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Schmelztiegel oder Mosaik? Israelische Gesellschaft | Israel | bpb.de

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Schmelztiegel oder Mosaik? Israelische Gesellschaft

Gisela Dachs

/ 14 Minuten zu lesen

Passanten bevölkern die moderne Innenstadt Jerusalems im Mai 2017. (© Reuters)

Gesellschaftliche Visionen, Werte und Ideale

Schon Jahrzehnte vor der Schoah hielt der Visionär des Staates, Theodor Herzl, die Normalisierung jüdischer Existenz für unumgänglich. Israel sollte auf Verfolgung und Minderheitendasein in aller Welt eine Antwort sein. Als Herzl Ende des 19. Jahrhunderts sein berühmtes Buch "Der Judenstaat" verfasste, schwebte ihm ein Modell vor, das ein Gegenentwurf sowohl zur assimilierten Lebensweise der westeuropäischen Juden als auch zur stark von der Religion geprägten, traditionellen Lebensform der osteuropäischen Juden sein sollte. Zu den Grundprinzipen dieses neuen – israelischen – Kollektivs gehörte die Abkehr von einer von Verfolgung geprägten Diaspora-Vergangenheit.

Integrationserfolge
Konzipiert als sicherer Hafen und Sehnsuchtsort für Juden und ihre Nachkommen aus aller Welt war der Staat Israel von Anbeginn herausgefordert, Menschen aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern aufzunehmen und zu integrieren. In vielfacher Hinsicht ist das auch auf erstaunliche Weise gelungen. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung – zwischen Mai 1948 und Ende 1951 – zog es fast 700.000 Juden nach Israel. Das waren mehr Menschen, als die gesamte jüdische Bevölkerung am 14. Mai 1948 gezählt hatte. Ende 1968 waren es bereits 2.841.000. Knapp neun Millionen werden es 2018 sein. Doch hat der vielbeschworene Schmelztiegel in Wirklichkeit nie existiert.

Zu den verschiedenen Immigrantenwelten kommen heute noch andere Gesellschaftsgefüge hinzu. Vielfältige Bruchlinien verlaufen zwischen säkularen, religiösen und ultraorthodoxen Israelis, zwischen Linken und Rechten, Armen und Reichen, Zentrum und Peripherie, Alteingesessenen und Neuankömmlingen. Schließlich gibt es noch die Kluft zwischen der jüdischen Mehrheit und einer nicht-jüdischen Minderheit: Zu den angestammten arabischen Israelis kommen neuerdings auch Arbeitsmigranten aus Asien und Flüchtlinge aus Afrika hinzu.

Es scheint deshalb angebrachter, von einer Mosaikgesellschaft zu reden, deren sozialer Zusammenhalt permanent herausgefordert wird. Spannungen gibt es heute verstärkt auch zwischen liberalen Israelis, die sich für einen demokratischeren Staat einsetzen, und jenen, die sich mit den jüngsten, in eine andere Richtung weisenden Entwicklungen zufriedengeben. Es herrscht letztlich kein Konsens darüber, was Zionismus bedeutet oder in seinem Namen erlaubt oder erforderlich wäre. Nirgendwo sonst mag es so viele Staatsbürgerinnen und Staatsbürger geben, die sich permanent über die Verhältnisse in ihrem Land aufregen und engagiert darüber streiten, wie die Dinge anders laufen könnten oder sollten.

Politisches Engagement
Dabei zeigt sich generell ein hoher Grad an aktiver Beteiligung, die zugleich Zugehörigkeit signalisiert. Sie gilt einem nationalen Projekt, das immer noch ein Unterfangen "in der Mache" ist, ein ongoing project, das sich durch viel Dynamik auszeichnet. Nach dem jüngsten Economist Intelligence Unit’s Annual Democracy Index, der 167 Länder untersucht, die als moderne Demokratien gelten, rangiert Israel insgesamt nur an 30. Stelle, allerdings gehört es zu den vier Top-Ländern (neben Norwegen, Island und Neuseeland), wenn es um "politische Partizipation" geht. Das schließt Faktoren wie Wahlbeteiligung mit ein, ebenso wie die Teilnahme und Repräsentation von Frauen und Minderheiten, öffentliches Politikengagement, Demonstrationsfreiheit undLesekompetenz von Erwachsenen.

Ideale der Pionierzeit
Kollektive Werte werden in Israel immer noch großgeschrieben. Es brauchte Jahrzehnte, bis die verschiedenen Einwandererkulturen mit ihren Traditionen Platz im nationalen Narrativ bekamen, das der israelischen Gesellschaft gemeinschaftsstärkenden Sinn und Orientierung vermitteln wollte. Erst in den 1990er-Jahren begann man damit, sich den eigenen Familiengeschichten in der Diaspora zuzuwenden, für die bis dahin nur spärlich Platz in der Öffentlichkeit war. Im Rahmen des Unterrichts beschäftigen sich Schülerinnen und Schüler seither ein gesamtes Jahr lang mit ihrer Herkunft. Sie befragen die Großeltern und Urgroßeltern nach ihren Kindheitserfahrungen – wo immer sie herkommen.

Die zionistischen Pioniere vor der Staatsgründung stammten vor allem aus Russland und Osteuropa; sie und ihre Familien bilden bis heute eine Art israelische "Aristokratie". Plakate, die damals im Jischuv gedruckt wurden, zeigen einen jungen Mann und eine junge Frau mit blonden Haaren und slawischen Gesichtszügen, in Arbeitskluft und mit geschulterter Hacke. Die im Land geborenen Nachkommen der jüdischen Einwanderer hatten sogar eine Kollektivbezeichnung, die bis heute aktuell ist: Zabar (oder Sabre) wurden sie genannt, das ist das hebräische Wort für "Kaktusfeige". Diese Frucht, die in fast allen Ländern rund ums Mittelmeer angebaut wird, ist außen stachelig, ihr Inneres aber süß und einzigartig. So entstand eine ganz neue jüdische Gemeinschaft mit auf den Kopf gestellten Normen. Ganz oben in der sozialen Hierarchie standen fortan die Bauern und Soldaten.

Einwanderung als kulturelle Herausforderung

Wer diesen Pionieren dann ins Gelobte Land nachfolgte, also zunächst vor allem Flüchtlinge und Überlebende der Schoah aus Mittel und Osteuropa, tat sich nicht immer leicht mit diesem Sabre-Ideal, das weit entfernt war von der Prägung der jüdischen Gemeinden Osteuropas. Der 2017 verstorbene Schriftsteller Aharon Appelfeld, der aus dem damals rumänischen Czernowitz stammte, kritisierte diese Darstellung des typischen Israeli, "der so stolz auf seine Biografie ist, weil er hier bereits in den Kindergarten und die Schule gegangen ist und anschließend in der Armee gedient hat". Denn das sei nicht die richtige "Soziologie". Sie laute vielmehr so: "Die Eltern kommen aus Polen, all die Jahre nach ihrer Ankunft hatten sie es schwer, mit der Sprache, mit dem Leben. Sie wussten nicht, wie sie ihre Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden sollten, das haben sie ihren Kindern weitergegeben. Ich als Einwanderer bin also – wie jeder Zweite hier – der klassische Israeli."

QuellentextIntegrationshilfen für Einwanderer

Statistik:

Israel ist das Einwanderungsland schlechthin. Seit der Staatsgründung 1948 sind über drei Millionen Menschen immigriert. Das heißt: 40 Prozent der Bevölkerung sind nicht im Land geboren. [...] Gesetzliche Grundlage:
Nach dem Rückkehrgesetz von 1950 hat jeder Angehörige des jüdischen Volkes das Recht auf Einwanderung und Staatsbürgerschaft. Nicht-Juden können dagegen in der Regel nicht einwandern, und auch politisches Asyl gewährt Israel äußerst selten. [...]

Einreise:
Die Frage, wer einwandern darf, klären schon im Herkunftsland Organisationen wie die Jewish Agency und Nefesh B’Nefesh. Bei der Ankunft auf dem Flughafen Ben Gurion geht es dann ganz schnell: Innerhalb einer halben Stunde sind die Olim (Aufsteiger), wie es auf Hebräisch heißt, mit Identitätsnummer, Personalausweis, Krankenversicherung und einer Sim-Karte für das Handy ausgestattet.

Wohnen:
Die Einwanderer haben die Wahl zwischen speziellen Übergangszentren, in denen sie für bis zu zwei Jahre fast kostenlos wohnen können, und der freien Wohnungssuche. Die Übergangszentren befinden sich vor allem im dünner besiedelten Norden und Süden des Landes. Hier erhalten Olim Hilfen aus einer Hand: Hebräischkurse, Jobtraining, außerschulische Aktivitäten für Kinder, die ihnen beim Einleben helfen sollen.

Unterstützung:
Innerhalb von 48 Stunden nach seiner Ankunft meldet sich ein persönlicher Berater bei dem Neuankömmling und macht einen ersten Termin aus. Er eröffnet ein Bankkonto und erstellt mit dem Berater einen individuellen Integrationsplan für sich sowie seine Familie. Auch gibt es finanzielle staatliche Hilfen, die auf die Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnitten sind.

Spracherwerb:
Die meisten Einwanderer kommen ohne Hebräischkenntnisse. Der Besuch eines der zahlreichen Ulpanim (Sprachstudios) ist kostenlos. Im Angebot sind Intensivkurse (fünf Stunden täglich an fünf Tagen der Woche) oder Abendkurse. Nach 500 Unterrichtsstunden soll sich der Einwanderer im Alltag zurechtfinden können. Die Kurse sind auf eine Dauer von fünf oder zehn Monaten angelegt.

Arbeit:
Innerhalb von drei Monaten soll der Berater mit dem Einwanderer einen Plan für seine Erwerbstätigkeit erstellen. Studien zeigen, dass die Integration am besten gelingt, wenn die neuen Israelis mit ihrem Job zufrieden sind. Wissenschaftler, Ärzte und Ingenieure, die in den letzten Jahrzehnten in großer Zahl einwanderten, wollen in ihren erlernten Fachgebieten tätig sein. Bei ihnen geht es um die schnelle Anerkennung der Ausbildung und das Erlernen des jeweiligen Fachhebräischs. Der Staat bietet Bewerbungstrainings an und hat verschiedene Programme aufgelegt, die Arbeitgebern Lohnzuschüsse gewähren, wenn sie Olim einstellen.

Gesellschaftlich-kulturelle Integration:
Um ein Zugehörigkeitsgefühl zur neuen Heimat zu schaffen, verfolgt das Integrationsministerium verschiedene Ansätze, um den Einwanderern kulturelle Traditionen und Werte zu vermitteln. Sei es in den Sprachkursen, über Theater und Konzerte oder Sozialarbeit mit Jugendlichen.

Ulla Thiede, "Nach der Entscheidung geht alles ganz schnell", in: General-Anzeiger Bonn vom 26./27. März 2016

Juden aus arabischen Ländern
Das Ankommen war fast nie einfach. Nach 1948 traf die erste große Einwandererwelle aus islamischen Ländern ein. Es handelte sich um Juden aus Nordafrika und dem Nahen Osten, deren arabische Muttersprache fortan mit dem Feind assoziiert war. Manche werfen es der europäisch geprägten Gründergeneration bis heute vor, damals vornehmlich in abgelegenen Entwicklungsstädten angesiedelt worden zu sein, was eine fortdauernde strukturelle Benachteiligung nach sich gezogen habe.

Die Distanz zu dem Sabre-Ideal war bei diesen sogenannten Misrachim, die zum Großteil – nicht selten als Vertriebene – und zur gleichen Zeit wie die europäischen Überlebende der Schoah nach Israel strömten, sogar noch größer. Denn sie entsprachen diesem Ideal weder in ihrem Äußeren, noch waren sie mit den in Europa gängigen revolutionären Ideen in Berührung gekommen. Da es in ihren Herkunftsländern keine Säkularisierungsbewegungen gegeben hatte und Religion für sie mehr Familientradition als strenge Frömmigkeit bedeutete, war ihnen auch der atheistische Eifer der Gründergeneration fremd. Dieser Unterschied gilt bis heute: Während für die meisten europäischstämmigen Israelis – die sogenannten Aschkenasim – die Begriffe "säkular" und "religiös" ein klares Gegensatzpaar darstellen, verläuft die Trennlinie bei den orientalischen Juden längst nicht so scharf.

Den Journalisten und ehemaligen Knessetabgeordneten Daniel Ben Simon, der als Jugendlicher mit seinen Eltern Ende der 1960er-Jahre aus Marokko eingewandert war, überraschte damals diese Kategorisierung. Für ihn war es unproblematisch, manchmal religiös zu sein, etwa an Feiertagen, und manchmal nicht, im Anschluss an ein koscheres Sabbatmahl am Freitagabend – samt Kerzenanzünden und Kiddusch – einen guten Fernsehspielfilm anzuschauen oder am Sabbat zu einem Fußballspiel zu fahren.
Zwar sind heute für viele Israelis der jüngeren Generation, die oft selbst aus einem aschkenasisch-misrachisch "gemischten" Elternhaus stammen, solche Fragen längst nicht mehr so wichtig. Aber einen orientalischstämmigen Premierminister hat Israel dennoch bisher nicht hervorgebracht.

Äthiopische Juden
Als Mitte der 1980er-Jahre in Äthiopien eine Hungersnot ausbrach, machten sich tausende Juden auf einen 600 Kilometer langen Fußmarsch durch die Wüste und flohen in den Sudan. Dort durften Maschinen der israelischen Fluggesellschaft El Al nachts heimlich landen und die Flüchtlinge nach Israel bringen, bis die Aktion an die Medien drang und andere arabische Staaten den Sudan, der seit 1956 Mitglied der Arabischen Liga ist, zwangen, die Flüge zu stoppen. Rund 8000 Menschen wurden in dieser "Operation Moses" ausgeflogen. 1991 folgten in der "Operation Salomo" weitere rund 14.000 äthiopische Juden.

Erst 1975 wurden sie allerdings vom Obersten Rabbinat als Juden anerkannt. Ein weitverbreitetes Gefühl, auch wegen ihrer dunklen Hautfarbe nicht richtig dazuzugehören, verstärkte sich durch einen Vorfall in den 1990er-Jahren. Damals flog auf, dass Mitarbeiter des Rettungsdienstes "Roter Davidstern" Blutspenden von Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe aus Angst, sie könnten mit HIV infiziert sein, ungetestet weggeschüttet hatten. Rassismusvorwürfe wurden auch 2013 laut, nachdem Medien berichtet hatten, dass Helfer im Gesundheitsdienst äthiopischen Frauen ohne deren Wissen Mittel zur Geburtenkontrolle verabreicht hatten.

Juden aus der Sowjetunion
Nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 immigrierten aus der ehemaligen Sowjetunion mehr als eine Million Menschen nach Israel. Anders als frühere Ankömmlinge waren und sind sie stolz auf ihr kulturelles Gepäck, was sich unter anderem in der Existenz einer großen Zahl an russischsprachigen Zeitungen, Internetseiten und Buchhandlungen niederschlägt. Trotz guter Ausbildung konnten aber längst nicht alle mit ihren alten Berufen in der neuen Heimat Fuß fassen. Diplome wurden entweder nicht anerkannt oder es gab für ihre Expertisen keine Verwendung. Diese Einwanderer, oder vielmehr ihre Kinder, sind heute stark vertreten im Gesundheitswesen, in der Hightechindustrie und als Sicherheitspersonal.

Da bei ihrer Ankunft das Hebräische längst als Muttersprache etabliert war, hatte – im Gegensatz zu früher – kaum jemand etwas dagegen, dass sie an ihrer eigenen Kultur festhielten. Viele Eltern, die selber schon als Kinder nach Israel kamen, erziehen heute ihren Nachwuchs bewusst zweisprachig – und finden dafür auch breite Unterstützung. Der Weg in die israelische Elite wird dennoch immer noch als äußerst schwierig empfunden. So wurde es vielfach als ein "Durchbrechen der Glasdecke" gewertet, als der aus der ehemaligen Sowjetunion stammende Politiker Avigdor Lieberman 2016 zum Verteidigungsminister ernannt wurde.

Französische Juden
Die allerjüngste Einwandererwelle bilden Juden aus Frankreich. Das macht sich besonders in Tel Aviv in der Zusammensetzung der Schulklassen bemerkbar, den Patisserien und den auf ein französisches Publikum ausgerichteten Kulturprogrammen. Alles deutet darauf hin, dass eine französische Mittelklasse im Begriff ist, sich zu etablieren. Die weniger Wohlhabenden hatte es schon zuvor besonders in die kleineren Küstenstädte Netanja und Aschdod gezogen.

Insgesamt leben in Israel mittlerweile 75.000 französische Juden. Als ein Wendepunkt gilt der Anschlag im März 2012 auf eine jüdische Schule in Toulouse, bei dem ein Lehrer und drei Kinder von einem Islamisten ermordet wurden. Damals ärgerten sich viele Juden in Frankreich, dass Medien und Regierung diesen Vorfall als Einzeltat betrachteten, während sie selbst ein ideologisches Muster sahen. Im kollektiven Gedächtnis eingegraben ist auch der grausame Mord an Ilan Halimi, der 2006 in dem Pariser Vorort Bagneux entführt und drei Wochen lang gefoltert worden war. Die Richter waren sich einig, dass die Täter – die alle aus dem afrikanisch-muslimischen Immigrantenmilieu stammten – aus antisemitischen Motiven gehandelt hatten. Doch gerade einmal tausend Menschen gingen damals in Paris aus Protest auf die Straße. Das Gefühl, als Juden in Frankreich nicht mehr dazuzugehören, sagen viele, habe seither nur noch zugenommen.

Und waren es bis vor wenigen Jahren vor allem die älteren Jahrgänge, die nach der Pensionierung mit einer sicheren Rente den Umzug ans Mittelmeer vollzogen, so steigt nun der Anteil der Jungen. Viele religiöse oder traditionell eingestellte Paare versuchen, sich in Israel ein neues Leben aufzubauen. Sie wollen es ihren Kindern ermöglichen, Teil der Mehrheitsgesellschaft zu sein und in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen, ohne sich dabei nach den Risiken fragen zu müssen.
Einmal in Israel angekommen, zieht es dann aber so manchen Familienvater aus pragmatischen Gründen – zur Arbeitswoche – wieder nach Frankreich. Low cost-Flüge machen ein solches Pendeln möglich. Andere Neueinwanderer sind in einem der 80 internationalen Call-Center beschäftigt, die es ihnen erlauben, auf Französisch Kunden in aller Welt zu beraten. Sie mögen sich kulturell oft fremd vorkommen, fühlen sich aber als Juden der Mehrheitsgesellschaft zugehörig.

Einwanderung in den Staat Israel nach Herkunft (© www.jewishvirtuallibrary.org/total-immigration-to-israel-by-continent-per-year; cbs (Central Bureau of Statistics) für 2015 und 2016)

Arabische Minderheit

Das israelische Kollektiv ist aber nicht nur jüdisch. Unmittelbar nach der Staatsgründung wurden etwa 100.000 im Land verbliebene palästinensische Araber eingebürgert. Heute gehört etwa jeder fünfte Israeli dieser nationalen Minderheit an. In religiöser Hinsicht ist sie jedoch keineswegs homogen: Mehr als 80 Prozent sind Muslime, neun Prozent Christen und acht Prozent Drusen. Mit den Jahren hat sich die sprachliche Selbstbezeichnung, die viel über das sich wandelnde Selbstverständnis aussagt, immer wieder geändert. Sie seien Palästinenser mit israelischem Pass, sagen heute viele über sich selbst. Politisch und rechtlich sehen sie sich als Staatsangehörige Israels, national und kulturell als Palästinenser. Das ist alles andere als eine einfache Identität in einem jüdischen Staat, mit Symbolen wie dem Davidstern auf der Flagge oder einer Nationalhymne, die von der Rückkehr nach Zion schwärmt.

Die arabische Bevölkerungsgruppe befindet sich heute zunehmend in einem Spannungsfeld zwischen Israelisierung und Islamisierung. Der Umgang mit dieser Minderheit, deren Interessen von einem arabischen Parteienbündnis in der Knesset vertreten werden, gehört weiterhin zu den großen Herausforderungen der israelischen Demokratie. Strukturelle Benachteiligung lautet der Vorwurf auf arabischer Seite, während die jüdische Mehrheit der arabischen Minderheit im Zweifelsfall gerne als "fünfte Kolonne" der feindlichen Nachbarstaaten misstraut. Hanin Zuabi, seit 2009 als Mitglied der Balad-Partei Abgeordnete der Knesset, wurde als Staatsfeindin beschimpft, weil sie sich 2010 mit auf dem türkischen Schiff "Mavi Mamara" befand, um die Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. Versuche, ihre politische Karriere zu beenden, scheiterten aber am Veto des Obersten Gerichtshofs. Zuletzt erregten arabische Parlamentarier Unmut, weil sie Beileidsbesuche bei palästinensischen Familien im Westjordanland abgestattet hatten, deren Angehörige bei (von ihnen) verübten Messerattacken auf Israelis getötet worden waren.

Die Wählerschaft gilt aber in vielerlei Hinsicht als moderater als ihre politischen Vertreter. Widersprüche prägen demnach das jüdisch-arabische Verhältnis. In allen Umfragen hat sich die arabische Minderheit mehrheitlich stets gegen die Option ausgesprochen, in einen potenziellen Palästinenserstaat umzusiedeln. Und das nicht nur, weil viele von ihnen auf ihrem Recht beharren, in ihrer Heimat zu bleiben. Denn die meisten wissen die Vorteile der – wenn auch für sie eingeengten – israelischen Demokratie zu schätzen. So war es möglich, dass ein arabischer Vorsitzender Richter 2011 den früheren Staatspräsidenten Moshe Katzav wegen Vergewaltigung ins Gefängnis schickte – und niemand diesen Umstand auch nur für erwähnenswert hielt.

Unterschiede im Lebensgefühl

Nach dem 2017 vom Jerusalemer Jewish People Policy Institute veröffentlichten "Pluralismus-Index" sind mehr als 90 Prozent der Juden und knapp 80 Prozent der Araber mit sich und ihrem Leben in Israel "zufrieden" oder "sehr zufrieden". Wenn es um die Einschätzung der individuellen Zukunftsmöglichkeiten geht, haben die arabischen Jugendlichen ihre jüdischen Altersgenossen sogar überrundet. Nach einer Jugendstudie, die im selben Jahr von MACRO Center for Political Economics und der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht wurde, gaben mehr als je zuvor, nämlich 74 Prozent der arabischen Jugendlichen an, in dieser Hinsicht optimistisch zu sein, während dies nur 56 Prozent der jüdischen Jugendlichen von sich sagten (so niedrig wie nie zuvor). Noch nie war die junge jüdische Generation so pessimistisch eingestellt.

Die Jugendstudie erklärt diese Haltung vor allem mit der vielfach ernüchternden Erfahrung, nach Armeepflicht und teurem Studium keinen angemessenen Job zu finden. Für die arabische Jugend wiederum habe sich das Bildungsniveau verbessert, was mehr Entfaltungsmöglichkeiten als früher bedeute. Zudem biete eine zunehmend offenere Welt, ermöglicht durch die sozialen Netzwerke im Internet, mehr Einblicke in die Realität der arabischen Nachbarländer, die Israel im Vergleich sowohl politisch wie wirtschaftlich besser abschneiden lassen – auch wenn sich nur 24,4 Prozent der arabischen jungen Männer und 13,3 Prozent der jungen Frauen der israelischen Gesellschaft zugehörig fühlen. Und während bei den jungen Juden in Israel an oberster Stelle die Sorge über steigende Lebenskosten (67,4 %) und damit verbundene gesellschaftliche Gräben steht, ist es bei den jungen israelischen Arabern das Verhältnis zur jüdischen Bevölkerung (47,3 %).
Die Studie erforschte die "Seelenlage" von 1260 Jugendlichen aus allen Sektoren im Alter von 15–18 und 21–24 Jahren. Dabei wurde jeweils zwischen vier Gruppen unterschieden: Säkularen, Ultraorthodoxen, National-Religiösen und Arabern.

Prägungen durch Bildung und Militärdienst

Diese Kategorisierung entspricht auch der Unterteilung des Bildungssystems. Die Grund- und Sekundarstufe sind in vier separate Schulsysteme unterteilt: das säkular-jüdische (definiert als hebräischsprachige staatliche Schulen), das religiös-jüdische (staatlich-religiöse Schulen), das ultraorthodox-jüdische bzw. charedische und das arabische (definiert als arabischsprachige Schulen). Die Schulwahl erlaubt es den verschiedenen Gemeinschaften und sozialen Gruppen, die eigene Identität zu bewahren, hat aber auch zur Folge, dass die überwiegende Mehrheit der jungen Israelis kaum oder gar keinen Kontakt zu anderen ethnischen oder religiösen Gruppen hat.

Zusammen mit 29 anderen Staaten nahm Israel 1999/2000 an einer Studie der IEA (International Association for the Evaluation of Educational Achievement) zur politischen Bildung 14- bis 19-Jähriger teil, die das Wissen und die Haltung von Schülerinnen und Schülern in der elften Klasse unter anderem zu Themen wie Bürgerkunde, Demokratie und nationale Identität prüfte. Es überrascht nicht, dass dabei deutliche Unterschiede zwischen den Standpunkten von Juden und Arabern zu Themen wie Stolz über israelische Errungenschaften, Geschichte, nationale Symbole, Rechte jüdischer Einwanderer und legitimer Einsatz militärischer Gewalt zutage traten.
Erst in den Hörsälen und Seminarräumen der Universitäten findet dann ein gemeinsamer Unterricht statt. Die Zahl der arabischen B.A.-Studenten ist in den vergangenen sieben Jahren um 60 Prozent angestiegen. Weit mehr als die Hälfte (66 Prozent in 2015) sind Frauen.

QuellentextLehren vor grünen Wänden

[...] [M]it rund 47.000 Studenten ist die Open University die größte Hochschule des Landes. Ob Rentner oder Teenager, Hausfrau oder Hilfsarbeiter, jeder kann sich hier an einem Bachelorstudium versuchen, man braucht nur einen Computer mit Internetzugang, Hebräischkenntnisse und die finanziellen Mittel, rund 500 Euro für ein Seminar zu bezahlen, was im israelischen Vergleich nicht teuer ist. […]

[D]ie Dozenten stehen [...] nicht in gefüllten Hörsälen, sondern sitzen in kleinen Aufnahmestudios vor grünen Wänden und sprechen in Kameras.
[…] In Israel erfüllt die Universität […] eine einzigartige Funktion. Denn so klein das Land auch ist, so tief und zahlreich sind seine gesellschaftlichen Brüche: Sie trennen nicht nur Juden und Araber, sondern auch Säkulare und Religiöse, europäisch- und orientalischstämmige Juden, das reiche Landeszentrum und die arme Peripherie.

Die zwei ärmsten Minderheiten des Landes, Araber und Ultraorthodoxe, haben ihr eigenes Schulsystem: Letztere etwa lernen in ihren religiösen Schulen nur ein Minimum an säkularen Inhalten. Die Hälfte aller ultraorthodoxen Familien lebt in Armut. Die Schulen der arabischen Minderheit wiederum schneiden in Vergleichstests weit schlechter ab als reguläre jüdisch-israelische Schulen. Zudem wird auf Arabisch unterrichtet, weshalb manche jungen Araber später am Hebräisch-Sprachtest scheitern, den traditionelle Universitäten von ihnen verlangen. Manchen bietet die Open University eine zweite Chance.[…]

Derzeit studieren 6600 Araber und knapp 600 Ultraorthodoxe an der Open University. Ihr Anteil an der gesamten Studentenzahl ist zwar gering, steige aber jedes Jahr deutlich, sagt [Moshik] Lavie, [der 41-jährige Dekan der Universität]. Daneben spricht die Universität noch andere Menschen an, die nicht zum klassischen Studentenklientel gehören: Zehn Prozent sind 45 Jahre und älter […]. Rund 1000 Studenten leben nicht einmal in Israel; sie verfolgen die Vorlesungen aus dem Ausland und legen die Prüfungen in israelischen Botschaften ab. Auch Häftlinge studieren an der Hochschule; in manchen Gefängnissen sind es so viele, dass die Universität einmal pro Woche einen Dozenten vorbeischickt. […]

Doch wie die meisten Ideen, die betörend simpel klingen, hat auch diese einen Haken. […] Nur ein Viertel aller Studenten beenden die Open University mit einem Abschluss. […] Denn das System des offenen Lernens, ohne Kontrolle, ohne Druck, auch ohne Mittagspausen in der Mensa, in denen man mit Kommilitonen den Stoff bespricht, verlangt den Studenten ein hohes Maß an Selbstdisziplin und Organisation ab. […] Dazu kommt: Wer sich an der Open University einschreibt, braucht eine gewisse technische Ausstattung – mindestens einen eigenen Computer mit gutem Internetzugang – und das Know-how, damit umzugehen. […]

Mareike Enghusen, "Uni für alle", in: brand eins 01/2017, S. 90 ff.

Die wichtigste Kollektiv-Erfahrung bleibt für die heranwachsenden jüdischen Israelis zweifellos die Armee. Der Pflichtdienst ist das maßgebliche Jugenderlebnis. Dort werden Bande geknüpft, die im Reservedienst weiter gepflegt werden. Wer in der Armee gedient hat, gehört dazu und kann mitreden. In den Medien gehören Berichte über Kriegshelden, Kriegsverletzte und Kriegswitwen zum Standardprogramm. Diese Beschäftigung mit der Armee wird in Israel aber nicht als Ausdruck von Militarismus verstanden, sondern als natürliche Solidarisierung des Volkes "mit den Kindern von uns allen".

QuellentextIsraels Armee in Zahlen und Daten

Die israelische Verteidigungsarmee Zahal (hebr., Abkürzung für Zva Haganah le-Jisrael) wurde am 31. Mai 1948 gegründet. Sie gliedert sich in Heer, Luftwaffe und Marine. Diese sind einem vereinigten Oberkommando unterstellt, dem Generalstab. An seiner Spitze steht der Generalstabschef, der dem Verteidigungsminister verantwortlich ist. Während im Heer sowohl Berufssoldaten als auch Wehrpflichtige dienen, bestehen Luftwaffe und Marine nur aus Berufssoldaten.

Die Truppenstärke der Armee wird von der israelischen Regierung geheim gehalten. Das Institute for National Security Studies in Tel Aviv gibt die Anzahl der aktiven Soldaten mit 176500 an. Davon dienten 133.000 beim Heer, 34.000 bei der Luftwaffe und 9500 bei der Marine. Im Kriegsfall kann zudem innerhalb von 24 Stunden knapp eine halbe Million Reservisten mobilisiert werden. Damit hat Israel weltweit den höchsten Anteil von Soldatinnen und Soldaten an der Bevölkerung.

Männliche Reservisten werden – je nach Dienstgrad – mehrere Wochen im Jahr und bis zu einem maximalen Alter von 45 Jahren eingezogen. Der Reservedienst betrifft auch unverheiratete bzw. kinderlose Frauen bis zum 24. Lebensjahr.

Die allgemeine Wehrpflicht dauert seit 2015 für Männer 32 Monate, für Frauen 28 Monate. Wer wehrpflichtig und -tauglich ist, wird in der Regel mit 18 Jahren eingezogen. Wer allerdings von den Männern zu den Spezialkräften und Eliteeinheiten will, muss wie bisher drei Jahre dienen. Für Soldatinnen der Kampfeinheiten dauert der Dienst ebenfalls drei Jahre. […]
Der Verteidigungshaushalt ist traditionell hoch. [...]
Als offenes Geheimnis gilt, dass Israel über Atomwaffen verfügt. Je nach Quelle sollen sich zwischen 100 und 300 Atomsprengköpfe in israelischem Besitz befinden.

Nicole Alexander, Gabi Gumbel, "Die Armee in Zahlen und Daten", in: Gisela Dachs, israel kurzgefasst, überarb. Aufl. Bonn 2016, S. 125 f.

Rolle der Frauen

Der Status der Frauen ist, wie so vieles in Israel, vielschichtig und widersprüchlich, da er von entgegengesetzten Kräften bestimmt wird. Feminismus und Zionismus, schreibt die ehemalige Knessetabgeordnete und Politologin Einat Wilf in ihrem Aufsatz Feminism in Israel/Anti-Feminism and Anti-Zionism im Magazin Fathom vom Februar 2018, seien beide "Töchter der Aufklärung", entstanden aus einer intellektuellen Revolution, die sich dagegen auflehnte, das menschliche Dasein als unvermeidbaren Teil einer hierarchischen, unveränderbaren, von oben aufoktroyierten Ordnung anzusehen. Ihr Kampf galt den herrschenden Machtstrukturen, errichtet auf der Vorstellung von weiblicher und jüdischer Unterlegenheit.

Tatsächlich zeigen populäre Bilder aus dem jungen sozialistischen Staat Israel wie Frauen und Männer Seite an Seite auf den Feldern des Kibbuz arbeiten; die Soldatinnen in Uniform galten als ein Symbol der Gleichberechtigung. Zugleich entscheidet jedoch bis heute das religiöse Establishment, in dem Männer das Sagen haben, über zivilrechtliche Angelegenheiten. Frauen haben es zwar – seit Golda Meir als Ministerpräsidentin – längst bis an die Spitze des Obersten Gerichtshofs, von Banken und des Außenministeriums gebracht. Allerdings stellen sie nur magere 27 Prozent aller Knessetabgeordneten. Bei der Besetzung von politischen Ämtern schneiden sie noch schlechter ab. Und die weibliche Erwerbsbevölkerung zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Durchschnitt immer noch viel weniger verdient als die männliche, ohne dass dies zu großen Debatten führt.
Dabei stellen Frauen sich allein schon aus rein wirtschaftlichen Gründen gar nicht erst die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Mutterdasein. Beides gehört zur Normalität.

Jüdische Israelinnen weisen die höchste Fertilitätsrate in der OECD auf, was nicht allein auf den religiösen Sektor zurückzuführen ist. Säkulare Familien mit vier Kindern sind keine Ausnahme. Auch hat die gesellschaftliche Akzeptanz von Frauen, die sich allein für Kinder entscheiden, insgesamt zugenommen. So stehen Israelinnen heute mehr Optionen denn je offen in einem Land, das stark von traditionellen Werten geprägt ist. Verglichen mit US-amerikanischen Feministinnen sehen sich viele Israelinnen weit im Hintertreffen, verglichen mit europäischen Geschlechtsgenossinnen mögen sie in mancher Hinsicht sogar einen Vorsprung haben. Ein 1998 verabschiedetes Gesetz zur sexuellen Belästigung gilt als eines der weitreichendsten in der westlichen Welt.

Frauen engagieren sich in politischen Organisationen wie etwa in der Viermütter-Bewegung, die mit zum Abzug der israelischen Armee 2000 aus der sogenannten Sicherheitszone im Libanon geführt hat, und sie haben die Nichtregierungsorganisation Machsom Watch gegründet, die das Verhalten von israelischen Soldaten an Checkpoints im Westjordanland beobachtet. 2014 entstand Women wage peace, das Frauen aus allen ethnischen und politischen Bereichen des Landes miteinander vereint.

Dr. Gisela Dachs ist Publizistin, Sozialwissenschaftlerin und Dozentin am DAAD Center for German Studies und am European Forum der Hebräischen Universität Jerusalem. Sie war zwei Jahrzehnte lang exklusive Israel- Korrespondentin der ZEIT und arbeitet als freie Autorin in Tel Aviv.