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Einleitung | China | bpb.de

China Editorial Einleitung Geschichte, kulturelle Tradition, Ideologie Charakteristika des politischen Systems Außen- und Sicherheitspolitik Gesellschaft im Umbruch Situation von Medien und Internet Von der "Werkbank der Welt" zur Innovationswirtschaft China in der Weltwirtschaft Literaturhinweise Karten Impressum

Einleitung

Sebastian Heilmann

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In den vergangenen Jahrzehnten hat das bevölkerungsreichste Land der Erde rasante gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen vollzogen. Sein lange unterschätztes Potenzial, auf die Gestaltung der heutigen Weltordnung Einfluss zu nehmen, scheint noch nicht ausgeschöpft. Es ist an der Zeit, China und seinen vielen Gesichtern unsere Aufmerksamkeit zu widmen.

Shanghai im Zeitenwandel: der Bund, die Promenade im europäischen Kolonialstil auf dem Westufer des Huangpu-Flusses in den 1960er-Jahren (© United Archives / Roba Archiv / FOTOFINDER.COM)

China ist ein Land der Widersprüche: einerseits bietet es Bilder smogverhangener Städte und verschmutzter Flüsse; andererseits tätigt es weltweit die größten Investitionen in Energiegewinnung aus Sonnen-, Wind- und Wasserkraft. Einerseits hat es ein rigides autoritäres Regierungssystem, andererseits eine historisch außergewöhnliche wirtschaftliche und technologische Dynamik. China ist ein Land, das sowohl Neulinge als auch langjährige Beobachterinnen und Beobachter immer wieder überrascht und mit seinen Widersprüchen unser Denken und Handeln herausfordert.

Wer noch das Bild Chinas als "Werkbank der Welt", gekennzeichnet durch Billiglöhne und Billigprodukte, im Kopf hat, sollte sich davon verabschieden. Denn die Volksrepublik ist auf dem Weg zu einem Hochtechnologieland. Chinas Regierung und Industrie treiben ehrgeizige langfristige Entwicklungsprogramme wie etwa "Made in China 2025" mit aller Kraft voran. Die chinesische Digitalwirtschaft boomt. Hightechkonzerne wie Alibaba und Tencent bringen Innovationen in den Bereichen E-Commerce oder Mobile Payment hervor, die westlichen Konzernen mitunter um Längen voraus sind. Start-ups auf dem Feld von Informations- oder Biotechnologien finden in China optimale Wachstumsbedingungen vor. Fehlende Technologien werden durch Gemeinschaftsunternehmen mit ausländischen Technologieführern zugänglich. In Einzelfällen kommt es auch zu milliardenschweren Übernahmen ausländischer Technologiefirmen durch chinesische Investoren.

Die schiere Größe macht das Land für Unternehmen aus aller Welt zu einem außerordentlich wichtigen Markt und unumgänglichen Standort. China hat die USA als weltweit wichtigsten Automobilmarkt überholt. Doch seit Mitte der 2010er-Jahre geraten ausländische Automobilbauer unter Druck und müssen um ihre Marktanteile kämpfen. Denn die chinesische Regierung gibt Quoten für den Ausbau der Elektromobilität und strenge Emissionsgrenzwerte vor, die viele ausländische Anbieter nur mit Mühe erfüllen können, während rürige chinesische Konkurrenten mit aller Kraft auf neue Antriebstechnologien und neue Mobilitätskonzepte setzen. Andere Branchen, etwa die Internet- und die Finanzwirtschaft, müssen weiterhin darum ringen, überhaupt Zugang zum chinesischen Markt zu erhalten.

Seit dem Amtsantritt von Partei- und Staatschef Xi Jinping 2012 verlangt uns China einen neuen Blick auf die Außen- und Sicherheitspolitik ab. Die Volksrepublik, die jahrzehntelang zurückhaltend agierte und sich ganz auf ihre wirtschaftliche Entwicklung zu konzentrieren schien, tritt auf dem internationalen diplomatischen Parkett zunehmend selbstbewusst und mitgestaltend auf. Öffentlichkeitswirksam, aber selbstverständlich im Interesse Chinas, setzt sich Präsident Xi für offenen Welthandel und internationale Klimaabkommen ein. Gleichzeitig untermauert Peking mit dem Ausbau von künstlichen Inseln und Marinestreitkräften die Durchsetzung seiner umstrittenen territorialen Ansprüche im Südchinesischen Meer. Und entlang neuer "Seidenstraßen" treibt die chinesische Regierung transkontinentale Finanzierungs- und Infrastrukturprogramme voran, die bis nach Afrika und Europa reichen und ganz auf China als Dreh- und Angelpunkt ausgerichtet sind.

Vordergründig erinnern die Auftritte des mächtigsten chinesischen Politikers im Fernsehen und bei Staatsbesuchen an jene von westlichen Staats- und Regierungschefs. Seine Ehefrau begleitet ihn bei Reisen im In- und Ausland, wie es die First Ladies aus Washington oder Paris gewohnt sind. Doch in anderer Hinsicht könnte der Kontrast zu demokratischen Systemen kaum größer sein: Unter Xi Jinping wurden Kampagnen zur politischen Indoktrinierung und Disziplinierung wiederbelebt, die in den vorangehenden Jahrzehnten der "Reform- und Öffnungspolitik" nach 1978 eine Ausnahmeerscheinung waren. Meinungsfreiheit und Zivilgesellschaft wurden seit 2012 zunehmend beschnitten, die Zensur von traditionellen und neuen sozialen Medien ausgeweitet. Chinas Justiz geht mit großer Härte gegen regimekritische Zirkel, Menschen, die sich für Bürgerrechte einsetzen, sowie gegen deren Rechtsbeistände vor.

Zugleich haben die letzten Jahrzehnte großen Teilen der chinesischen Bevölkerung zu beachtlichem Wohlstand verholfen. Wer es sich leisten kann, reist ins Ausland. Jedes Jahr besuchen Millionen chinesischer Touristen New York, London, Paris oder Schloss Neuschwanstein. Viele bleiben zum Studium im Ausland oder bemühen sich um einen ausländischen Pass. Der westliche Lebensstil erscheint für die chinesischen Mittelschichten erstrebenswert. Und dennoch: Peking will nicht den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungen der USA, Deutschlands oder Großbritanniens nacheifern. Gemäß dem Willen seiner Führung geht das Land seinen ganz eigenen Weg – mit dem Ziel, als globale diplomatische und wirtschaftliche Gestaltungsmacht Anerkennung zu finden und die bisherige Vormachtstellung der USA schrittweise abzulösen.

Ein einfaches und einheitliches Bild wird China uns auch künftig nicht bieten. Gerade diese Widersprüchlichkeiten, die gängigen westlichen Erwartungen entgegenstehen, machen es so faszinierend, sich mit diesem Land zu beschäftigen, das immer mehr Einfluss in der Welt gewinnt.

Prof. Dr. Sebastian Heilmann hat den Lehrstuhl für Regierungslehre: Politik und Wirtschaft Chinas an der Universität Trier inne. Von September 2013 bis August 2018 fungierte Heilmann als Gründungsdirektor des Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Politisches System und Wirtschaftsreformen in der VR China, insbes. Industrie- und Technologiepolitik Chinas; staatliche Entwicklungsplanung im internationalen Vergleich und in historischer Perspektive; Policy experimentation (Politikinnovation durch Experimental- und Pilotprogramme) im internationalen Vergleich sowie Wirtschaftspolitik/-regulierung.