern auch ihre praktische Umsetzung. Die Konsequenzen sind allerdings ambivalent. Am Beispiel neuerer Leitbilder – des aktivierenden Sozialstaates, der Prävention und der Inklusion – lässt sich dies verdeutlichen.

Werte und Normen von Gerechtigkeit bündeln sich in Leitbildern von der zukünftigen Gestalt der Gesellschaft, welche (partei-)politische und zivilgesellschaftliche Akteure im weiteren Sinne formulieren. Leitbilder sind stets Veränderungsprozessen unterworfen und beeinflussen bzw. überformen sich gegenseitig. Sie haben den Anspruch, Visionen eines erstrebenswerten Zustandes zu beschreiben. Dies gilt auch und gerade in der Sozialpolitik.

In sozialpolitischen Leitbildern formulieren politische Akteure Vorstellungen, wie sie das Zusammenleben in einer Gesellschaft gestalten wollen. Je nach politischer Richtung werden dabei zum Beispiel bestimmte Gerechtigkeitsprinzipien betont oder weniger betont, und es werden unterschiedliche Vorgaben darüber gemacht, in welche Bereiche der Sozialpolitik weniger oder mehr investiert wird. Es werden also Leitplanken aufgestellt, die für die konkrete Ausgestaltung sozialpolitischer Arrangements prägend sind.

In der aktuellen sozialpolitischen Diskussion sind die Leitbilder des aktivierenden Sozialstaates, der Prävention und der Inklusion besonders zentral. Die mit diesen Leitbildern verbundenen sozialpolitischen Arrangements zeichnen den Adressatinnen und Adressaten idealtypische Lebensweisen – meist die der herrschenden Sozialschichten – vor, in denen der Genuss neuer Freiheiten an die Übernahme bestimmter Werte und Normen gebunden wird. So ist die Inanspruchnahme unterschiedlicher sozialpolitischer Unterstützungssysteme schwierig, wenn man sich der herrschenden Norm entzieht und keinen festen Wohnsitz angeben kann wie zum Beispiel gesellschaftliche Aussteiger. Damit transportiert Sozialpolitik immer auch eine Hierarchie der Lebensstile und trägt somit einerseits dazu bei, bestehende Machtverhältnisse zu bewahren. Andererseits werden aber auch Perspektiven für neue Freiheiten eröffnet.

Sozialpolitische Hilfen stehen in dem Dilemma, auf der einen Seite Menschen aus ihrer Unfreiheit befreien zu wollen, aus der sie ohne Hilfe nicht entkommen können, auf der anderen Seite kanalisieren genau diese Hilfen die individuellen Freiheiten in eine bestimmte vorgegebene Richtung. Aus diesem Blickwinkel stellt jedes Förderangebot einen Eingriff in die individuelle Freiheit dar, und so kann beispielsweise eine angeordnete Teilnahme an einer Sprachförderungsmaßnahme als ein Eingriff in die individuelle Freiheit bewertet werden. Kinder ohne eine entsprechende Förderung lernen allerdings unter Umständen nicht ausreichend gut Deutsch und sind somit vom Zugang zu höherer Bildung abgeschnitten. Die Freiheit der/des Einzelnen muss in ein Verhältnis gesetzt werden zu den Chancen eines Menschen auf zum Beispiel Bildung und damit auf gesellschaftliche Teilhabe. Eine Gewichtung dieser gegensätzlichen Interessen wird in sozialpolitischen Leitbildern vorgenommen.

Leitbild aktivierender Sozialstaat

Hatte schon der Christdemokrat Helmut Kohl (*1930), Bundeskanzler von 1982 bis 1998, moniert, ein moderner Sozialstaat lasse sich nicht als "kollektiver Freizeitpark" organisieren, wandte sich sein sozialdemokratischer Nachfolger Gerhard Schröder (*1944), Bundeskanzler von 1998 bis 2005, mit der Feststellung, es gebe "kein Recht auf Faulheit", ebenfalls gegen vermeintlich zu üppig ausgestaltete staatliche Sozialleistungen. Er bewertete den bisherigen Druck zur Arbeitsaufnahme als zu gering und betonte die Eigenverantwortung und die Verpflichtungen des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft. Orientiert an der Politik von Tony Blair (*1953, britischer Premierminister von 1997–2007) prägte das Leitbild des aktivierenden Sozialstaates (social investment state) in der Folgezeit die Ausgestaltung der deutschen Sozialpolitik unter der von Schröder geführten rot-grünen Regierungskoalition.

Das im Juni 1999 veröffentlichte "Schröder-Blair-Papier" formulierte programmatisch die zentralen Ideen. Vertreten wurde ein sozialpolitisches Leitbild im Sinne des von Giddens beschriebenen "Dritten Weges". Es verstand sich in Abgrenzung zum minimal state des Neoliberalismus wie auch zum (kompensatorischen) Wohlfahrtsstaat alter sozialdemokratischer Prägung. Der aktivierende Sozialstaat betont stärker einen Ausgleich der Möglichkeiten (Chancengleichheit) und koppelt die Gewährung sozialer Rechte an Verpflichtungen. Personen, die in der Lage sind zu arbeiten, müssen jede Arbeit annehmen, die ihnen angeboten wird, andernfalls ist mit Sanktionen zu rechnen. Am deutlichsten war der Einfluss dieses Papieres in Deutschland in den "Hartz-Reformen" zu spüren, die in Deutschland zur Neuordnung der Arbeitsmarktpolitik durchgeführt wurden (Agenda 2010).

(© bpb)

QuellentextDas Schröder-Blair-Papier

[…] Wir müssen unsere Politik in einem neuen, auf den heutigen Stand gebrachten wirtschaftlichen Rahmen betreiben, innerhalb dessen der Staat die Wirtschaft nach Kräften fördert, sich aber nie als Ersatz für die Wirtschaft betrachtet. Die Steuerungsfunktion von Märkten muss durch die Politik ergänzt und verbessert, nicht aber behindert werden. […] In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt […]. […] Soziale Gerechtigkeit lässt sich nicht an der Höhe der öffentlichen Ausgaben messen. Der wirkliche Test für die Gesellschaft ist, wie effizient diese Ausgaben genutzt werden und inwieweit sie die Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu helfen. […] Der Staat soll nicht rudern, sondern steuern, weniger kontrollieren als herausfordern. […] Rigidität und Überregulierung sind ein Bremsklotz für die wissensorientierte Dienstleistungsgesellschaft der Zukunft. Sie ersticken das Innovationspotenzial, das zur Schaffung neuen Wachstums und neuer Arbeitsplätze erforderlich ist. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Flexibilität. […] Erste Priorität muss die Investition in menschliches und soziales Kapital sein. […] Zugang und Nutzung zu Bildungsmöglichkeiten und lebenslanges Lernen stellen die wichtigste Form der Sicherheit in der modernen Welt dar. Die Regierungen sind deshalb dafür verantwortlich, einen Rahmen zu schaffen, der es den Einzelnen ermöglicht, ihre Qualifikationen zu steigern und ihre Fähigkeiten auszuschöpfen. […] Der Staat muss die Beschäftigung aktiv fördern und nicht nur passiver Versorger der Opfer wirtschaftlichen Versagens sein. […] Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert, muss reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln. […] Zeiten der Arbeitslosigkeit müssen in einer Wirtschaft, in der es den lebenslangen Arbeitsplatz nicht mehr gibt, eine Chance für Qualifizierung und persönliche Weiterbildung sein. Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind besser als gar keine Arbeit, denn sie erleichtern den Übergang von Arbeitslosigkeit in Beschäftigung. Eine neue Politik mit dem Ziel, arbeitslosen Menschen Arbeitsplätze und Ausbildung anzubieten, ist eine sozialdemokratische Priorität – wir erwarten aber auch, dass jeder die ihm gebotenen Chancen annimmt. Es reicht aber nicht, die Menschen mit den Fähigkeiten und Kenntnissen auszurüsten, die sie brauchen, um erwerbstätig zu werden. Das System der Steuern und Sozialleistungen muss sicherstellen, dass es im Interesse der Menschen liegt, zu arbeiten.

Archiv der Sozialen Demokratie, Signatur 2/PVEV000329

Der aktivierende Sozialstaat sichert die Individuen hinsichtlich der wichtigsten negativen Folgen der marktwirtschaftlichen Prozesse (soziale Ausgrenzung) nicht umfassend ab. Damit unterscheidet er sich vom kompensatorischen Wohlfahrtsstaat, so wie er lange Zeit im skandinavischen Sozialmodell zum Tragen kam. Ein weitgehender Rückzug des Staates aus dem sozialen Bereich wird aber auch nicht angestrebt. Hier gilt das Diktum des SPD-Politikers Franz Müntefering (*1940), dass nur "sehr reiche Menschen […] sich einen schwachen Staat leisten" könnten. Vielmehr geht es darum, soziale Ausgrenzung vorbeugend (präventiv) zu vermeiden, indem der/die Einzelne zur Teilhabe am Arbeitsmarkt befähigt und aktiviert wird (Fördern und Fordern). Daher spielen Bildung und lebenslanges Lernen im Konzept des aktivierenden Sozialstaates eine zentrale Rolle. Darüber hinaus greift der Staat stärker in die individuellen Freiheiten und die private Lebensführung ein. Eigenverantwortung und soziale Kontrolle werden mit dieser grundsätzlichen Ausrichtung stärker betont, und der Staat nimmt weniger eine direktiv steuernde als eine vermittelnde Rolle ein.

Dieses im Vergleich zum kompensatorisch ausgerichteten Wohlfahrtsstaat weitaus weniger hierarchische Steuerungsverständnis spiegelt sich auch darin wider, dass staatliche Aufgabenerfüllung stärker über Ressortgrenzen hinweg gedacht und stärker in Netzwerken und mit sogenannten Runden Tischen gearbeitet wird, an der alle an einer Aufgabe beteiligten Akteure unhierarchisch zusammenarbeiten (sollen). Dies erleichtert eine Ausrichtung der sozialstaatlichen Eingriffe auf das jeweilige Ziel hin (Finalitätsprinzip) und ist weniger auf das Zuständigkeitsdenken (Kausalitätsprinzip) ausgerichtet. Diese Zielorientierung wird außerdem mit einer Wirkungsmessung (Outcome-Orientierung) verknüpft, die allerdings gerade bezogen auf die sozialen Dienstleistungen zu Problemen führt. Denn Wirkungen werden hier häufig erst nach langer Zeit sichtbar und sind nicht eindeutig einer Ursache zuzuordnen. Soziale Dienste können so unter einen enormen Rechtfertigungsdruck geraten.

Das Leitbild des aktivierenden Sozialstaates beinhaltet das grundsätzliche Ziel, alle erwerbsfähigen Personen am Arbeitsmarkt zu beteiligen und dazu für eine möglichst große Flexibilität zu sorgen. Folgt man dem Leitbild des aktivierenden Sozialstaates, wird die (Arbeits-)Marktorientierung zum zen­tralen Orientierungspunkt für jegliches sozialpolitische bzw. gesellschaftliche Handeln. Jede/r, die/der von dieser Vorgabe abweicht, muss mit Sanktionen rechnen ("Sozial ist, was Arbeit schafft!"). Dies kann zu einer zusätzlichen Benachteiligung der Schwachen in der Gesellschaft führen, wenn diese nicht über die geforderten Kompetenzen und Ressourcen verfügen. Die Verantwortung für zum Beispiel Arbeitslosigkeit wird den jeweilig Betroffenen zugeschrieben, strukturelle Ursachenzusammenhänge werden ausgeblendet bzw. ignoriert. Sozialpolitische Leistungen werden mit einem erzieherischen Anspruch zu einem marktkonformen Individuum verknüpft, und im Gegensatz zum kompensatorischen Wohlfahrtsstaat wird das Ziel eines gesellschaftlichen Ausgleichs durch Umverteilung von oben nach unten weitgehend aufgegeben.

Arbeitsmarkt-Reformen: Hartz III und IV (© picture-alliance/dpa, Arbeitsmarkt-Reformen: Hartz III und IV)

QuellentextBilanz einer Reform

Seit zehn Jahren ist Hartz IV nun in Kraft. […] Was aber hat es gebracht? Armut per Gesetz, wie die Montagsdemonstranten riefen? Oder ein Jobwunder? Oder beides?

Fest steht, dass Hartz IV die politische Landschaft umgepflügt hat: Einen Bundeskanzler kostete die Reform das Amt und die SPD fast den Status der Volkspartei. Die Linke blühte dagegen auf. Dabei hat die Reform weder ihre Kritiker bestätigt noch alle in sie gesetzten Hoffnungen erfüllt: etwa die, Menschen aus einer jahrelangen Abhängigkeit von staatlicher Hilfe zu befreien.

Zwar meldet die Bundesagentur für Arbeit Fortschritte bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Doch deren Statistik kann in die Irre führen – wer einmal an einer Trainingsmaßnahme teilgenommen hat, zählt danach unter Umständen als "neuer" Arbeitsloser. Andere Daten sind aussagekräftiger: Fast eine Million Menschen leben nach Angaben der Bundesagentur seit dem Start von Hartz IV von dieser Sozialleistung. Sie haben sich in dieser ganzen Zeit nicht daraus befreien können.

Trotzdem ziehen die meisten Experten eine positive Bilanz. Sozialökonomische Daten zeigen um das Jahr 2005 herum einen auffälligen Bruch. So hatte die Arbeitslosenquote in der Zeit davor immer neue Höhen erreicht, danach ging sie zurück. Spiegelbildlich sank die Zahl der Erwerbstätigen vor diesem Datum und stieg im Anschluss.

Kritiker wie der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge wenden ein, dass lediglich Vollzeit- in Teilzeitarbeitsplätze aufgespalten worden seien. Seit der Jahrtausendwende seien also gar nicht mehr Arbeitsplätze entstanden. Doch im Zeitverlauf zeigt sich auch bei der Zahl der Arbeitsstunden ein klarer Trend: 2005 erreichten sie einen historischen Tiefpunkt, danach ging es bergauf.

Hartz IV habe vor allem prekäre Jobs gebracht, lautet ein anderer Einwand. Viele Berufstätige hätten kein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis mehr, sagt Butterwegge […]. Doch die Arbeitsmarktzahlen belegen auch in diesem Punkt eine Trendwende: Zwischen 1992 und 2005 gingen etwa drei Millionen sozialversicherte Stellen verloren. Den Sozialkassen drohten die Einzahler abhanden zu kommen. Allerdings sind nach einem Tiefpunkt im März 2005 vier Millionen dieser Arbeitsplätze neu entstanden. Nicht ohne Grund ist etwa die Kasse der Rentenversicherung wieder gefüllt. Und was Minijobs, Leiharbeit und Teilzeit betrifft: Vor 2005 breiteten sie sich aus, seit der Einführung von Hartz IV nicht mehr. Der Anteil atypischer Jobs stagniert, das bestätigt etwa der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Alles in allem hat sich die Lage seit der Einführung von Hartz IV also verbessert. In eingeschränkter Form gilt das sogar für die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit: Die stärkste Verschlechterung fand hier vor Hartz IV statt. Danach war sie entweder gestoppt oder wurde zumindest gemildert. "Der Niedriglohnsektor ist von Mitte der neunziger Jahre an massiv gewachsen", sagt Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). "Das war zehn Jahre vor Hartz IV und hatte etwas mit der Öffnung zum Osten, der Globalisierung und dem technischen Fortschritt zu tun." Die viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich weitete sich vor allem vor 2005. Es nehmen also wieder mehr Menschen am Erwerbsleben teil. Finanziell aufgeholt haben sie deshalb aber noch lange nicht.

Unsicher ist jedoch, ob für die Veränderungen tatsächlich Hartz IV die Ursache ist. Joachim Möller vom IAB sagt: "Es ist nachgewiesen, dass Arbeitslose nach der Reform eher bereit waren, auch weniger attraktive Stellenangebote anzunehmen. Das Fordern und Fördern hat zum deutschen Jobwunder beigetragen." Wissenschaftlich exakt messen lasse sich so ein einzelner Beitrag jedoch kaum. Darauf pocht auch Gustav Horn, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung. Er hält eher "die Konjunktur, die flexibleren Arbeitszeitregeln und die erfolgreiche Stabilisierungspolitik in der Wirtschaftskrise 2009" für wichtiger. Mit wissenschaftlicher Gewissheit wird sich wohl nie sagen lassen, was Hartz IV wirklich bewirkt hat.

Kolja Rudzio, "Die Job-Bilanz", in: DIE ZEIT Nr. 1 vom 30. Dezember 2014

"Vorbeugen ist besser als heilen!" – Der Präventionsdiskurs

Das Leitbild der Prävention ist in den vergangenen Jahren in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen stärker in den Fokus gerückt. Häufig illustriert durch den bekannten Ausspruch "Vorbeugen ist besser als heilen!" von Hippokrates (um 400 v. Chr.) ist die Idee, Schaden zu verhindern, bevor er entsteht, heute so präsent wie lange nicht. Prävention soll Kriminalität, Gewalt und Drogenkonsum reduzieren, die Zahl der Schulabbrecher und Arbeitslosen senken und Extremismus sowie Diskriminierung bekämpfen.

Aktuell wird Prävention vor allem im Bereich der frühkindlichen Betreuung und Bildung (Frühe Hilfen) diskutiert. Durch eine Ausweitung der Sozialen Dienste sollen spätere Entwicklungsdefizite, beispielsweise in der Schulbildung und im Sozialverhalten, verringert und somit kompensatorische "Reparaturleistungen" überflüssig werden, was sich in einer "Präventionsrendite" auch gesamtwirtschaftlich auszahlen soll, so Hannelore Kraft, Ministerpräsidentin des Landes NRW seit Juli 2010, in ihrer Regierungserklärung am 12. September 2012 im Düsseldorfer Landtag. "Rechnet man alles zusammen, Kinder- und Jugendhilfe, Strafvollzug, gesundheitliche Rehabilitation, Transferleistungen usw., dann können über die Gesamtzeit eines […] schwierigen Lebenslaufs Reparaturkosten von vielen hunderttausend Euro entstehen. Und das sind nur die finanziellen Kosten. Das Leid ist in Geld gar nicht auszudrücken. Wir könnten es sehr oft vermeiden, wenn wir rechtzeitig gegensteuern würden. […] Wir wollen deshalb weg von einem Denken in Kästchen, Zuständigkeiten und Anträgen. Wir wollen stattdessen kommunale Präventionsketten weiter ausbauen und gesundheitliche, soziale und schulische Angebote, Sport, Kultur und Freizeit besser miteinander verzahnen. […] Wenn wir es schaffen, dass jeder Jugendliche einen ‚Anschluss an den Abschluss‘ erhält, erübrigen sich auch manche Angebote von Berufskollegs und Trägern. Dann brauchen wir dort in den kommenden Jahren bis zu 500 Lehrerstellen weniger. Mit Qualitätsabbau hat das nichts zu tun. Das ist genau die Form von Präventionsrendite, von der ich vorhin gesprochen habe."

Ursprünglich stammt die Diskussion um das Leitbild der Prävention aus dem Gesundheitsbereich und meinte dort alle Anstrengungen, um das Auftreten von Krankheiten zu verhindern (pathogenetisches Modell), indem spezifische Risiken gemindert werden. Dieses Präventionskonzept ist vom Grundsatz her defizitorientiert. Deshalb sind Präventionsansätze dieser Art tendenziell stärker auf individuelle, zum Beispiel gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen gerichtet (Verhaltensprävention). Ein Beispiel für eine verhaltenspräventive Maßnahme ist der Einsatz von Handy-Apps zur Kontrolle der täglichen Bewegung. Zwar lassen sich aus dieser Perspektive auch Eingriffe begründen, die an äußeren Umständen wie beispielsweise Umweltverschmutzung oder Arbeitsbedingungen ansetzen (Verhältnisprävention), die grundsätzliche Verantwortung liegt aber beim Individuum.

Mit dem Präventionsleitbild wird häufig ein, biografisch betrachtet, möglichst frühes Eingreifen verbunden mit dem Ziel, potenzielle Fehlentwicklungen gar nicht erst entstehen zu lassen. Begründet wird ein solches Vorgehen häufig auch mit neueren Erkenntnissen aus der Hirnforschung, die die besondere Bedeutung der frühen Lebensphase betonen. Eine präventive Umsteuerung dieser Prägung birgt die Gefahr, dass sozialpolitische Leistungen für zum Beispiel Jugendliche reduziert werden, da sie bereits "zu alt" und damit zu sehr vorgeprägt sind, was eine Förderung ökonomisch gesehen demnach weniger "effizient" macht. So werden präventive Leistungen in der Regel auf bestimmte Risikogruppen ausgerichtet, die entweder – wie im Fall der "Frühen Hilfen" – großes Potenzial besitzen, von den Förderungen zu profitieren, oder durch bestimmten Risikofaktoren besonders gefährdet sind.

Eine präventive Fokussierung auf bestimmte Gruppen kann allerdings auch dazu führen, dass diese stigmatisiert werden. Stigmatisierungseffekte können verschiedene negative Folgen haben: Zum Beispiel kann die Zuschreibung negativer Eigenschaften dazu führen, dass die Personen durch die Eingruppierung in eine Risikogruppe selbst daran glauben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt und dadurch immer mehr dem zugeschriebenen Bild entsprechen (self-fulfilling prophecy). Außerdem ist die Gefahr groß, dass Hilfebedürftige die Angebote nicht in Anspruch nehmen (Dunkelziffer), weil sie eine Diskriminierung fürchten.

Ein breiteres Verständnis von Prävention richtet den Blick nicht auf Risikogruppen, sondern auf die Stärkung der Ressourcen aller Menschen (Primärprävention). Ein solches (salutogenetisches) Präventionsverständnis kommt zum Beispiel in der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1986 zum Ausdruck. In ihr wird gefordert, "allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit [zu] ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit [zu] befähigen." Prävention wird so zu einer Querschnittsaufgabe von Politik, Institutionen, Gemeinwesen und Individuen. Zum einen soll kompensatorisch darauf hingewirkt werden, dass alle Menschen vergleichbare Entwicklungschancen erhalten, und zum anderen geht es darum, die Individuen innerhalb ihrer Lebenswelt (Setting-Ansatz) zum autonomen Handeln und zur Selbsthilfe zu befähigen. Es geht um die Förderung von Schutzfaktoren, die es den Individuen ermöglichen, sich trotz negativer Einflüsse positiv entwickeln zu können (Resilienzen). Da dieses Bild von Prävention nicht primär auf die Förderung von Risikogruppen ausgerichtet ist, kann es auch nicht allein um lebensbiografisch früh angesiedelte Förderung gehen. Sozialpolitische Leistungen sollen nach diesem Leitbild frühzeitig einsetzen, was bedeutet, dass Förderungen rechtzeitig angeboten werden, sobald Entwicklungsdefizite absehbar sind.

Jedem Präventionsdenken liegen verschiedene Ambivalenzen zugrunde. Grundsätzlich ist das Leitbild der Prävention der Paradoxie ausgesetzt, etwas verhindern zu wollen, was noch nicht geschehen ist. Sämtliche Präventionskonzepte fußen außerdem auf der vereinfachenden Grundannahme, dass gegenwärtige Eingriffe ursächlich mit Veränderungen in der Zukunft in Verbindung gebracht werden können. Das bedeutet, dass Prävention immer davon ausgeht, durch eine Handlung im Hier und Jetzt eine zukünftige Fehlentwicklung korrigieren zu können. Diese Denkweise beruht auf der Vorstellung, dass eine Wirkung immer eine eindeutig zuzuordnende Ursache besitzt, und meist wird sogar von einer einzigen Ursache ausgegangen (Monokausalität).

Da soziale Phänomene in der Regel aber auf verschiedenen, sich gegenseitig verstärkenden oder auch abschwächenden Ursache-Wirkung-Zusammenhängen beruhen, liegt hier eine grundsätzliche Schwachstelle des Präventionsansatzes. Der schulische Erfolg ist beispielsweise von so unterschiedlichen individuellen, familialen und gesellschaftlichen Bedingungen abhängig, dass eine präventive Unterstützung bei den Hausaufgaben allein nicht verhindern kann, dass der/die Schüler/in eine schlechte Klausur schreibt.

Darüber hinaus ist mit jeder Form von Prävention auch ein Werturteil darüber verknüpft, was akzeptable Lebensverhältnisse sind oder was als positive Entwicklung gelten kann und was nicht. Somit ist das Leitbild der Prävention stets einer normativen Setzung verpflichtet, die in der Regel indirekt angestrebt, aber nicht ausdrücklich benannt oder begründet wird. Gerade dieser implizite Charakter des Leitbildes Prävention führt dazu, dass es in der öffentlichen Debatte selten kritisiert wird und in einem solchen Leitbild ganz unterschiedliche Werte und Normen gebündelt werden können.

Arten der Prävention (© bpb)

"Wer soll dazu gehören? Alle!" – Der Inklusionsdiskurs

Dass unter einem Begriff zur gleichen Zeit unterschiedliche Ausprägungen eines Leitbildes nebeneinander stehen können, ist bereits am Beispiel Prävention zu erkennen gewesen. Ein weiteres Beispiel, an dem dies deutlich wird, ist das der Inklusion. Das Leitbild der Inklusion reicht in verschiedene Bedeutungskontexte hinein, zum Beispiel prägt es die sozialpolitische Auseinandersetzung um den gemeinsamen Schulbesuch von Kindern mit und ohne Behinderung, die Integration von Migrantinnen und Migranten oder auch die Diskussion um die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung (soziale Inklusion). In der Alltagssprache wird Inklusion aktuell überwiegend auf den Bereich der Behinderung bezogen.

Hinter sämtlichen Inklusionsbemühungen steht die Vorstellung von idealen Lebenslagen und davon, wann Eingriffe in die individuellen Lebensverhältnisse, beispielsweise durch sozialpolitische Leistungen, gerechtfertigt sind und wann nicht. Gemeinsam ist allen Inklusionsleitbildern, dass es immer um die Bekämpfung bzw. Vermeidung von Ausgrenzungsprozessen geht.

Die Vorstellung der Inklusion, wie sie z. B. in der UN-Behindertenrechtskonvention 2008 vertreten wird, richtet sich in erster Linie auf die Teilhabe- und Verwirklichungschancen der Menschen. Es geht um den Anspruch, jedem Menschen unabhängig von seiner geistigen und körperlichen Verfassung die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Selbstverwirklichung zu ermöglichen. Nach diesem Verständnis besitzt der Mensch ein natürliches Recht auf Inklusion und die Frage danach, welche Gruppen inkludiert werden sollen, stellt sich nur insofern, als dass die Personen identifiziert werden müssen, die Unterstützung benötigen, um ihr Recht auf Inklusion zu verwirklichen. Aber auch dieses Inklusionsleitbild kommt nicht ohne eine normative Bestimmung dessen aus, was "Teilhabe am gesellschaftlichen Leben" bedeutet. Ist Teilhabe an der heutigen Gesellschaft möglich, ohne im Besitz eines Handys zu sein oder ohne die Fähigkeit, mit diesem umgehen zu können? Auf diese Fragen werden unterschiedliche Personen unterschiedlich antworten. Da die Vorstellung einer vollständigen Inklusion aller Menschen utopisch ist, lässt sich die Frage danach, was unverzichtbar ist, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, nicht abschließend beantworten. Es kann also immer nur um den Grad der Inklusion gehen, der erreicht werden soll.

Die Festlegung wiederum, was ein Mindestmaß an Teilhabemöglichkeiten ist, muss politisch ausgehandelt werden und ist somit von Interessen abhängig. Wenn zum Beispiel in der Debatte um Mindestsicherungsleistungen davon gesprochen wird, dass ein bestimmter Regelsatz zu niedrig sei, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können, ist dies stets davon abhängig, welche Vorstellungen von gesellschaftlicher Teilhabe diesem Werturteil in der Politik, in der Armutsforschung oder in der Bevölkerung zu Grunde liegen. Hinzu kommt: Vor 20 Jahren hätte sich die Frage nach einem Handy gar nicht gestellt. Dies zeigt, dass sich die Bewertung dessen, was als notwendig erachtet wird, mit der Zeit verändert. Neben den gesellschaftlichen und technischen Veränderungen (zeitliche Dimension) spielt der Ort (räumliche Dimension) ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Bewertung von gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten. So sind ein Führerschein und ein eigener PKW in ländlich geprägten Regionen wichtiger als in Großstädten mit einem gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr.

Jg. 1973, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. 2007 bis 2011 Professor für Politikwissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg, seit 2011 in gleicher Funktion an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum. Fachliche Schwerpunkte: Armutspolitik im politischen Mehrebenensystem und politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit. Kontakt: E-Mail Link: benz@efh-bochum.de

Jg. 1945, lehrt Politikwissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Von 2001 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Arbeitsschwerpunkte sind allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik – darunter Armuts- und Reichtumsforschung – und Sozialethik. Kontakt: E-Mail Link: Ernst-Ulrich.Huster@t-online.de

Jg. 1982, Diplom-Sozialpädagoge, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für soziale Arbeit Münster e. V. im Landesmodellvorhaben „Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“. Lehrbeauftragter an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Universität Osnabrück. Von 2008 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Fachliche Schwerpunkte: Theorie der „sozialen“ Vererbung von Armut, Inklusionsstrategien und Soziale Ausgrenzung in Deutschland. Kontakt: E-Mail Link: Johannes.D.Schuette@gmail.com

Jg. 1966, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler, lehrt seit 2007 Sozialpolitik an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfenbüttel an der Fakultät Soziale Arbeit. Fachliche Schwerpunkte: allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik, Armut und soziale Ausgrenzung in Deutschland und Europa, politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit und Entwicklung sozialer Dienste.