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Prinzipien republikanischen Denkens | Demokratie | bpb.de

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Prinzipien republikanischen Denkens

Hans Vorländer

/ 4 Minuten zu lesen

Recht, Gesetz und Gemeinwohl gelten als Grundlagen der politischen Ordnung in der antiken römischen Republik. Ihr Mischverfassungssystem ist nicht nur für die mittelalterlichen Stadtrepubliken beispielgebend, sondern wirkt bis heute nach.

Das republikanische Denken geht auf die römische Antike und die Republik Roms zurück. Rom selbst war keine Demokratie, sondern eine Oligarchie, eine Herrschaft der herausragenden und angesehenen Männer. Die sogenannte Nobilität, eine kleine Gruppe von Patriziern (von lat.: patres, Väter), dem grundbesitzenden Geburtsadel, und von wohlhabend gewordenen Plebejern (von lat.: plebs, Volk), vor allem Bauern und Handwerkern, konnte mittels eines ausgeklügelten Klientel- und Patronagesystems die politischen Entscheidungen weitestgehend kontrollieren.

Der Senat war das entscheidende Machtzentrum, in ihm wurde über die wichtigsten öffentlichen Angelegenheiten verhandelt und abgestimmt. Die Volksversammlung hatte zwar nach den Ständekämpfen zwischen Plebejern und Pa­triziern (500 – 287 v. Chr.) an Einfluss gewonnen, doch besaß sie keine direkten Entscheidungs- und Kontrollrechte. Allerdings war die Volksversammlung der Ort, wo die von der Nobilität vertretene Politik dem Volk als Ganzes präsentiert wurde und wo das Volk eine gewisse Einwirkungsmöglichkeit besaß.

Antikes Rom


Die römische Republik hat im politischen Denken der nachfolgenden Jahrhunderte zunächst sehr viel direkter und stärker nachgewirkt als Athens Polisdemokratie. Das lag auch an der Faszination, die der Aufstieg Roms, die Eroberung Italiens bis ca. 270 v. Chr. und die anschließende Errichtung des Weltreiches bis ca. 130 v. Chr. hervorriefen.

Schon früh hatte sich der griechische Historiker Polybios (201 – 120 v. Chr.) um eine Erklärung für den Aufstieg Roms zur Weltherrschaft bemüht. Er sah ihn vor allem in der Elastizität der römischen Verfassung begründet, die es ermöglichte, Macht zu begrenzen und zu kontrollieren, eine Zusammenarbeit zwischen den sozialen Kräften, vor allem Patriziern und Plebejern, und den politischen Gewalten zu erzwingen und schließlich politische Stabilität zu gewährleisten.

In der römischen Mischverfassung gingen das monarchische Element, in Form des Konsulates, das aristokratische, in Form des Senates, und das demokratische Element, in Form des Volkes, eine Verbindung ein. Auch Polybios hielt, wie schon zuvor Aristoteles, eine Kombination unterschiedlicher Verfassungsformen für die Garantie freiheitlicher Ordnung und politischer Stabilität. Konsuln, Senat und Volksversammlung hatten, so die Analyse von Polybios, ein System des Gleichgewichtes ausgebildet, das auf einem institutionellen Wechselspiel, auf gegenseitiger Einwirkung und wechselseitiger Kontrolle der Institutionen, beruhte.

Damit war für Polybios ein Ausgleich zwischen Adel und Volk geschaffen worden und zugleich eine Balance zwischen den unterschiedlichen politischen Organen. Selbst wenn Historiker immer wieder bezweifelt haben, dass dieses Mischverfassungssystem in Rom faktisch so, wie es Polybios idealtypisch beschrieben hat, existierte, blieb die Ansicht erhalten, dass ein solches Mischverfassungsmodell positive Auswirkungen zeitige: Mäßigung der Macht, Ausgleich sozialer Kräfte und Kontrolle politischer Institutionen durch ihre wechselseitige Verschränkung.

QuellentextVerfassungslehre des Polybios

[...] Polybios war Politiker, Stratege und Gesandter. Nach der Niederlage der griechischen Städte des achaiischen Bundes 168 v. Chr. gegen die Römer wurde er zusammen mit 1000 anderen Mitgliedern der achaiischen Führungsschicht nach Rom gebracht, wo diese Gruppe jahrelang auf einen Prozess, den die Römer ihnen machen wollten, zu warten hatte. [...] Polybios entwickelt nun ­etwas, was er für ein Naturgesetz der Verfassungsentstehung und Verfassungsfolge hält. In Wirklichkeit handelt es sich um ein geschichtsphilosophisches Schema der zeitlichen Abfolge verschiedener Verfassungen nach Prinzipien theoretisch erfassbarer Notwendigkeit. [...]

Dieses Abfolgemodell besteht aus sechs Schritten:

  1. Staaten entstehen neu nach Naturkatastrophen oder in Notsituationen. Die Menschen sammeln sich dann um Führerpersönlichkeiten, die durch Körperkraft und Kühnheit regieren und auch nur so lange diese Eigenschaften anhalten. Das ist die Herrschaft des einzelnen [...].

  2. Durch Gewöhnung wird daraus das Königtum [...], indem man sich einem anerkannten Herrscher auch dann unterordnet, wenn dieser alt und schwach geworden ist. Die Königswürde kann auch auf die Nachkommen übergehen, weil der Glaube aufkommt, dass jemand, der von guten Männern abstammt, auch selbst durch Erziehung oder Vererbung besondere Fähigkeiten haben könnte. Statt der Gewalt beginnen nun Moral und Recht zu herrschen.

  3. Die Nachkommen jedoch entfernen sich von den Untertanen, beanspruchen Sonderrechte und erregen dadurch Neid, Hass und Zorn. Aus dem Königtum wird die Tyrannis.

  4. Diese wird durch Verschwörungen der Edelsten, Lautersten und Mutigsten gestürzt, weil diese am wenigsten die Zumutungen und Anmaßungen der Herrschenden ertragen konnten. Damit regiert nun eine aristokratische Führungsschicht.

  5. Wenn aber deren Söhne diese Machtstellung übernehmen, haben sie keinen Begriff mehr von den Leiden der Tyrannis, der Bedeutung der Redefreiheit und anderer Bürgerrechte. Die herrschende Schicht transformiert sich zur Oligarchie und tendiert zu Habsucht, Korruption und skandalösen Sittenverstößen.

  6. Die Volksmenge stürzt die Oligarchen und muss nun selbst die Herrschaft übernehmen. Dies wiederum geht so lange gut, wie noch Menschen leben, die sich an die Gewaltherrschaft erinnern und neuen Entartungen vorbeugen. Danach aber unterliegt auch diese Staatsform den unerbittlichen Formen des Verfalls, die neue Generation gewöhnt sich daran, fremdes Gut zu verzehren, schließt sich großsprecherischen Führern an, raubt und nimmt Vertreibungen vor, bis sich wieder ein Alleinherrscher findet. [...]

Polybios' Lehre vom Kreislauf der Verfassungen ist scharfsinnig gedacht, erhellend und in ihrer immanenten Kausalität außerordentlich überzeugungskräftig. Sie hat nur einen Nachteil: Sie ist empirisch falsch. Die Lehre, die Ablösung einer Verfassungsform und der Umschlag in die andere vollziehe sich jeweils in der nächsten, spätestens übernächsten Generation, ist nicht generalisierbar. [...]

Walter Reese-Schäfer, Antike politische Philosophie zur Einführung, Junius Verlag, Hamburg 1998, S. 147 ff

QuellentextDer Staat als Rechtsgemeinschaft der Bürger

Der römische Staatsmann und Philosoph Cicero bekleidete in seiner Laufbahn die höchsten politischen Ämter der Republik. In seinen politischen Schriften verteidigte er den Staat als eine Angelegenheit des Volkes ("Est igitur … res publica res populi").

[...] [J]ede Bürgerschaft, das heißt jede verfassungsmäßige Ordnung eines Volkes, jeder Staat, der ja [...] Sache des Volkes ist, muss irgendwie durch planvolle Leitung gelenkt werden, um auf die Dauer bestehen zu können. Diese planvolle Leitung [...] muss entweder einem Einzelnen übertragen werden oder bestimmten Auserwählten oder von der Gesamtheit aller Bürger übernommen werden. Wenn also alle Macht in der Hand eines einzelnen ist, nennen wir diesen "König" und die Verfassung dieses Staates "Monarchie". Ist [die Macht] aber in der Hand Auserwählter, dann heißt es, der Staat werde von der Entscheidungsgewalt der Optimaten regiert (Aristokratie). Demokratie ist schließlich […] diejenige Verfassung, bei der alles in der Hand des Volkes liegt. [...]

Aber in Monarchien haben alle übrigen zu wenig Anteil an dem gemeinsamen Recht und der planvollen Leitung des Staates; in der Aristokratie kann die Menge, da ihr jede Beteiligung an der planvollen Leitung und an der Macht fehlt, kaum Anteil an der Freiheit haben; und in der Demokratie, wenn alles vom Volk entschieden wird (und mag dieses noch so gerecht und maßvoll sein), ist die Gleichheit selbst ein Element der Ungerechtigkeit, da sie keine Rangabstufungen kennt. [...]

Daher halte ich eine vierte Staatsform für diejenige, welche die meiste Anerkennung verdient: nämlich eine, die aus den drei genannten maßvoll gemischt ist. [...]

Weil somit das Gesetz das Band der bürgerlichen Gemeinschaft ist, das Recht aber Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet – auf welcher Rechtsgrundlage kann die Gemeinschaft der Bürger dann erhalten bleiben, wenn es keine gleichen Bedingungen für die Bürger gibt? Ist man schon nicht für gleichmäßige Verteilung des Geldes und können auch die Begabungen aller nicht gleich sein, so müssen doch ganz gewiss die Rechte gleich sein für alle, die in demselben Staat Bürger sind. Denn was sonst ist der Staat als die Rechtsgemeinschaft seiner Bürger? [...]

Marcus Tullius Cicero, De re publica / Vom Staat, Erstes Buch, 25 (39)–32 (49), Lateinisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht, Stuttgart 2013, S. 57 ff.

Ciceros Vorbild - die Mischverfassung der römischen Republik (© dtv Atlas Politik)


So ließ sich aus der Analyse der antiken Republik Rom ein konstruktiver Beitrag für die Ausgestaltung moderner Demokratien gewinnen. Das republikanische Denken und seine Überlieferung halfen mehr als 18 Jahrhunderte später, ein Modell gemäßigter, auf Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle basierender Demokratie zu begründen.

Nach republikanischer Denkart musste eine politische Ordnung, wollte sie gut und gerecht sein, auf Recht, Gesetz und Gemeinwohl beruhen. So hatte auch der römische Staatsmann und Philosoph Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.), der in der Phase des Niedergangs der römischen Republik die Prinzipien der republikanischen Staatsform noch einmal genau beschrieb, in seiner Schrift "De re publica" ("Über den Staat", 54 – 51 v. Chr.) festgehalten: "Es ist also das Gemeinwesen die Sache des Volkes (res publica res populi), ein Volk aber nicht jede irgendwie zusammengescharrte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechtes (iuris consensu) und der Gemeinsamkeit des Nutzens (utilitatis communione) vereinigt ist."

Damit war zugleich ausgesprochen, dass eine Republik, als "Sache des Volkes", ihre Bürger an der Formulierung der Gesetze und des Gemeinwohls zu beteiligen hatte, worunter indes keineswegs eine direkte und unmittelbare Beteiligung aller freien und gleichen Bürger wie in der athenischen Polisdemokratie zu verstehen war.

QuellentextDas Privileg des Bürgerrechtes

[…] Dass Menschen Bürger und nicht Untertanen sein können und dass sie als Bürger über Rechte verfügen, ist […] eine Errungenschaft der Antike […]. In der Polis hat der polites, der Bürger, seinen Ursprung: Er war Teilhaber der Gemeinschaft und zugleich ihr Mitgestalter.

[…] Die Polis verlangt ihrem Bürger viel ab. Die Restriktionen des Bürgerrechts standen in Griechenland der Bildung von Gemeinschaften, die größer waren als eine Stadt, unüberwindlich im Wege. Den Athenern wäre es nie in den Sinn gekommen, ihr Bürgerrecht den Bewohnern unterworfener Städte zu verleihen und sie so in ihren Herrschaftsraum zu integrieren.

Genau das aber taten die Römer, deren Imperium seine Keimzelle ebenfalls in einem Stadtstaat hatte. […] In wohlberechneter Großzügigkeit verliehen die Römer ihr Bürgerrecht den Eliten der von ihnen unterworfenen Landstriche. Sie schufen sich so loyale Sachwalter, erst in den Kommunen Italiens, später in den Provinzen rund ums Mittelmeer. Ein Pro­blem damit, dass die Neurömer zugleich das Bürgerrecht ihrer Heimatstadt führten, hatten die Römer nicht. […]

Die Entflechtung von Bürgerrecht und Stadtstaat war aber nicht ohne Preis zu haben. Die durch den Bürgerstatus verbrieften Partizipationsrechte wurden Stück für Stück der territorial wie personell immer größer werdenden Bürgergemeinde geopfert. Die war zwar eine formidable Militärmaschine, taugte aber zur politischen Meinungsbildung schon deshalb nicht, weil dem unüberwindliche Distanzen entgegenstanden.

Dass die römischen Bürger aus den Städten Italiens zur römischen Volksversammlung strömten, war spätestens in dem Moment utopisch geworden, als die Römer per Gesetz der ganzen Halbinsel ihr Bürgerrecht förmlich überstülpten, nachdem ein Großteil ihrer italischen Alliierten 91 vor Christus den Aufstand gegen Rom geprobt hatte. Seitdem war der Bürgerstatus von der politischen Teilhabe abgekoppelt, gegenüber seinem griechischen Pendent war das Bürgerrecht der Römer nur mehr ein Bürgerrecht "light".

Das tat aber den Begehrlichkeiten, die es weckte, keinen Abbruch. Auch ohne Eintrittskarte in die politische Teilhabe zu sein, garantierte es Rechte und Vorzugsbehandlungen. Nicht umsonst stellt Cicero fest, dass der Satz "civis Romanus sum" überall im Reich wie eine Zauberformel wirke. Er garantiere dem, der ihn äußert, Respekt und Rechtssicherheit. […]

In einer Welt, die in strengen Hierarchien dachte und in der Ehre und Prestige viel Gewicht hatten, barg der Bürgerstatus immenses soziales Kapital. An den Rändern der römischen Welt, wo es kaum römische Bürger gab, war Bürgersein gleichbedeutend mit der Zugehörigkeit zur lokalen Elite. Wer Römer war, der hatte es geschafft. […]

Im Rom Ciceros und Trajans war Bürgerrecht gleichbedeutend mit dem Versprechen auf sozialen Aufstieg. Es war deshalb untrennbar Teil der römischen Erfolgsgeschichte. Wenn die Römer ein Reich, das vom Firth of Forth bis zu den Katarakten des Nils reichte, nicht nur erobern, sondern auch Jahrhunderte halten konnten, dann verdankten sie das mindestens so sehr dem Bürgerrecht wie ihren Legionen. Schließlich garantierte die Aussicht darauf das Wohlverhalten von Bevölkerungen mit völlig verschiedenen kulturellen Prägungen. […]

Man sollte meinen, die Römer hätten zäh an diesem Erfolgsmodell festgehalten. Lange taten sie das auch, doch 212 nach Christus gewährte Kaiser Caracalla per kaiserliches Dekret allen freien Reichsbewohnern das römische Bürgerrecht. Die Motive für diesen Schritt liegen ebenso im Dunkeln, wie die Folgen umstritten sind. Klar ist nur, dass das Bürgerrecht mit einem Schlag seine Funktion als Katalysator der Integration einbüßte. Wie jede Ressource, die plötzlich im Übermaß verfügbar ist, verlor die "civitas Romana" jeden Wert. […] Anreize zu loyalem Verhalten bot das Bürgerrecht nicht mehr. Die Loyalität der Reichsbewohner blieb dem Imperium zwar noch für ein paar Jahrhunderte erhalten. Doch sie musste immer mehr mit Gewalt erzwungen werden.

Michael Sommer, "Die Zauberformel für Rechtssicherheit", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. August 2016.

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Mittelalterliche Stadtrepubliken


So verhielt es sich in Mittelalter und früher Neuzeit auch in den Stadtrepubliken Italiens, die an die römische Tradition anknüpften. In Oberitalien hatte sich bis zum Ende des 12. Jahrhunderts eine Reihe von Städten – darunter Arezzo, Florenz, Genua, Mailand, Padua, Pisa und Siena – eine Eigenständigkeit im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und gegenüber den Machtansprüchen des Papstes gesichert.

Während diese Städte nach außen Autonomie besaßen und diese auch gegen Übergriffe zu sichern suchten, beruhten sie im Innern auf Selbstregierung. Selbstregierung hieß nun nicht, dass, wie in Athen, alle Bürger die Gesetze beschlossen, sie ausführten und über ihre Einhaltung wachten. Es etablierte sich vielmehr ein politisches System, in dem Räte, bestehend aus den angesehensten Bürgern und Amtsträgern, die vollziehende und rechtsprechende Gewalt ausübten, wohingegen die einfachen Bürger lediglich über Wahl- und Zustimmungsrechte verfügten.

In gleicher Weise wurden auch die freien Land- und Reichsstädte Deutschlands, die Niederlande, Brabant und Flandern sowie die Schweizer Eidgenossenschaft und ihre Kantone regiert. Innerhalb der Stadt galt die Freiheit der Person, Bürger waren gegen willkürliche Verhaftung geschützt. Stadtbürger konnten über ihren Besitz verfügen. Die Stadtregierung aus nur wenigen Bürgern war dazu verpflichtet, das Gemeinwohl zu fördern und im Konsens mit allen Bürgern zu regieren, "der Stadt ewigen Frieden und reine Gerechtigkeit zu bewahren", wie es beispielsweise die Verfassung von Siena 1309 formulierte.

Das republikanische Denken überdauerte die Konflikte und den Niedergang der italienischen Stadtrepubliken, der im 15. Jahrhundert einsetzte. Es erhielt sich die Überzeugung, dass eine gerechte und gute politische Ordnung der Tugend der Regierenden, des Konsenses der Bürger und der Achtung des Gemeinwohls bedarf, um auf Dauer friedlich und stabil zu bleiben.

Diese Tradition des sogenannten bürgerschaftlichen Republikanismus, die sich auch in der englischen und schottischen Tradition seit dem 17. Jahrhundert findet, blieb für das demokratische Denken der nachfolgenden Jahrhunderte und für die Begründung der modernen Demokratie nachhaltig wirksam. Sie stellt auch heute noch für die wieder auflebende Idee der Bürgergesellschaft einen bedeutenden historischen Bezugspunkt dar.

QuellentextFür Freiheit und Parteikämpfe

Der aus Florenz stammende Philosoph und Geschichtsschreiber Niccolò Machiavelli (1469–1527) stellt in seinen Schriften Aspekte der praktischen Politik in den Mittelpunkt. Seine Hauptwerke sind Il Principe (Der Fürst) und Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (Abhandlungen über die ersten zehn Bücher des Titus Livius).

[...] Ich behaupte, daß diejenigen, die die Kämpfe zwischen Adel und Volk verdammen, auch die Ursachen verurteilen, die in erster Linie zur Erhaltung der Freiheit Roms führten. Wer mehr auf den Lärm und das Geschrei solcher Parteikämpfe sieht als auf deren gute Wirkungen, der bedenkt nicht, daß in jedem Gemeinwesen das Sinnen und Trachten des Volks und der Großen verschieden ist und daß alle zu Gunsten der Freiheit entstandenen Gesetze nur diesen Auseinandersetzungen zu danken sind.

[…] Ebensowenig kann man mit einigem Grund den Staat als desorganisiert bezeichnen, wenn er so viele Beispiele hervorragender Tüchtigkeit aufzuweisen hat; denn gute Beispiele entstehen durch gute Erziehung, gute Erziehung durch gute Gesetze und gute Gesetze durch Parteikämpfe, die viele unüberlegt verurteilen. Wer deren Ausgang genau untersucht, wird finden, daß sie nie eine Verbannung oder eine Gewalttat zum Schaden des öffentlichen Wohls zur Folge hatten, wohl aber Gesetze und Einrichtungen zum Besten der allgemeinen Freiheit. [...]

Ich behaupte, daß jeder Staat die ihm eigenen Mittel und Wege haben muß, dem Ehrgeiz des Volks Luft zu machen, besonders aber die Staaten, die sich bei wichtigen Dingen des Volks bedienen wollen. So war es in Rom üblich, daß das Volk, wenn es ein Gesetz durchsetzen wollte, entweder die oben genannten Mittel anwandte oder den Kriegsdienst verweigerte, so daß man es zur Besänftigung wenigstens teilweise zufriedenstellen mußte.

Auch sind die Forderungen der freien Völker selten für die Freiheit schädlich; denn diese sind entweder eine Folge der Unterdrückung oder eine Folge der Furcht vor Unterdrückung. Ist dieser Verdacht unbegründet, so gibt es in den Volksversammlungen ein Mittel dagegen, das darin besteht, daß ein ehrlicher Mann aufsteht und das Volk über seinen Irrtum aufklärt. Die Völker sind zwar unwissend, wie Cicero sagt, aber doch für die Wahrheit empfänglich, und leicht geben sie nach, wenn ihnen von einem glaubwürdigen Mann die Wahrheit gesagt wird. [...]

Wer einem Staatswesen eine Verfassung zu geben hat, tut immer klug daran, Vorsorge für den Schutz der Freiheit zu treffen. Dies ist eine der notwendigsten Einrichtungen; von dieser hängt es ab, ob die bürgerliche Freiheit von längerer oder kürzerer Dauer ist. [...]

Niccolò Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Deutsche Gesamtausgabe, übersetzt, eingeleitet und erläutert von Dr. Rudolf Zorn, 2., verbesserte Auflage, Stuttgart 1977, S. 274-275, in: Maria Kreiner, "Demokratie als Idee. Eine Einführung", utb GmbH Stuttgart 2013, S. 122–124

Prof. Dr. Hans Vorländer, geb. 1954, hat seit 1993 den Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden inne. Er ist dortselbst Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung.
Seine Forschungsschwerpunkte sind: Politisches Denken und Vergleichende Politikforschung, Politische Theorie und Ideengeschichte, Konstitutionalismus und Verfassung, Demokratie, Liberalismus und Populismus.