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Sinti und Roma | 27. Januar – Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus | bpb.de

27. Januar - Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus Editorial Wessen Gedenken? Wessen gedenken? Rassistische Gesinnung(en) Ausgewählte Opfergruppen Juden Sinti und Roma Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter "Gemeinschaftsfremde" und Kranke Homosexuelle Nicht angepasste Jugendliche Anmerkungen zur Erinnerungskultur Impressum

Sinti und Roma

Gernot Jochheim

/ 5 Minuten zu lesen

Roma (Singular: Rom=Mensch) ist die Selbstbezeichnung einer Volksgruppe, die vor über 1000 Jahren aus dem Nordwesten Indiens nach Westen abwanderte. Die Sinti sind eine Teilgruppe der Roma und seit Jahrhunderten im deutschsprachigen mitteleuropäischen Raum beheimatet. Hier herrschte bis weit in das 20. Jahrhundert die Fremdbezeichnung "Zigeuner" für diese Volksgruppe vor − ein Begriff, der mit vielfältigen und nicht allein negativen Klischees und Vorurteilen verbunden war und ist.

Im "Brockhaus' Konversations-Lexikon" aus dem Jahre 1903 endet das Stichwort "Zigeuner" mit bemerkenswerten Sätzen: "Die Geschichte der Z. ist eine Geschichte menschlichen Elends und menschlicher Rohheit. Zahllos sind die Edikte, die in aller Herren Länder gegen sie erlassen worden sind, und grausam die Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren. Versuche, größere Massen mit Güte oder Gewalt anzusiedeln, sind stets gescheitert. [….] Dass das alte Zigeunertum in raschem Verfall begriffen ist, unterliegt keinem Zweifel. Immer geringer wird die Zahl der Z., die noch ihre alte Sprache sprechen können, und sie gehen immer mehr in der Bevölkerung auf, in der sie leben."

Seit je, so auch in den ersten Jahren der NS-Herrschaft, lag die Auseinandersetzung mit der "Zigeunerplage" vor allem im Tätigkeitsfeld der Polizei. "Zigeuner" galten als grundsätzlich "kriminell", und insbesondere der Umstand, dass ein kleiner, aber eben im Alltag sichtbarer Teil von ihnen, im Wesentlichen aufgrund ihrer gewerblichen Tätigkeit, nicht sesshaft war, wich von den als "normal" empfundenen bürgerlichen Lebensvorstellungen ab.

In der NS-Zeit wurden die Sinti und Roma in die Rassenideologie einbezogen. So hieß es beispielsweise im Zusammenhang mit den antijüdischen Nürnberger Gesetzen des Jahres 1935: "Da die Deutschblütigkeit eine Voraussetzung des Reichsbürgersrechtes bildet, kann kein Jude Reichsbürger werden. Dasselbe gilt aber auch für die Angehörigen anderer Rassen, deren Blut dem deutschen Blut nicht artverwandt ist, z. B. für Zigeuner und Neger." Zu diesem Zeitpunkt lebten etwa 26.000 "Zigeuner" im Deutschen Reich, mehrheitlich Sinti. Als 1938 Österreich dem NS-Staat angeschlossen wurde, gerieten weitere 11.000 bis 12.000 Roma und Sinti unter die NS-Herrschaft. Der weitaus größte Teil von ihnen war bereits seit langer Zeit sesshaft und im Übrigen ausnahmslos katholisch.

Zu der kleinen Gruppe der fahrenden Sinti gehört die Familie der Mitte der 1920er-Jahre geborenen Ehra, die sich zumeist in Düsseldorf aufhält. Die NS-Behörden unterbinden alsbald die Mobilitätsmöglichkeit der Sinti und organisieren "feste" Lager. In Düsseldorf weisen sie etwa 200 Sinti, darunter befindet sich die Großfamilie von Ehra, nicht mehr genutzte Stallgebäude des Militärs am Höherweg zu. Das Gelände, das Polizisten mit Hunden ständig bewachen, ist eingezäunt. Die Männer werden zu Zwangsarbeiten, etwa im Straßenbau, eingesetzt. Ähnliches geschieht in anderen Städten.

Die Sinti ahnen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sich innerhalb des NS-Regimes längst aus einem Gemisch von rassistischem Fanatismus, Profilierungs- und Karrieresucht von Bürokraten, Polizisten und Rassenhygienikern ein institutioneller Komplex gebildet hat, in dem unter anderem die vollständige Erfassung und rassistische "Begutachtung" der "Zigeuner" geleistet werden soll: zunächst ab 1936 die "Rassenhygienische Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes", dessen Tätigkeit ab 1941 noch durch ein der Sicherheitspolizei unterstelltes "Kriminalbiologisches Institut" unterstützt wird. Zudem trägt die Verfolgung der seit Jahrhunderten diskriminierten "Zigeuner" ähnlich wie die der Homosexuellen in besonderer Weise dem "gesunden Volksempfinden" Rechnung und bietet Gelegenheiten für vielfältige rassistische Aktivitäten "von unten".

Als im Mai 1940 aus dem Reichsgebiet 2800 Sinti und Roma in das "Generalgouvernement" (also nach "Restpolen", das die Deutschen nach dem Überfall auf Polen und dessen Zerschlagung als "Nebenland" betrachteten und ausbeuteten) verschleppt werden, gehört auch Ehra mit etwa weiteren 100 Sinti aus dem Lager am Höherweg zu den Betroffenen. Die Deportierten müssen in Gettos und Konzentrationslagern schwerste Zwangsarbeit leisten, etwa beim Straßen- und Flugplatzbau, in Steinbrüchen und Fabriken. Aufgrund eines Erlasses von Heinrich Himmler, dem "Reichsführer" der SS, vom 16. Dezember 1942 wird Anfang 1943 im KZ Auschwitz ein "Zigeunerlager" eingerichtet, in das etwa 23.000 Sinti und Roma aus über zehn europäischen Ländern deportiert werden, circa 11.000 davon aus Deutschland. Der 16. Dezember ist in Deutschland seit 1994 ein nationaler Gedenktag für die Verfolgung der Sinti und Roma durch das NS-Regime. Alljährlich führt der Bundesrat an diesem Tag eine Gedenkveranstaltung durch.

"Mädchen mit Ball" - ein Erinnerungszeichen in Düsseldorf

"Mädchen mit Ball" - Skulptur des Malers und Bildhauers Otto Pankok. (© Archiv Jochheim)

Ehra hat die Arbeitslager in Osteuropa überlebt. Sie und andere Überlebende bekamen nach Kriegsende in Düsseldorf von den Behörden, wo sie oftmals auf dieselben Beamten trafen wie zur NS-Zeit, erneut das Gelände am Höherweg als Bleibe zugewiesen. Ehra begegnete hier dem Maler Otto Pankok (1893-1966) wieder. Pankok hatte 1931 Kontakte zu den Menschen in der Düsseldorfer "wilden Siedlung" im Heinefeld gefunden, dabei auch das Mädchen Ehra kennengelernt und es wie viele andere der Sinti gemalt. Leidende Menschen am Rande der Gesellschaft waren das Hauptthema von Pankoks künstlerischer Tätigkeit. Seine empathischen "Zigeunerbilder" waren für die Nationalsozialisten Grund genug, den Künstler als "entartet" einzuordnen. Nach 1945 gehörte Pankok – mittlerweile Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf (und unter anderem ein Lehrer des Schriftstellers Günter Grass, der zeitweilig dort Grafik und Bildhauerei studierte) – zu den ersten, die versucht haben, in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit für die NS-Verbrechen an den Sinti und Roma zu bewirken.

1955 schuf Pankok nach den Bildern, die er von Ehra angefertigt hatte, die Skulptur "Mädchen mit Ball". Am 27. Januar 1997, ein Jahr nach der Begründung des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus, wurde ein Bronzeabguss an der neu gestalteten Rheinuferpromenade in Düsseldorf, am Alten Hafen, enthüllt. Eine Tafel neben der 102 Zentimeter hohen Figur erklärt das Standbild zu einem Gedenkort für die ermordeten und diskriminierten Sinti und Roma.

Die Gesamtzahl der während der NS-Herrschaft ermordeten Roma und Sinti kann bis heute lediglich geschätzt werden. Ausgehend von zurückhaltenden Schätzungen, die zumeist auf statistischen Angaben aus der NS-Zeit beruhen, darf als zutreffend gelten, dass bis zu 500.000 Roma und Sinti umgebracht wurden. Von den knapp 40.000 Sinti und Roma, die in Deutschland und Österreich gelebt haben, wurden 25.000 ermordet. In der Sprache der Roma und Sinti, dem Romani, wurde für diesen Völkermord der Begriff Porajmos (auch Porrajmos; dt.: das Verschlingen) geprägt.

Nach 1945 endete die gesellschaftliche und staatliche Diskriminierung der Sinti und Roma nicht. Lange Zeit wurde ihnen die Anerkennung verweigert, Opfer der rassistischen NS-Verfolgung gewesen zu sein. So hieß es in einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes zur Entschädigung von Sinti und Roma vom 7. Januar 1956 unter Ignorierung geschichtlicher Tatsachen und rechtlicher Logik, alle staatlichen Verfolgungsmaßnahmen vor dem 1. März 1943, also etwa dem Beginn der Deportationen nach Auschwitz, seien rechtlich zulässig gewesen, weil sie von den "Zigeunern" durch ihre "Asozialität", ihre "Kriminalität" und ihren "Wandertrieb" selbst verschuldet gewesen seien. Zu jenem Zeitpunkt waren 80 Prozent der dortigen Richter bereits in der NS-Zeit tätig gewesen Und der "Große Brockhaus" des Jahres 1957, die erste Nachkriegsausgabe (16. Aufl.), attestiert den "Zigeunern" eine "ganz primitive, unstete Lebensweise". Die Verfolgung der Sinti und Roma in der Geschichte wird mit keinem Wort erwähnt, geschweige denn der Genozid während der NS-Herrschaft in Deutschland und im besetzten Europa.

1969 machte der Europarat erstmals auf die soziale Situation der Roma aufmerksam. Als dann am 17. März 1982 der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die rassistische Verfolgung der Sinti und Roma beklagte und von einem Völkermord sprach, war dies Ausdruck eines gewandelten Bewusstseins hinsichtlich des NS-Rassismus.

Die Armutszuwanderung der Roma in unseren Tagen vom Balkan nach Mitteleuropa hat aufs Neue die Ideologie des Antiziganismus aktiviert. Für die Glaubwürdigkeit des Wertekanons der EU sollten diese Ideologie und die Lebensumstände der Roma als Herausforderung verstanden werden.

Literaturhinweise und Internetadressen


End, Markus: Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation. Hg.v. Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Heidelberg 2014 − Kurzversion unter:
Externer Link: http://www.sintiundroma.de/uploads/media/2014StudieMarkusEndAntiziganismus.pdf

Mappes-Niediek, Norbert: Arme Roma, böse Zigeuner. Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt. 3. Aufl., Berlin 2013, 224 S. (bpb-Schriftenreihe Band 1385 )

Rose, Romani (Hg.): Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma. Eine Dokumentation (Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma), CD-ROM, Heidelberg 2000

Wippermann, Wolfgang: Niemand ist ein Zigeuner. Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils. Hamburg 2015, 256 S.

Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische "Lösung der Zigeunerfrage". Hamburg 1996, 574 S.

Externer Link: www.sintiundroma.de

Fussnoten

Dr. Gernot Jochheim ist Friedens- und Konfliktforscher und war Lehrer. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Sozialgeschichte, Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit und Probleme politisch-gesellschaftlichen Wandels sowie im pädagogischen Bereich Gewaltprävention und Erinnerungskultur.