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Außensicht und Selbstverständnis einer Region in der Krise

Henner Fürtig

/ 6 Minuten zu lesen

Der Arabische Frühling 2011 weckte unter den mehrheitlich jungen Bevölkerungen des Nahen Ostens große Hoffnungen auf Veränderung. Ein vom Westen und der Europäischen Union erhoffter Demokratisierungseffekt blieb jedoch aus, stattdessen kam es zu gegenläufigen Umstürzen, die mit verstärkter Repression einhergingen. Heute präsentiert sich die Region zerrissen – und auch die EU sucht ihre Rolle.

Annäherung an Europas Nachbarregion: Die Wasserstraße von Gibraltar ist mit nur 14 Kilometern Distanz an ihrer schmalsten Stelle die kürzeste Verbindung nach Afrika. Blick vom Atlantik auf die marokkanische Stadt Tanger 2015 (© Wolfgang Kaehler / LightRocket via Getty Images)

Schnittstelle der Kontinente Asien, Afrika und Europa, Geburtsstätte der drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, Wiege der menschlichen Zivilisation in Ägypten und Mesopotamien – für die Kulturgeschichte der Menschheit hat der Nahe Osten seit jeher einen besonderen Stellenwert. Spätestens als das Erdöl vor mehr als 100 Jahren zum wichtigsten Einzelrohstoff der globalen Wirtschaft wurde, gelangte die Region auch in eine strategische Schlüsselposition. Sie birgt etwa zwei Drittel der weltweit bekannten Erdölreserven und knapp 44 Prozent der Erdgasreserven. Mehr als ein Drittel der globalen Erdölfördermenge und etwa 20 Prozent des geförderten Erdgases stammen von dort. Deshalb ist der Nahe Osten für die gegenwärtige und künftige Versorgung der Welt mit diesen Rohstoffen von zentraler Bedeutung.

QuellentextWas ist der Nahe Osten?

Bei aller Faszination fiel es den Europäern seit jeher schwer, ihre südliche und südöstliche Nachbarregion geografisch einzugrenzen und exakt zu benennen. "Orient", "Morgenland", "Naher Osten", "Mittlerer Osten" und viele andere Bezeichnungen stehen häufig nebeneinander oder werden synonym verwendet, ohne dass klar wäre, was sie jeweils bedeuten.

Die älteste dieser Namensgebungen aus der römischen Antike begriff den "Orient" als eine von vier von Rom aus definierten Weltgegenden und zwar als "Osten", in dem die Sonne aufgeht (lat.: sol oriens). Dem Orient gegenüber stand der "Okzident", der "Westen", in dem die Sonne untergeht (lat.: sol occidens). Mit dem Mittelmeer als Zentrum hat auch die arabische Sprache diese Zuordnung übernommen: Maschrek bezeichnet den Osten des Mittelmeers, Maghreb dessen Westen. Deutsche Quellen übersetzten Orient und Okzident erstmals im 17. Jahrhundert als Morgen- bzw. Abendland, wobei das antike Griechenland die Trennungslinie, quasi den "Nullmeridian", markierte.

Mit der europäischen kolonialen Expansion im 19. Jahrhundert bürgerte sich endgültig eine ursprünglich nur auf die Welt des Mittelmeers gemünzte Begriffsbestimmung auf den gesamten Globus ein. Der "Nullmeridian" wanderte von Griechenland nach Westeuropa. Von hier aus gesehen war der östliche Mittelmeerraum nun "nah", während Ostasien, namentlich China und Japan, in der "Ferne" lagen. So fanden die Begriffe "Naher" und "Ferner Osten" Eingang in die Alltagssprache der Europäer. Sie hatten nun nicht nur eine geografische und kulturelle, sondern auch eine politische Bedeutung: Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wurde unter "Naher Osten" oder "Vorderer Orient" nicht mehr nur der östliche Mittelmeerraum verstanden, sondern die gesamten außereuropäischen Besitzungen des Osmanischen Reiches.

In Großbritannien, dessen Kolonialreich einen besonderen Schwerpunkt in Indien hatte, setzte sich für die Landverbindung zwischen dem Mittelmeer und Indien dagegen der Begriff "Mittlerer Osten" durch. Die Bewohner der Region haben die Übersetzung des Begriffs (asch-scharq al-ausat) in ihre Sprache übernommen. In Europa sind seit dem Ende des Osmanischen Reiches die Bezeichnungen "Naher" und "Mittlerer" Osten bedeutungsgleich gebräuchlich geworden.

Während der Begriff "Orient" in Europa seitdem vor allem in religiös-kulturellen Erörterungen Verwendung fand und dabei meist Andersartigkeit ausdrücken wollte, wurden "Naher", "Mittlerer" und "Ferner Osten" in der Regel gebraucht, wenn es um soziale, politische und wirtschaftliche Zusammenhänge ging. Den Begriff "Naher Osten", wie er heute gebräuchlich ist, gibt es demnach erst seit der europäischen Kolonialherrschaft und der dabei vorgenommenen, künstlichen geografischen Zuordnung. Trotzdem hält sich der Begriff hartnäckig, vor allem auch mangels Alternative. Er bezeichnet einen Raum, der sich von Marokko im Westen über die arabische Halbinsel bis nach Iran im Osten erstreckt und im Norden auch die Türkei einschließt. Unstrittig ist der "Nahe Osten" damit ein unmittelbarer Nachbar Europas.

Henner Fürtig

Die natürlichen Ressourcenvorkommen, die strategische Lage der Region und die Hoffnung auf neue Absatzmärkte weckten seit dem 19. Jahrhundert das Interesse der europäischen Kolonialmächte. Aus den gleichen Gründen wurde der Nahe Osten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum heftig umkämpften Zankapfel des Kalten Krieges zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion. Der Widerstand der Bevölkerung gegen die Kolonialherrschaft und die strategische Bedeutung im Kalten Krieg waren die wesentlichen Ursachen für die außerordentliche Häufung der Konflikte, welche die Region im 20. Jahrhundert erlebte. Allein seit 1945 fanden hier knapp ein Dutzend zwischenstaatliche Kriege statt. Umstürze und Revolutionen trugen zur regionalen Instabilität bei.

Mit dem Islamismus entstand – insbesondere seit dem Sieg der "Islamischen Revolution" in Iran 1979 – zudem eine politische Bewegung und Ideologie, die sich als Gegenentwurf zu den aus dem Westen importierten Gesellschaftsmodellen versteht. Instabilität und Fremdbestimmung hemmten trotz des Ressourcenreichtums die wirtschaftliche und politische Entwicklung. Herrschaft hat im Nahen Osten in der Regel autokratischen Charakter.

Vor diesem Hintergrund weckten die als "Arabischer Frühling" bezeichneten Umwälzungen, die Ende 2010 zunächst Tunesien und dann nahezu die gesamte arabische Welt erfassten, große Hoffnungen. Erstmals seit Jahrzehnten hatten die Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und ihren autokratischen Herrschern Einhalt geboten. Bis zum Februar 2011 waren der tunesische Gewaltherrscher Zine el-Abidine Ben Ali und der ägyptische Despot Hosni Mubarak gestürzt, ihre Amtskollegen in den anderen arabischen Hauptstädten fürchteten nahezu stündlich ein ähnliches Schicksal. In Europa und in den USA erschienen erste Prognosen, die bis Ende des Jahres 2011 den Sieg der Demokratie in der Region voraussagten. Modell für diesen Optimismus standen die osteuropäischen Staaten, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion binnen kurzer Zeit zu relativ gut funktionierenden Demokratien entwickelt hatten.

Die Europäische Union sah sich in der Verantwortung, die demokratische Transformation in der Nachbarschaftsregion zu unterstützen. Damit wollte sie zugleich Vorwürfe entkräften, dass sie sich aus pragmatischen Gründen in der Vergangenheit immer wieder auf die arabischen Autokraten eingelassen hatte. Im Mai 2011 stellte die damalige EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton die "Neue Europäische Nachbarschaftspolitik" vor. Die wirtschaftsstärksten Mitgliedstaaten der EU, namentlich Deutschland, legten eigene Programme zur Unterstützung des Transformationsprozesses in der arabischen Welt auf.

In ihrer Mischung aus schlechtem Gewissen und der Einsicht, dass den Interessen Europas langfristig am besten mit einer demokratischen Nachbarschaft gedient wäre, waren die europäischen Initiativen durchaus ernst gemeint. Sie trafen allerdings auf eine Region, in der ein demokratischer Dominoeffekt schwerlich zu erwarten war. Zu unterschiedlich zeigten sich die Voraussetzungen von Marokko im Westen bis Irak im Osten. Monarchien standen neben Republiken, kleine neben großen Staaten, reiche neben "bettelarmen", bevölkerungsreiche neben dünn besiedelten Ländern, künstliche Kolonialgründungen wie Irak, Jordanien und Libyen neben teilweise jahrtausendealten Staaten mit eigener nationaler Identität wie Ägypten. So blieb zwar letztlich kein arabisches Land von den Erschütterungen des Arabischen Frühlings verschont, aber die Folgen erwiesen sich als extrem unterschiedlich.

In sechs arabischen Staaten – Ägypten, Tunesien, Libyen, Syrien, Jemen und Bahrain – hatten sich im Frühjahr 2011 starke Protestbewegungen gegen die jeweiligen Herrscher herausgebildet. In vieren von ihnen – Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen – mussten die Machthaber am Ende weichen. Damit endeten aber auch schon die Gemeinsamkeiten. Während in Tunesien die demokratische Transformation voranschritt, etablierte sich in Ägypten 2013 eine Militärdiktatur, die seither in wesentlichen Merkmalen repressivere Züge aufweist als die 2011 gestürzte. In Libyen und Jemen mussten zwar die Gewaltherrscher Muammar al-Gaddafi und Ali Abdullah Saleh abdanken, aber beide Länder versanken danach in blutige Bürgerkriege, die ihren staatlichen Bestand gefährden.

Ähnliche Unterschiede kennzeichnen auch jene Länder, in denen die Autokraten die Proteste überstanden. In Bahrain marschierten von Saudi-Arabien geführte Truppen ein, die im Namen des Golfkooperationsrates, einer Institution, in der sechs arabische Länder ihre Außen- und Sicherheitspolitik koordinieren, den Repressionskurs der Herrscher verstärkten. In Syrien hält sich zwar Präsident Baschar al-Assad an der Macht, aber das Land löst sich auf. Ein von exzessiver Gewalt begleiteter Bürgerkrieg führte zu hunderttausenden Todesopfern und Millionen Flüchtlingen im In- und Ausland. Große Teile des Landes sind verlassen und/oder verwüstet.

Auf dem Nährboden des syrischen Bürgerkrieges entstand 2014 der sogenannte Islamische Staat (IS), der islamistischem Terrorismus erstmals in der neueren Geschichte eine staatenähnliche Form geben wollte und die Labilität der Region enorm erhöht. Seine Krakenarme reichen bis in den Irak, wo seine Vorgängerorganisationen nach der US-Intervention von 2003 entstanden waren.

Die Monarchen Jordaniens und Marokkos haben den Protesten mit rechtzeitigen Reformen die Spitze genommen, und die reichen Golfmonarchen haben den Unmut ihrer Untertanen – einmal mehr – mit viel Geld besänftigt. Insgesamt aber steht die arabische Welt gegenwärtig weitaus schwächer und zerrissener da als vor dem Arabischen Frühling. Die wesentlichen Faktoren, die 2010 und 2011 zu den Protesten geführt hatten, sind im Nachgang eher noch wirkmächtiger geworden.

60 Prozent der arabischen Bevölkerung sind heute unter 25 Jahre alt. Gleichzeitig stieg die Jugendarbeitslosigkeit von 25 Prozent 2011 auf gegenwärtig 30 Prozent. Damit liegt sie doppelt so hoch wie der Weltdurchschnitt. Das Wirtschaftswachstum ist niedrig oder sogar rückläufig. Der Bildungssektor ist unterfinanziert, Rechtssicherheit ist kaum vorhanden.

Sicherheitsapparate überwachen die Gesellschaft nahezu lückenlos, Widerstand wird in der Regel gewaltsam gebrochen. Ethnische und konfessionelle Unterschiede werden bestärkt und instrumentalisiert; sie führen aber den Werbern des IS immer wieder neue Rekruten zu.

Cartoon: Pessimisten-Puzzle (© Thomas Plaßmann / Baaske Cartoons)

Europa musste nach den Jahren des Zweckoptimismus erkennen, dass die Hoffnungen auf eine baldige Demokratisierung Nordafrikas und des Nahen Ostens voreilig waren. Gegenwärtig ist die EU zum Verhalten zurückgekehrt, das sie schon vor dem Arabischen Frühling gezeigt hat: Geschäfte werden mit den etablierten Regimen abgewickelt, gemeinsame Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen überlagern zaghafte Aufrufe zur Demokratisierung. Kritik gegen die neuerliche Repression und die fortgesetzte autokratische Herrschaft erhebt sich aus den Reihen der EU jedenfalls nur spärlich. Meistens behilft man sich mit dem bekannten Lehrsatz, wonach wirtschaftliche Modernisierung auf lange Sicht auch zu gesellschaftlicher Modernisierung führen werde und Wirtschaftshilfe gut angelegt sei, weil wirtschaftlich prosperierende Staaten mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Demokratien würden.

Nordafrika und Naher Osten in Zahlen I (© Externer Link: CIA Factbook/)

Derartige Argumente klingen aber vor allem nach Ausflüchten und können kaum kaschieren, woran der EU gegenwärtig vor allem gelegen ist: an der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Diese Problematik beschäftigt die europäischen Hauptstädte weitaus intensiver als es der Arabische Frühling je getan hat. Die EU zeigt gegenwärtig wesentlich größeres Interesse daran, die nahöstlichen und nordafrikanischen Machthaber zur Zusammenarbeit bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu bewegen als sie etwa durch Demokratisierungsaufrufe zu "provozieren". Das mag kurzfristig sogar Entlastung versprechen, ist langfristig aber europäischen Interessen abträglich. Denn eines dürfte zutreffen: Der "Geist ist aus der Flasche". Die Erfahrungen, die Millionen Menschen während des Arabischen Frühlings gemacht haben, lassen sich nicht mehr tilgen. Vielen wurde bewusst, dass das Schicksal in die eigenen Hände genommen werden kann und der Einzelne nicht unabwendbar nur Objekt der Geschichte ist. Und nicht zu vergessen: das zarte Pflänzchen der Demokratie, das bislang unbeirrt in Tunesien wächst. 2015 bewertete Freedom House mit Tunesien erstmals ein arabisches Land als "frei".

Prof. Dr. Henner Fürtig ist Direktor des GIGA Instituts für Nahost-Studien und Professor für Nahost-Studien an der Universität Hamburg. Er absolvierte mehrjährige Aufenthalte in Iran und Ägypten. Danach war er Leiter eines Forschungsteams am Zentrum Moderner Orient in Berlin, bevor er 2002 an das Deutsche Orient-Institut, ab 2007 GIGA Institut für Nahoststudien in Hamburg wechselte. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind die Neueste Geschichte und Politik des Vorderen Orients. Dazu erschienen zahlreiche Veröffentlichungen im In- und Ausland. Herr Professor Fürtig hat die Koordination dieser Heftausgabe übernommen.
Kontakt: E-Mail Link: henner.fuertig@giga-hamburg.de