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Der Umgang mit der Schoah | Israel | bpb.de

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Der Umgang mit der Schoah

Daniel Mahla

/ 7 Minuten zu lesen

In der Halle der Namen in der Gedenkstätte Yad Vashem erinnern Fotos an jüdischen Frauen, Männer und Kinder, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. (© SZ Photo)

Der Schoah wird in der israelischen Gesellschaft eine zentrale Stellung beigemessen. Kaum eine andere Angelegenheit hat in Israel so emotionale Debatten hervorgerufen, wie die Frage nach dem angemessenen Umgang mit dem Faktum des Mordes an sechs Millionen europäischen Juden. Diese Diskussionen begannen bereits in den 1940er-Jahren im Zuge der Erwägungen über die eigenen Möglichkeiten, den bedrängten Juden Europas Hilfe zu leisten.

Dominanz privaten Gedenkens bis 1951
Auch die erste Begegnung mit den Überlebenden der Schoah stellte die junge israelische Gesellschaft vor große Herausforderungen. Die Juden im Mandatsgebiet Palästina hatten bereits vor dem Krieg das Selbstbild eines neuen Juden propagiert, der als Pionier und Soldat das Land aufzubauen half. Vor diesem Hintergrund fiel die Identifizierung mit den europäischen Juden schwer. Während die heldenhaften Anführer des Warschauer Ghettoaufstandes bewundert wurden, die sich wie der Partisanenführer Abba Kovner formulierte "nicht wie die Schafe zur Schlachtbank" hatten führen lassen, wurde allen anderen vorgeworfen, keinen Widerstand gegen die eigene Vernichtung geleistet zu haben – eine dramatische Fehleinschätzung der Situation der Juden unter der Herrschaft des nationalsozialistischen Regimes.

Wegen der Identifikation der Israelis mit jüdischen Widerstandskämpfern spielte der Warschauer Ghettoaufstand eine wichtige Rolle in der frühen israelischen Gedenkkultur. Wie in anderen Gesellschaften auch, drangen die eigentlichen Dimensionen und die Bedeutung des Völkermordes erst allmählich ins nationale Bewusstsein ein. In den direkten Nachkriegsjahren fand Gedenken noch vor allem auf persönlicher Ebene und im Rahmen kleinerer Initiativen aus dem Kreise der Überlebenden statt. Mit der gesetzlichen Einführung eines offiziellen Gedenktages im Jahre 1951 und dem Aufbau Yad Vashems als öffentlicher Gedenkstätte und Forschungseinrichtung wurde die Erinnerung an den Holocaust dann auf eine staatliche Ebene gehoben.

Einbettung in das nationale Narrativ
Als Teil des nationalen Narrativs erhielt sie nunmehr eine tragende ideologische Bedeutung. Dieses Narrativ, das der israelischen Gesellschaft gemeinschaftsstärkenden Sinn und Orientierung vermitteln wollte, führt von der Vernichtung des jüdischen Volkes in Europa zu seiner Wiederauferstehung im und durch den Staat Israel. Es findet sich auch im nationalen Fest- und Gedenkkalender wieder. Im jüdischen Monat Nissan wird im Angedenken an den Warschauer Ghettoaufstand an die Schoah erinnert. Der Gedenktag (Jom Ha-Shoah) liegt nur wenige Tage nach dem Pessachfest, mit dem der Auszug der Hebräer aus Ägypten gefeiert wird. Sechs Tage später folgt dann der Gedenktag an israelische Gefallene und Opfer von Terrorismus (Jom Ha-Sikaron), der wiederum nahtlos in die Feier der israelischen Unabhängigkeit übergeht (Jom Ha-Atzmaut). Im jährlichen Kalender bewegen sich Israelis also symbolisch vom Auszug aus Ägypten über die Schoah und die Opfer der Kriege hin zu Wehrhaftigkeit und Unabhängigkeit.

Identifikation mit den Opfern
Einen ersten Wandel erfuhr der Umgang mit der Schoah durch den öffentlichen Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der als Vorsitzender des "Judenreferats" im NS-Reichssicherheitshauptamt für die Vertreibung, Deportation und Vernichtung der Juden mitverantwortlich gewesen war. Eichmann wurde 1960 vom israelischen Geheimdienst in Argentinien entführt, wohin er nach Kriegsende geflohen war, und nach Israel gebracht. Dort wurde er angeklagt und am 15. Dezember 1961 zum Tode verurteilt. Durch die ausführliche Aufnahme der Zeugnisse Überlebender und deren Übertragung in Rundfunk und Fernsehen hörte eine breite Öffentlichkeit nun aus erster Hand Augenzeugenberichte der Gräuel aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Dies führte nicht nur in Israel sondern weltweit zu einer stärkeren gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den Schrecken der Schoah.

Einen nächsten Einschnitt bedeutete der Sechstagekrieg vom Juni 1967. Diesem waren einige Wochen angstvollen Abwartens vorausgegangen, in denen vor allem die ägyptische Propaganda die Vernichtung des israelischen Staates beschwor. Die Israelis fühlten sich weitgehend von der Welt alleine gelassen und damit an die dunklen Tage der Schoah erinnert. Vergleiche, etwa des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser mit Adolf Hitler, fanden in der Bevölkerung eine große Resonanz. Durch den schnellen und unerwarteten Sieg der israelischen Armee herrschte nach dem Krieg zwar zunächst eine euphorische Stimmung, doch der Nimbus der Unbesiegbarkeit wurde bereits wenige Jahre später durch die anfänglichen Niederlagen im Jom-Kippur-Krieg von 1973 beschädigt. Das in den Kriegen erlebte Gefühl der Hilflosigkeit und Ängste vor bevorstehender Vernichtung führten zur gesteigerten Identifizierung vieler Israelis mit dem Schicksal der europäischen Juden.

Kontroversen um die Wirkung der Erinnerung an die Schoah

In diesem Zusammenhang fand die Schoah auch als moralisches Argument Eingang in die politischen Debatten Israels. Für Befürworter einer unnachgiebigen Politik gegenüber den arabischen Nachbarn stellte der Genozid eine Mahnung dar, der zufolge Juden nie wieder in eine Position der Schwäche gelangen dürften. Für sie wurden die Feinde Israels zu Nazis und jeglicher Versuch der Friedensschließung wurde zur naiven Appeasement-Politik – in Erinnerung an die erfolglosen Bemühungen des britischen Premierministers Neville Chamberlain in den späten 1930er-Jahren, Hitler-Deutschland zu befrieden. Insbesondere Menachem Begin, der ab 1977 als Ministerpräsident fungierte, den Zweiten Weltkrieg in sowjetischer Gefangenschaft und als Soldat polnischer Streitkräfte verbracht und seine Familie in der Schoah verloren hatte, tat sich durch solche Assoziationen hervor. So setzte er Jassir Arafat mit Hitler gleich und brachte das Gründungsmanifest der PLO mit Hitlers "Mein Kampf" in Verbindung.
Die andere Seite des politischen Spektrums wiederum nutzte Vergleiche mit den Deutschen, um den israelischen Militarismus und die Besatzung der palästinensischen Gebiete als faschistisch zu verurteilen.

In einem Artikel der linksliberalen Zeitung Haaretz kritisierte der Wissenschaftler und Schoah-Überlebende Jehuda Elkana 1988 die nationalistische Auslegung der Schoah in Israel, die sich seiner Ansicht nach in fataler Weise auf das Verhalten israelischer Soldaten während der palästinensischen Intifada auswirkte. Im Umgang mit dem Aufstand der Bevölkerung in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten seien sie von einer profunden Existenzangst getrieben worden. Daher plädierte Elkana dafür, dem Gedenken an die Schoah weniger Platz einzuräumen.
Eingang fand solche Kritik in den Umgang mit dem Völkermord in der Erziehung und vor allem in israelischen Schulbüchern. Bis zum Ende der 1970er-Jahre war der Schoah hier lediglich ein randständiger Platz zugewiesen worden. Nun jedoch machten sich Erziehungsbeauftragte und Wissenschaftler daran, die Holocaust-Erziehung grundlegend zu überarbeiten. Eines der erfolgreichsten Schulbücher wurde von zwei Historikern herausgegeben, die dafür plädierten, die Schoah um ihrer selbst willen zu unterrichten und nicht nur, um daraus Lehren für die Gegenwart – wie etwa die Notwendigkeit eines wehrhaften israelischen Staates – zu ziehen.

Der Libanonkrieg in den 1980er-Jahren und der Golfkrieg von 1990/1991, in dem sich die Israelis in abgeschlossenen Zimmern verbarrikadierten, weil der Irak ihnen gedroht hatte, sie mit (unter deutscher Hilfe produzierten) Giftgas-Raketen zu beschießen (die tatsächlich abgefeuerten Raketen enthielten kein Giftgas), vertieften weiter die israelische Identifikation mit den Opfern der Schoah. Dieser wurde so in den Worten des Historikers Moshe Zimmermann "mehr und mehr zum zentralen Erlebnis des israelischen Kollektivs".

Spektrum des Gedenkens seit den 1990er-Jahren

Mit dem Ende der Sowjetunion eröffneten sich in den 1990er-Jahren neue Möglichkeiten der Holocaust-Erziehung. Schulen begannen, Exkursionen nach Ostmitteleuropa und vor allem nach Polen zu organisieren, wo sie mit Schülern und Schülerinnen die NS-Vernichtungslager und andere historische Schauplätze besichtigten. Den Veranstaltern wurde allerdings bald vorgeworfen, die Darstellung jüdischen Lebens in der Diaspora auf Ausgrenzung und Vernichtung zu verkürzen: Damit wollten sie – so die Kritik – lediglich den zionistischen Standpunkt vermitteln, dass jüdisches Leben auf Dauer nur in Israel möglich sei. Auch führte der einsetzende jüdische Massentourismus immer wieder zu Verstimmungen mit den polnischen Gastgebern, die sich als antisemitisch gebrandmarkt und somit einseitig dargestellt sahen. Mittlerweile wird der Erkundung jüdischen Lebens vor der Schoah ein breiterer Platz eingeräumt, doch die Exkursionen bleiben weiterhin umstritten.

Allerdings ist die Auseinandersetzung mit der Schoah in Israel keinesfalls auf solche Motive reduzierbar, sondern findet in vielfältiger Weise und auf unterschiedlichen Ebenen statt. Die im Norden Israels befindliche Gedenkstätte "Haus der Ghettokämpfer" etwa arbeitet mit alternativen Ansätzen, in denen versucht wird, jüdische und arabische israelische Jugendliche über eine Auseinandersetzung mit der Schoah ins Gespräch zu bringen. Es existiert eine große Bandbreite an Sichtweisen von religiösen Ansätzen über säkulare Interpretationen, die von einer nationalen Katastrophe des jüdischen Volkes sprechen, bis hin zu universalistischen Auslegungen, die in der Schoah ein (allerdings gleichsam besonderes) Beispiel für das moderne Phänomen des Genozids sehen.
Solche Ansätze gehen auch auf die Probleme der arabischen Bevölkerung ein, die Schoah als konstitutives Element national-staatlicher Narrative anzuerkennen. Gerade weil diese für die jüdische Bevölkerung eine zutiefst legitimierende Rolle in deren zionistischen Selbstverständnis spielt, taten sich israelische Palästinenser lange Zeit schwer mit der Anerkennung des Völkermords.

Für Palästinenser (innerhalb und jenseits der Grünen Grenze) dagegen formt die Erfahrung von Flucht und Vertreibung der Jahre 1947 bis 1949, die Nakba ("Katastrophe"), einen konstitutiven Teil ihres nationalen Selbstverständnisses. Mit der Anerkennung dieser Leidensgeschichte wiederum tuen sich weite Teile der jüdischen Bevölkerung schwer, da diese gleichsam mit der Gründung Israels als jüdischem Staat (d. h. eines Staat mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit) verwoben ist.
Auf solche Spannungen eingehend, gibt es u. a. in Yad Vashem mittlerweile Programme, die die Kenntnisse der arabischen Bevölkerung über die Schoah vertiefen und dabei ihre speziellen Bedürfnisse berücksichtigen sollen. In Nazareth besteht zudem seit einigen Jahren ein privat geführtes Holocaust-Museum, welches sich in erster Linie an die israelisch-palästinensische Minderheit richtet.
br> Israelis folgen in ihrem Umgang mit der Schoah nicht einfach öffentlichen Repräsentanten, sondern entwickeln individuelle Ansätze, auch wenn die nationalen Gedenkstätten und -feiern eine wichtige Rolle spielen. Darüber hinaus hat die Erinnerung an die Schoah für viele Israelis weiterhin eine starke persönliche Komponente, was bei allen Diskussionen um zionistische Erziehung nicht vergessen werden sollte.

Nichtsdestotrotz droht allerdings auch in Israel das Gedenken an die Schoah mit wachsendem zeitlichem Abstand an Bedeutung einzubüßen. Vor einigen Jahren etwa zogen junge israelische Erwachsene Aufmerksamkeit auf sich, indem sie sich die KZ-Nummern ihrer Großeltern auf die Unterarme tätowieren ließen, um gegen die Unkenntnis ihrer Generation zu diesem Thema zu protestieren. Das Beispiel macht gleichzeitig deutlich, wie vielfältig und kontrovers der Umgang mit der Schoah in Israel ist. Dieses für Israelis so konstitutive historische Ereignis wird sicherlich auch in Zukunft ein vitaler Teil der gesellschaftlichen Diskussion bleiben.

Dr. Daniel Mahla ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der LMU München und Koordinator des Zentrums für Israel-Studien. Dr. Daniel Mahla hat die Koordination für dieses Heft übernommen.